Die russischen Vorschläge für eine europäische Sicherheitsordnung reflektieren eine Rückkehr zum Großmachtdenken. Ob die Bundesregierung auf Moskaus Abkehr vom Prinzip der gemeinsamen Sicherheit angemessen reagieren wird, ist fraglich, meint Markus Kaim.
In der vergangenen Woche stand die Zukunft der europäischen Sicherheitsordnung im Mittelpunkt der internationalen Politik. Diplomaten Russlands und der Vereinigten Staaten trafen sich am 9. und 10. Januar in Genf; die Nato lud für den 12. Januar zu einem Treffen des Nato-Russland-Rats ein; schließlich folgte am Tag danach ein Treffen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.
Bei all diesen Zusammenkünften ging es vordergründig darum, den Konflikt zwischen Kiew und Moskau zu entschärfen. Dahinter standen aber drohend die viel weiter reichenden russischen Forderungen nach einer Revision der europäischen Sicherheitsarchitektur. Dazu hatte Moskau bereits im Dezember detaillierte Vorschläge für bilaterale Sicherheitsabkommen mit den USA und der Nato unterbreitet: Die Regierung Biden und die anderen Nato-Mitglieder sollten sich darin verpflichten, weder die Ukraine noch andere ehemalige Sowjetrepubliken als Mitglieder aufzunehmen.
In gewissem Sinne waren die Treffen wertvoll, ja geradezu erleichternd. Endlich braucht sich in den westlichen Hauptstädten niemand mehr an die Illusion zu klammern, es existiere in der Außen- und Sicherheitspolitik Europas nach wie vor eine gemeinsame Ordnungsvorstellung. Nicht dass dies ein überraschender Befund sein könnte: Seit Jahren lassen einzelne militärische Maßnahmen wie politische Äußerungen der russischen Seite nur den Schluss zu, dass Moskau zwar noch formell an der Charta von Paris festhält, ihr aber praktisch zuwiderhandelt. Diese Vereinbarung vom November 1990 garantiert – mit Zustimmung der damals noch existierenden Sowjetunion – die territoriale Integrität aller Unterzeichnerstaaten sowie ihr Recht zur freien Bündniswahl, bekräftigt das Bekenntnis zum Gewaltverzicht und erklärt »gleiche Sicherheit« für alle zum Grundprinzip der Sicherheit in Europa.
Stattdessen hat die russische Führung seit 15 Jahren jedoch mit der Pariser Charta inkompatible Ordnungsvorstellungen zur Grundlage ihrer Sicherheitspolitik im euro-atlantischen Raum gemacht. Mit den ultimativ vorgetragenen Moskauer Vorschlägen vom Dezember und den in dieser Hinsicht ergebnislosen Verhandlungen der vergangenen Woche ist dieser Epochenbruch nunmehr vor aller Augen endgültig vollzogen worden. Dieser systemische Konflikt kann nicht gelöst, sondern nur »gemanagt« werden. Daher war es nur folgerichtig, dass sich die USA, die Nato und Russland auf vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen zurückbesonnen haben, wie zum Beispiel auf militärische Transparenzregelungen oder spezifische regionale Vereinbarungen über die Nicht-Stationierung bestimmter Waffensysteme wie Kurz- und Mittelstreckenraketen.
Unterschiedliche, ja gegensätzliche Ordnungsvorstellungen sind in der internationalen Politik keine Ausnahme. Entscheidend ist, dass die beteiligten Akteure sie illusionslos zur Kenntnis nehmen und angemessene, realistische Schlussfolgerungen für ihre Politik daraus ziehen. Wenn das Gemeinsame fehlt, wird die Qualität der bilateralen Beziehungen leiden; erst recht jedoch wird es kein Kooperationspotential bei den sicherheitspolitischen Herausforderungen in Europa und seiner Nachbarschaft geben, das heißt demjenigen Raum, der im engsten geopolitischen Sinne zwischen Russland und dem Westen umstritten ist. Hier muss sich beweisen, was die zuletzt von der deutschen Außenpolitik immer wieder vorgetragene Formel von »Dialog und Härte« im Umgang mit Moskau konkret bedeuten soll.
Eine der ersten Nagelproben dafür wird der Besuch von Außenministerin Annalena Baerbock am Dienstag in Moskau sein. Im Zentrum ihrer Agenda dürften die Bemühungen Deutschlands und Frankreichs stehen, das Normandie-Format wieder zu beleben, in dem 2015 unter Vermittlung von Paris und Berlin die Minsker Vereinbarungen zwischen Kiew und Moskau ausgehandelt wurden. Sie sehen eine Waffenruhe in der Ostukraine vor und entwerfen den Weg zu einer politischen Lösung des Konflikts.
Aus einer Vielzahl von Gründen tut sich Deutschland schwer damit, die erkennbare »Geopolitisierung« des euro-atlantischen Raums zur Grundlage der eigenen Sicherheitspolitik zu machen. Denn die Schlussfolgerungen wären kontrovers und würden viele Gewissheiten der deutschen Sicherheitspolitik in Zweifel ziehen. So müsste die Bundesregierung die Frage beantworten, ob sie angesichts einer heraufziehenden »Mächterivalität« in der internationalen Politik die Europäische Union gezielt zu einem derjenigen Machtpole weiterentwickeln will, an denen andere Akteure ihre Außenpolitik ausrichten. Und wenn ja, welche politischen und auch militärischen Schritte müssten dann eingeleitet werden – bezüglich der Erdgasleitung Nord Stream 2, bezüglich einer möglichen militärischen Unterstützung für die Ukraine, bezüglich eines möglichen Nato-Beitritts Schwedens und Finnlands und bezüglich einer jüngst von der französischen Regierung ins Spiel gebrachten europäischen nuklearen Abschreckung? Nicht zuletzt hätte eine solche Ausrichtung auch eine normative Dimension: »Raum« und »Macht« statt »Werte« und »Recht« wären dann handlungsleitende Kategorien deutscher und europäischer Sicherheitspolitik. Ob die Bundesregierung für diesen Wandel die Kraft aufbringt, bleibt abzuwarten.
Beitrag zu einer Sammelstudie 2021/S 15, 30.09.2021, 134 Seiten, S. 115–118
Beitrag zu einer Sammelstudie 2021/S 15, 30.09.2021, 134 Seiten, S. 45–48
Russland setzt viel daran, den Einfluss in seiner Nachbarschaft auszubauen. Der EU ihrerseits gelingt es nicht, Russland in seine Grenzen zu weisen. Dominik Schottner diskutiert mit Ronja Kempin und Susan Stewart über die Frage, mit welchen zum Teil noch ungenutzten Instrumenten die EU Russland wirksam rote Linien aufzeigen könnte.
Wie Koalitionen von Mitgliedstaaten dazu beitragen könnten
doi:10.18449/2020A96