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Das Verfassungsreferendum in Tschetschenien

Arbeitspapier 2003/ Nr.04, 15.03.2003, 10 Seiten

9. Ausblick

Regionalexperten sind sich weitgehend einig, daß ein unter Kriegsbedingungen durchgeführtes Verfassungsreferendum kaum als nationales Votum für eine neue staatliche Ordnung Tschetscheniens unter Wiedereingliederung in die Russische Föderation betrachtet werden und als solches nachhaltige Wirkung entfalten kann. Es ist schwer, sich eine solche Re-Integration nach den Gewaltexzessen, die sich in den letzten drei Jahren in Tschetschenien ereignet und an eine lange Kette von Gewalt und Gegenwalt in der Geschichte des russisch-tschetschenischen Verhältnisses angereiht haben, überhaupt vorzustellen. Andere Konflikte lehren, daß Status- und Verfassungsfragen am Ende langer Verhandlungen stehen und nicht am Beginn eines Lösungsprozesses, und daß »politische Lösungen« als Auswege aus gewalthaften Konflikten nur unter Einbeziehung der bewaffneten Kontrahenten zu erzielen sind. Im postsowjetischen Raum lehrte dies der Bürgerkrieg in Tadschikistan und seine erfolgreiche Überwindung seit 1997. Eine Reihe prominenter Kommentatoren weisen auch in Rußland auf diese Erkenntnisse hin. Dabei müßten auch internationale Kapazitäten in Anspruch genommen werden. Der Hinweis, daß der Tschetschieneinknflikt eine rein innerstaatliche Angelegenheit Rußlands sei, trägt nicht mehr weiter. Für einen Wiederaufbau des vom Krieg restlos zerstörten Tschetschenien wird ausländische Hilfe in jedem Fall benötigt.

Afghanistan steht oft Pate bei der Analyse der Verhältnisse in Tschetschenien und der Lösungsperspektiven. Das Tertium comparationis bildet dabei die starke Fragmentierung der tschetschenischen Gesellschaft und der bewaffneten Konfliktseiten. Anna Politkovskaja schildert eindrucksvoll die traumatische Desintegration und Atomisierung der tschetschenischen Gesellschaft im zweiten Tschetschenienkrieg. Sie steht im Gegensatz zur nationalen Kohäsion im ersten Krieg, als sich um die Separatistenführer herum eine Widerstandsnation aufbaute, die dann aber nach 1996 wieder in pränationale, partikularistische Kräfte zerfiel. Statt weiterhin durch Krieg die Desintegration der tschetschenischen Gesellschaft zu betreiben, müsse Moskau endlich ein Eigeninteresse an einer tschetschenischen Nationsbildung entwickeln, vor allem dann, wenn ihm daran gelegen ist, daß Gemeinschaft im Nordkaukasus nicht durch islamistische Identifikationsmuster hergestellt wird. Freilich besteht die Fragmentierung auch auf der anderen Konfliktseite: Autonom handelnden Kriegsherren und Konfliktunternehmern auf tschetschenischer Seite stehen nicht minder eigensüchtige Kriegsunternehmer und extralegale Akteure auf der Seite der russischen »Ordnungshüter« in Tschetschenien gegenüber.

Angesichts solcher Bedingungen ist der Begriff »politische Lösung« für den Ausweg aus der Gewalt maximalistisch. Schon die politisch ungelösten, aber durch Waffenstillstandsabkommen eingefrorenen Sezessionskonflikte im Südkaukasus (Abchasien, Berg-Karabach u.a.) heben sich im Vergleich zum Tschetschenienkrieg positiv hervor. Die Beendigung des schmutzigen Krieges ist das Nächstliegende, danach erst kann ein Prozeß des politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Wiederaufbaus eingeleitet und am Ende das Verhältnis zu Rußland geklärt werden.

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