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Ein Konstitutioneller Moment für die EU: Der Konvent zur Zukunft Europas

Arbeitspapier 41, 15.02.2002, 12 Seiten

Der Konvent über die Zukunft der EU ist eine außerordentliche Neuerung der Methode mit der die Europäische Union ihre Verträge reformiert. Seine Arbeit kann einen historischen Schritt auf dem Weg zu einer Verfassung für die Union bedeuten, wenn es dem Konvent gelingt, sich gegenüber der für 2004 vorgesehenen Regierungskonferenz als Vorform einer verfassunggebenden Versammlung der Union zu konstituieren. Dazu müßte er mit deutlicher Mehrheit ein Reformkonzept für die Verträge vorlegen, das nicht nur die „leftovers“ von Nizza beantwortet, sondern das die Verträge der Union in eine einheitliche verfassungsähnliche Form gießt. Damit könnte er auf die Arbeit der Regierungskonferenz einen maßgeblichen und prägenden Einfluß erhalten.

Da es beim Konvent um die zentralen Machtfragen der Union geht, über die zum gegenwärtigen Zeitpunkt viele Konventsmitglieder uneinig sind, wird ein breit getragenes Ergebnis in diesem Sinne nur sehr schwer erreichbar sein. Der Konvent müßte sich hierbei außerdem gegen den offensichtlichen Willen wichtiger Mitgliedsregierungen durchsetzen, die sich in Laeken die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, von innen und von außen starken Einfluß auf die Arbeit des Konvents auszuüben. Können sie diesen Einfluß erfolgreich geltend machen, dann wird der Konvent eher eine Art erweitertes ‚Proseminar‘ für die Regierungskonferenz, auf dem die Regierungen Optionen vordiskutieren und testen lassen, bevor sie sie nachher nach eigenem Gutdünken als Vorlagen für die Regierungskonferenz nutzen.

Der entscheidende Schlüssel dafür, daß der Konvent trotzdem im Sinne einer Vor-Konstituante zum Erfolg kommt, liegt bei ihm selbst. Wesentliche Voraussetzungen dafür sind :

  1. eine einig auftretende Präsidentschaft, die den Konvent in einer Auseinandersetzung um zentrale Elemente der EU-Verfassungsdiskussion sammeln und dort zu klaren Entscheidungen führen kann,
  2. der Wille zur Erstellung eines kohärenten und ehrgeizigen Reformkonzepts; auch auf das Risiko hin, daß dagegen Alternativoptionen entwickelt und im Schlußbericht vorgelegt werden,
  3. der entschiedene Versuch des Konvents, seine historische Rolle und seine inhaltlichen Positionen vorrangig gegenüber Öffentlichkeit und Parlamenten der Mitgliedsländer der EU zur Geltung zu bringen, und nicht etwa Vorübung der Regierungskonferenz sondern ihr legitimes Gegenüber in der Reformdebatte zu werden,
  4. die Konzentration des Konvents auf die Reform der institutionellen und prozeduralen Aspekte des politischen Willensbildungs- und Entscheidungssystems der EU und der Verzicht darauf, damit gleich die Einführung ehrgeiziger neuer Politiken zu verbinden. Allerdings muß schon in dieser Phase klar erkennbar sein, daß Schritte zu einer klareren und verbindlicheren Kompetenzordnung gegangen werden; möglicherweise müssen diese beiden Fragen parallel in gleichzeitig arbeitenden Ausschüssen behandelt werden.
  5. Keine Priorität des Konvents sollte es werden, den Status Quo vorhandener Politiken der EU schon für 2004 in Frage zu stellen. Bereits in der ersten Phase sollte man allerdings die Diskussion über unterschiedliche Verfahren für die Einführung und Änderung von EU-Institutionen und -Politiken einleiten, die es künftig erlauben, den Umfang und Gehalt der Politiken ohne den Zwang zur Einstimmigkeit und damit leichter als das institutionelle Grundgefüge der EU abzuändern oder neu einzuführen.
Wie erhöht man die Konsensbereitschaft?

