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Konsensbereitschaft erhöhen
Wie erhöht man die Konsensbereitschaft?
Die Vorgaben der Regierungen für die Zusammensetzung des Konvents bedeuten nicht, daß damit etwa europaskeptische Stimmen im Konvent eine stärkere Vertretung erhielten. Dafür sind Präsident und Vizepräsidenten viel zu ausgewiesene Proeuropäer und alle schon mit Reformkonzepten für die EU hervorgetreten. Wesentliche und wohl auch schwierigste Bedingung für einen solchen Erfolg wird es aber sein, daß die drei Staatsmänner sich vor den Fernsehkameras und im Werben um die Unterstützung aus dem Konvent keine gegenseitige Konkurrenz machen, daß sie über das Spezifische ihrer jeweiligen Positionen das Gemeinsame stellen. Sie müssen das Gemeinsame identifizieren, das sie gemeinsam unterstützen können und wofür sie die Stimmen der meisten nationalen und EP-Abgeordneten zusammenführen können. All das müßte frühzeitig geschehen. Wenn eine solche Koalition um einen konsensfähigen Arbeitsplan mit konsensfähigen Zielsetzungen aufgestellt werden kann, dann wird sie auch den Rest des Konvents und das heißt vor allem die Vertreter der Staats- und Regierungschefs für ihre Linie gewinnen können.
Ein Mittel die Konsensbereitschaft aller Teilnehmer zu steigern und sie zusammenzuführen, könnte in der bewußten Förderung ihrer hervorgehobenen Rolle als Vordenker und konstitutionelle ‚Pfadfinder‘ bestehen. Sowohl nach Innen als auch nach Außen wäre deutlich zu unterstreichen, daß sie bei einer wahrhaft historischen Unternehmung mitwirken, die bei Erfolg in allen europäischen Geschichtsbüchern stehen wird und aus ihnen „Verfassungsväter und -mütter“ der föderalen Europäischen Union der Zukunft machen kann. So eine historische Chance, das kann die Präsidentschaft hervorheben, wird sich allen Beteiligten nur einmal, nämlich in diesem Konvent bieten. Das kann aber nur funktionieren mit Kompromiß- und Konsensbereitschaft. In diesem Bewußtsein könnten politische Konzessionen möglich werden die man sonst nicht erwarten durfte. Valéry Giscard d’Estaing hat inzwischen bei verschiedenen Gelegenheiten dieses Argument mit Verve ins Bewußtsein aller Beteiligten einzuprägen versucht.
Verstärkendes Element, wenn es richtig eingesetzt wird, könnte eine sorgfältig und strategisch auf das volle Jahr der Konventsarbeit hin geplante PR-Arbeit sein, die die Medien zu Verbündeten in einem Prozeß ohne Beispiel macht und sie an den wichtigen Fortschritten der Vertragsreform bzw. der Verfassungsgebung teilhaben läßt. Zwar sind die Konventssitzungen öffentlich - gerade die Sitzungen im Europäischen Parlament lassen eine breite Mitwirkung der interessierten Bürgerinnen und Bürger zu. Aber erst die Vermittlung durch die Medien wird sie zu dem historischen Ereignis machen, das sie sein können. Dies Element wird im Sinne der Führungskoalition in den Konvent hineinwirken und ihm zusätzliche Motivation zur gemeinsamen Arbeit geben; es kann auch wenn es funktioniert, den Konvent in der Öffentlichkeit zu dem einzigen legitimen Träger eines Verfassungskonzepts für die weitere Einigung der Europäischen Union machen.
Diese Perspektive ist um so aussichtsreicher, als die Regierungen der Mitgliedstaaten dem Konvent den Weg bis hin zu einem Verfassungsentwurf freigegeben haben und selbst bisher keine gemeinsame Linie für das große Unternehmen der Vertragsreform-Verfassungsgebung fanden. Der Vorlauf zum Gipfel von Laeken und die sehr unterschiedlichen Reaktionen der Mitgliedsregierungen auf den belgischen Entwurf zu der „Erklärung von Laeken“ haben das deutlich gezeigt.
