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Das Verfassungsreferendum in Tschetschenien

Arbeitspapier 2003/ Nr.04, 15.03.2003, 10 Seiten

6. Das Meinungsbild in Rußland

Das Bedürfnis nach Beendigung der Kriegsmaßnahmen im Nordkaukasus tritt in Rußland stärker hervor, als nach dem Moskauer Geiseldrama vom Oktober 2002 zu vermuten war. Das Meinungsbild pendelt sich inzwischen wieder auf den Stand ein, auf dem es sich vor der »Nord-Ost-Tragödie« befunden hatte: Nur noch ein Drittel der Respondenten neuerlicher Meinungsumfragen spricht sich für die Fortführung der Militäraktionen aus, etwa die Hälfte fordert Verhandlungen mit den Rebellen. In letzter Zeit kam es zu einzelnen Kundgebungen gegen den Krieg in Moskau, Jekaterinburg, Rjasan und Nischnij Nowgorod, die freilich weit von Massendemonstrationen entfernt waren. Einen Stimmungswandel gegenüber dem Tschetschenienkrieg in der politischen Klasse brachte die Staatsduma in einer Abstimmung am 24.Dezember 2002 zum Ausdruck. Mit 360 Stimmen bei zwei Gegenstimmen kritisierte das Parlament die nutzlosen Militäraktionen, die zu viele Opfer unter Zivilisten und Soldaten fordern und dem bewaffneten Gegner Zulauf verschaffen. Es sei höchste Zeit für eine politische Lösung. Für eine solche argumentieren seit langem einige Politiker der Jelzin-Ära wie Jewgenij Primakow und Arkadij Wolskij. Der ehemalige Vorsitzende der Staatsduma Iwan Rybkin warnte vor den nicht abzusehenden Auswirkungen des schmutzigen Kriegs im Nordkaukasus auf die russische Gesellschaft. Die oben genannte Forderung der Staatduma nach einer politischen Lösung mag möglicherweise in der Absicht formuliert worden sein, das politische Umfeld für das Verfassungsreferendum vorzubereiten. Doch es gibt auch in Rußland Kritik an dieser Attrappe von »politischer Lösung«. Einige Kommentare führen historische Vorbilder von Referenden an, die von einer Konfliktseite unter kriegerischen Verhältnissen durchgesetzt wurden und zum Gegenteil dessen führten, was die betreffende Seite intendierte. Als Beispiel wurde ein Referendum in Algerien Ende der fünfziger Jahre angeführt, das die unverbrüchliche Union mit Frankreich bestätigen sollte. Erwähnt wurden auch die erzwungenen Referenden in den baltischen Republiken in den 1940er Jahren, die den Widerstand der Partisanen gegen die sowjetischen Okkupanten nicht bremsten. Die letzten »Waldbrüder« hätten sich erst ein Jahrzehnt später ergeben. Auch auf die jüngste Vergangenheit in Tschetschenien wurde verwiesen: Dort wurden von den Statthaltern Moskaus im Dezember 1995 und Juni 1996 unter Kriegsbedingungen Wahlen organisiert, die nur zum Zusammenbruch zuvor abgeschlossener Friedenabkommen und zu neuer militärischer Eskalation führten.