Die Vorgaben der Regierungen für die Zusammensetzung des Konvents bedeuten nicht, daß damit etwa europaskeptische Stimmen im Konvent eine stärkere Vertretung erhielten. Dafür sind Präsident und Vizepräsidenten viel zu ausgewiesene Proeuropäer und alle schon mit Reformkonzepten für die EU hervorgetreten. Wesentliche und wohl auch schwierigste Bedingung für einen solchen Erfolg wird es aber sein, daß die drei Staatsmänner sich vor den Fernsehkameras und im Werben um die Unterstützung aus dem Konvent keine gegenseitige Konkurrenz machen, daß sie über das Spezifische ihrer jeweiligen Positionen das Gemeinsame stellen. Sie müssen das Gemeinsame identifizieren, das sie gemeinsam unterstützen können und wofür sie die Stimmen der meisten nationalen und EP-Abgeordneten zusammenführen können. All das müßte frühzeitig geschehen. Wenn eine solche Koalition um einen konsensfähigen Arbeitsplan mit konsensfähigen Zielsetzungen aufgestellt werden kann, dann wird sie auch den Rest des Konvents und das heißt vor allem die Vertreter der Staats- und Regierungschefs für ihre Linie gewinnen können.

Ein Mittel die Konsensbereitschaft aller Teilnehmer zu steigern und sie zusammenzuführen, könnte in der bewußten Förderung ihrer hervorgehobenen Rolle als Vordenker und konstitutionelle ‚Pfadfinder‘ bestehen. Sowohl nach Innen als auch nach Außen wäre deutlich zu unterstreichen, daß sie bei einer wahrhaft historischen Unternehmung mitwirken, die bei Erfolg in allen europäischen Geschichtsbüchern stehen wird und aus ihnen „Verfassungsväter und -mütter“ der föderalen Europäischen Union der Zukunft machen kann. So eine historische Chance, das kann die Präsidentschaft hervorheben, wird sich allen Beteiligten nur einmal, nämlich in diesem Konvent bieten. Das kann aber nur funktionieren mit Kompromiß- und Konsensbereitschaft. In diesem Bewußtsein könnten politische Konzessionen möglich werden die man sonst nicht erwarten durfte. Valéry Giscard d’Estaing hat inzwischen bei verschiedenen Gelegenheiten dieses Argument mit Verve ins Bewußtsein aller Beteiligten einzuprägen versucht.

Verstärkendes Element, wenn es richtig eingesetzt wird, könnte eine sorgfältig und strategisch auf das volle Jahr der Konventsarbeit hin geplante PR-Arbeit sein, die die Medien zu Verbündeten in einem Prozeß ohne Beispiel macht und sie an den wichtigen Fortschritten der Vertragsreform bzw. der Verfassungsgebung teilhaben läßt. Zwar sind die Konventssitzungen öffentlich - gerade die Sitzungen im Europäischen Parlament lassen eine breite Mitwirkung der interessierten Bürgerinnen und Bürger zu. Aber erst die Vermittlung durch die Medien wird sie zu dem historischen Ereignis machen, das sie sein können. Dies Element wird im Sinne der Führungskoalition in den Konvent hineinwirken und ihm zusätzliche Motivation zur gemeinsamen Arbeit geben; es kann auch wenn es funktioniert, den Konvent in der Öffentlichkeit zu dem einzigen legitimen Träger eines Verfassungskonzepts für die weitere Einigung der Europäischen Union machen.

Diese Perspektive ist um so aussichtsreicher, als die Regierungen der Mitgliedstaaten dem Konvent den Weg bis hin zu einem Verfassungsentwurf freigegeben haben und selbst bisher keine gemeinsame Linie für das große Unternehmen der Vertragsreform-Verfassungsgebung fanden. Der Vorlauf zum Gipfel von Laeken und die sehr unterschiedlichen Reaktionen der Mitgliedsregierungen auf den belgischen Entwurf zu der „Erklärung von Laeken“ haben das deutlich gezeigt.