Um nur Berlin und Paris zum Beispiel zu nehmen: Auf dem letzten deutsch-französischen Gipfel von Nantes (23.11.01) hatte man in der Gemeinsamen Erklärung von der „europäischen Verfassung, die Deutschland und Frankreich wünschen“ lesen können. Die Öffentlichkeit konnte also wieder einmal die Illusion haben, wenigstens zwischen diesen beiden Hauptstädten habe man größeres Einverständnis erreicht. Dieser Trugschluß wurde bereits zerstört, als Chirac sich wenig später bei Diskussionen über den Umfang der institutionellen Reformen für 2004 wesentlich weniger ehrgeizig als deutsche Vertreter zeigte. Noch deutlicher wurde Außenminister Védrine am 12. Dezember in der Assemblée mit seiner Feststellung, sicher hätten die französischen ebenso wie andere europäische Führer die Idee einer Verfassung positiv aufgenommen. Aber dieser Begriff könne sehr unterschiedliche Realitäten abdecken, von den föderalsten Modellen bis zu den intergouvernementalsten Konstruktionen. Alles hänge von seinem Inhalt ab, der noch diskutiert werden müsse. In jeder Etappe der Verfassungsdiskussion werde Frankreich seine Interessen und seine Konzepte verteidigen. Verteidigen auch und gerade gegenüber anderslautenden deutschen Vorstellungen; davon darf man ausgehen.
Die Regierungen haben den Konvent geschaffen, nachdem sich in Maastricht, Amsterdam und zuletzt in Nizza gezeigt hatte, daß sie infolge ihrer Differenzen und Konsensschwäche zu grundsätzlichen Reformen, die die Machtposition der einzelnen Mitgliedstaaten in der Integrationspolitik verändern könnten, nicht imstande waren. Dieses Verhalten war nicht unverständlich, sollen sie doch inzwischen auf jeder Regierungskonferenz immer essentiellere Teile von Status und Kompetenzen aufgeben. Nicht einmal Frankreich, Italien und Deutschland, die seit zehn Jahren miteinander über diese Fragen reden, waren bis heute zu einer Einigung imstande. Nach Nizza sahen sich die Regierungen in ihrer europäischen Reformfähigkeit dermaßen desavouiert, wurde der Druck aus Öffentlichkeit, Parlamenten und von einigen Regierungen so groß, daß alle sich entschlossen, die Vorgaben für die nächste Reformkonferenz von einem Forum neuer Art entwerfen zu lassen, inspiriert vom Vorbild - und vom Erfolg - des Grundrechtekonvents.
Die meisten Regierungen dürften auch im kommenden Jahr weder imstande noch interessiert sein, dem Konvent in der Öffentlichkeit mit einer eigenen Vision Konkurrenz zu machen. Auch wenn sie den nun Wirklichkeit gewordenen Konvent als Stachel empfinden werden, der sie zu neuen Perspektivpapieren anregt, so ist von ihnen keine plötzliche Einigung zu erwarten. Ebenso die Debatte zur Koordinierung der Ministerräte, die seit Jahren schon vom Europäischen Rat in Gang gesetzt ist und jüngst zu gemeinsamen Vorschlägen des Bundeskanzlers und des britischen Premierministers führte; sie muß in ihrem eigenen Zweck gewürdigt, sollte aber nicht als Vorwegnahme grundsätzlicherer Entscheidungen des Konvents im selben Themenbereich aufgefaßt werden. Das hindert den Konvent nicht daran, nüchtern den Wert solcher bilateraler oder nationaler Ideen für seine eigene Arbeit zu beurteilen.
Im Blick auf die Art seines Ergebnisses ließen die Staats- und Regierungschefs dem Konvent in Laeken freie Hand: Er kann ihnen ein Konsensdokument vorlegen, oder aber verschiedene Optionen, „mit der Angabe“ wie die Erklärung so schön sagt, „inwieweit diese Optionen im Konvent Unterstützung gefunden haben“. Dieses Dokument werde „zusammen mit den Ergebnissen der Debatten in den einzelnen Staaten über die Zukunft der Union“ als Ausgangspunkt für die Arbeiten der künftigen Regierungskonferenz dienen, „die die endgültigen Entschlüsse faßt“. Natürlich wurde hier noch einmal vorsorglich die Bedeutung des Konventsdokuments relativiert. Aber die Macht der Regierungen könnte zu diesem Datum nicht mehr reichen, eine überzeugende und kohärente Position des Konvents noch links liegen zu lassen, ob dieser nun in seiner Gesamtheit oder mit einer starken Mehrheit dahinter steht.