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Das Verfassungsreferendum in Tschetschenien

Arbeitspapier 2003/ Nr.04, 15.03.2003, 10 Seiten

4. ... und unter welchen Umständen?

Ein Hauptpunkt der Kritik sind die Sicherheitsbedingungen, unter denen die Abstimmung vonstatten gehen soll. Sergej Kowaljow gab als Mitglied der russischen Delegation im Europarat der Skepsis europäischer Politiker gegenüber dem Referendum recht: »Wie soll dieses Referendum unter den gegenwärtigen Umständen abgehalten werden, bei andauernden bewaffneten Zusammenstößen, der Blockade und "Säuberung" von Siedlungen, unter Bedingungen von Ausgangssperre usw. Jeder, der sich offen gegen die Kadyrow-Verfassung ausspricht, riskiert, ebenso spurlos zu verschwinden, wie es Tausenden in Tschetschenien schon ergangen ist. Offene Anhänger der föderalen Administration werden wiederum von Heckenschützen der "bojewiki" bedroht.« Ähnlich äußerte sich Grigorij Jawlinskij: »Wieviele Militärsperren muß man überwinden, um zu seinem Wahllokal zu gelangen? Wie hoch ist die Chance, daß man dabei am Leben bleibt? Wie gefährlich ist es, im Kriegszustand Wahllokale einzurichten - ja ist das überhaupt möglich?« Laut Mitteilung der lokalen Wahlkommission wurden bis Anfang März 414 Wahllokale eingerichtet. Die Voraussetzungen zur Durchführung des Referendums, so der Kommissionsleiter, seien zu 85 bis 90% erfüllt.

Eine der größten Ungereimtheiten steckt in der Frage der Stimmberechtigten. Es sollen nur Personen abstimmen dürfen, die sich in Tschetschenien aufhalten. Damit werden an die 110.000 Flüchtlinge ausgeschlossen, die laut UNICEF-Bericht vom 20. Januar 2003 in Inguschetien leben (laut offiziellen russischen Angaben 70.000), während längerfristig in Tschetschenien stationierte Angehörige der kombinierten föderalen Truppen stimmberechtigt sind (rund die Hälfte der 80.000 in Tschetschenien stationierten Soldaten). Der Europarat gewann der Kadyrow-Verwaltung zwar das Versprechen ab, die Flüchtlinge möglichst doch noch in den Kreis der Stimmberechtigten einzubeziehen, aber bislang ist ungeklärt, ob mobile oder lokale Wahlstellen außerhalb Tschetscheniens oder an der Grenze zu Tschetschenien für die Vertriebenen eingerichtet werden.

Der Verdacht, daß das Referendum ein Fälschungsmanöver sein könnte, kam schon bei der Volkszählung im Herbst 2002 auf. Dabei wurde die derzeitige Bevölkerung Tschetscheniens mit über einer Million beziffert - 300.000 mehr als vor Beginn des zweiten Kriegs. Hundertausende »tote Seelen« stecken in dieser Angabe, die für Zwecke der Mittelzuteilung an Tschetschenien aus dem Bundeshaushalt, möglicherweise aber auch für das Referendum instrumentalisiert werden könnten. In jedem Fall ist diese fragwürdige Angabe Teil der Normalisierungsfiktion, mit der Moskau über die höllische Situation in Tschetschenien hinwegtäuschen will. Sie soll den Eindruck erwecken, die demografischen Verhältnisse der Republik seien wiederhergestellt, der Großteil der Flüchtlinge zurückgekehrt. Dabei schätzten internationale Organisationen die gegenwärtige Bevölkerungszahl Tschetscheniens auf kaum mehr als 500.000. Auch der Chef der tschetschenischen Miliz spricht in einem Interview von höchstens 600.000 Einwohnern. Nun stehen aber laut Mitteilung der Wahlkommission bereits 537.600 Stimmberechtigte auf der Wählerliste.

Auch die letzte Abstimmung auf dem tschetschenischen Kriegsschauplatz, die Wahl des russischen Präsidenten im März 2000, war nicht gerade geeignet, den Verdacht auf Fälschung auszuräumen. Damals sollen laut Wahlkommission in Moskau die überwiegende Mehrheit der lokalen Bevölkerung für Putin gestimmt haben. In Wirklichkeit, so ein Mitglied der lokalen Wahlkommission, waren es unter der tschetschenischen Bevölkerung (damals befanden sich an die 100.000 wahlberechtigte russische Soldaten in Tschetschenien) weniger als fünf Prozent.