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Inhaltliche Gesichtspunkte
Inhaltliche Gesichtspunkte
Inhaltlich ist nach Jahrzehnten des von allen Regierungen und nationalen Parlamenten über die Aushandlung und Ratifikation der Verträge selbst autorisierten Vertragswildwuches ein Punkt erreicht, an dem die Vereinheitlichung und Straffung des Vertragstextes nicht nur ein Gebot von Effizienzsteigerung und weiterer Demokratisierung der gemeinschaftlichen Politik ist, sondern auch eines der Verständlichmachung und Vereinfachung der Verträge. Nizza hat von der 2004er Regierungskonferenz ausdrücklich auch eine solche Vereinfachung gefordert. Sie ist am ehesten in einem einzigen kohärenten Dokument zu erreichen.
Weiter erscheint im Vorlauf zu 2004 der Zwang zu einer Fachleute und Öffentlichkeit funktional überzeugenden und deutlich umrissenen Lösung weit größer als bei der Grundrechtecharta. Man wird auch so genug Kompromisse einbauen müssen, daß für diese Lösung eine deutliche Mehrheit zustande kommt; aber der Konvent kann sich wenigstens verbieten, daß es so viele werden, daß Klarheit und Kohärenz verloren gehen. Dann werden zwar auch konkurrierende Optionen für die Regierungskonferenz wahrscheinlicher - die Vorstellungen des Konventspräsidenten laufen bereits in diese Richtung. Aber das ist immer noch besser als ein unentschlossenes und widersprüchliches Dokument, das es allen recht machen will und niemanden begeistert. Bei einem solchen Resultat läuft man Gefahr, daß die Menschen nicht verstehen, wieso dies wirklich einen höheren Rang als das Ergebnis einer Regierungskonferenz haben soll.
Noch im Charta-Konvent konnten unterschiedliche Präferenzen wenigstens teilweise dadurch vereinbar gemacht werden, daß man in einem Sowohl als Auch beiden entgegenkam, durch Hereinnahme zusätzlicher Rechte. Wenn es dagegen im jetzt beginnenden Konvent um Verfahren und Institutionen geht, dürfte die Auseinandersetzung öfter in einem Entweder-Oder münden, das nur durch die Durchsetzung einer der Positionen beantwortet werden kann.
Diese Konkurrenzoptionen sollten entsprechend auch nicht etwa alle in dasselbe Abschlußdokument eingebaut werden, so daß zum Schluß nur eine Art hierarchisierte Problemliste analog zum Ergebnis der Reflexionsgruppe von 1995 vorliegt, in der zu jedem Problem eine Reihe möglicher Antworten geboten werden. Das widerspricht dem Anliegen, auch für Parlamente und Öffentlichkeit nachvollziehbare Alternativen anzubieten. Vielmehr sollten die Optionen, wenn es sie denn geben muß, die Form unterschiedlicher Gesamtkonzepte erhalten, die in sich jeweils kohärent und konsequent aufgebaut sind. Im besten Fall muß deutlich erkennbar werden, daß eines dieser Konzepte im Konvent und möglichst auch in der Öffentlichkeit die größte Unterstützung findet. Der Konvent würde also letztlich zwei oder drei Gesamtverträge entwerfen.
Eine gewisse Variante dieser wichtigen Frage ist die Diskussion, ob der Konvent sich mit einem Konzept zufriedengeben sollte, in dem die Verträge systematisiert, vereinfacht und der Form einer Verfassung näher gebracht werden, oder ob er sich direkt die Aufgabe stellen sollte, eine „Verfassung der EU“ zu schreiben, wie einige Beobachter das gefordert haben. Hier sollte man pragmatisch entscheiden. Je mehr als Ergebnis der Reform eine neue und bessere Verfaßtheit von Institutionen und Verfahren plausibel und in der öffentlichen Präsentation erkennbar ist, desto weniger braucht man wohl auf dem Begriff der „Verfassung“ zu insistieren. Verspricht eine offen deklarierte Verfassungsoption für dieses Anliegen größeren Erfolg, dann sollte man sie herausstellen.