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Das Verfassungsreferendum in Tschetschenien

Arbeitspapier 2003/ Nr.04, 15.03.2003, 10 Seiten

5. Inhaltliche Kritik an der Verfassung

Der Verfassungsentwurf erregte den Verdacht, auf die Person Kadyrows als zukünftigen Präsidenten zugeschnitten zu sein, woran insbesondere Vertreter der tschetschenischen Diaspora in Rußland Anstoß nahmen. In der politischen Publizistik wird das Projekt durchweg als die »Kadyrow-Verfassung« präsentiert. Der Machtkonzentration auf einen Statthalter Moskaus im Präsidentenrang halten Kritiker wie Aslachanow den derzeitigen Zustand des tschetschenischen Volks und seine historische Tradition entgegen: Der Zustand der von Krieg, Terror und Massenelend zerriebenen Gesellschaft verbiete eine solche Machtinstitution ebenso wie die überkommene dezentrale politische Organisation der Tschetschenen. Für eine solche Gesellschaft bietet sich auf dem Weg zu einer neuen politischen Verfassung eher eine Art »Loya Jirga«-Prozeß an, wie er für Afghanistan nach dem Sturz der Taliban gestaltet wurde - unter Beteiligung aller tribalen und sozialen Kräfte einschließlich der Diaspora. In jedem Fall müsse am Anfang dieses Prozesses ein Waffenstillstand stehen. Auch in der russischen Regierung regte sich Kritik am präsidialen Zuschnitt des Verfassungsprojekts. Oleg Mironow, der Menschenrechtsbeauftragte des Präsidenten, meinte gegenüber Radio Liberty, das Verfassungsprojekt teile dem künftigen Präsidenten Tschetscheniens zu viel Macht auf Kosten der Legislative zu.

Der Autonomiegrad, der Tschetschenien als »Föderationssubjekt« zugebilligt werden soll, liegt weit unter dem sogenannten »Tatarstan-Modell«, das häufig als Vorbild für politische Selbstbestimmung unterhalb der Eigenstaatlichkeit diskutiert wurde. Auch wenn die vom Krieg völlig erschöpfte Bevölkerung umfassende Unabhängigkeit wahrscheinlich kaum noch anstrebt, muß ihr die gegebene Vorlage doch als ein Diktat erscheinen. Ella Pamfilowa, Vorsitzende der Menschenrechtskommission unter Putin, äußerte sich kritisch über die Machtfülle, über die der russische Präsidenten gegenüber dem »Föderationssubjekt« und seinem Oberhaupt verfügt. Putin könne den künftigen Präsidenten Tschetscheniens jederzeit entlassen.