Um nur Berlin und Paris zum Beispiel zu nehmen: Auf dem letzten deutsch-französischen Gipfel von Nantes (23.11.01) hatte man in der Gemeinsamen Erklärung von der „europäischen Verfassung, die Deutschland und Frankreich wünschen“ lesen können. Die Öffentlichkeit konnte also wieder einmal die Illusion haben, wenigstens zwischen diesen beiden Hauptstädten habe man größeres Einverständnis erreicht. Dieser Trugschluß wurde bereits zerstört, als Chirac sich wenig später bei Diskussionen über den Umfang der institutionellen Reformen für 2004 wesentlich weniger ehrgeizig als deutsche Vertreter zeigte. Noch deutlicher wurde Außenminister Védrine am 12. Dezember in der Assemblée mit seiner Feststellung, sicher hätten die französischen ebenso wie andere europäische Führer die Idee einer Verfassung positiv aufgenommen. Aber dieser Begriff könne sehr unterschiedliche Realitäten abdecken, von den föderalsten Modellen bis zu den intergouvernementalsten Konstruktionen. Alles hänge von seinem Inhalt ab, der noch diskutiert werden müsse. In jeder Etappe der Verfassungsdiskussion werde Frankreich seine Interessen und seine Konzepte verteidigen. Verteidigen auch und gerade gegenüber anderslautenden deutschen Vorstellungen; davon darf man ausgehen.

Die Regierungen haben den Konvent geschaffen, nachdem sich in Maastricht, Amsterdam und zuletzt in Nizza gezeigt hatte, daß sie infolge ihrer Differenzen und Konsensschwäche zu grundsätzlichen Reformen, die die Machtposition der einzelnen Mitgliedstaaten in der Integrationspolitik verändern könnten, nicht imstande waren. Dieses Verhalten war nicht unverständlich, sollen sie doch inzwischen auf jeder Regierungskonferenz immer essentiellere Teile von Status und Kompetenzen aufgeben. Nicht einmal Frankreich, Italien und Deutschland, die seit zehn Jahren miteinander über diese Fragen reden, waren bis heute zu einer Einigung imstande. Nach Nizza sahen sich die Regierungen in ihrer europäischen Reformfähigkeit dermaßen desavouiert, wurde der Druck aus Öffentlichkeit, Parlamenten und von einigen Regierungen so groß, daß alle sich entschlossen, die Vorgaben für die nächste Reformkonferenz von einem Forum neuer Art entwerfen zu lassen, inspiriert vom Vorbild - und vom Erfolg - des Grundrechtekonvents.

Die meisten Regierungen dürften auch im kommenden Jahr weder imstande noch interessiert sein, dem Konvent in der Öffentlichkeit mit einer eigenen Vision Konkurrenz zu machen. Auch wenn sie den nun Wirklichkeit gewordenen Konvent als Stachel empfinden werden, der sie zu neuen Perspektivpapieren anregt, so ist von ihnen keine plötzliche Einigung zu erwarten. Ebenso die Debatte zur Koordinierung der Ministerräte, die seit Jahren schon vom Europäischen Rat in Gang gesetzt ist und jüngst zu gemeinsamen Vorschlägen des Bundeskanzlers und des britischen Premierministers führte; sie muß in ihrem eigenen Zweck gewürdigt, sollte aber nicht als Vorwegnahme grundsätzlicherer Entscheidungen des Konvents im selben Themenbereich aufgefaßt werden. Das hindert den Konvent nicht daran, nüchtern den Wert solcher bilateraler oder nationaler Ideen für seine eigene Arbeit zu beurteilen.

Im Blick auf die Art seines Ergebnisses ließen die Staats- und Regierungschefs dem Konvent in Laeken freie Hand: Er kann ihnen ein Konsensdokument vorlegen, oder aber verschiedene Optionen, „mit der Angabe“ wie die Erklärung so schön sagt, „inwieweit diese Optionen im Konvent Unterstützung gefunden haben“. Dieses Dokument werde „zusammen mit den Ergebnissen der Debatten in den einzelnen Staaten über die Zukunft der Union“ als Ausgangs­punkt für die Arbeiten der künftigen Regierungskonferenz dienen, „die die endgültigen Entschlüsse faßt“. Natürlich wurde hier noch einmal vorsorglich die Bedeutung des Konventsdokuments relativiert. Aber die Macht der Regierungen könnte zu diesem Datum nicht mehr reichen, eine überzeugende und kohärente Position des Konvents noch links liegen zu lassen, ob dieser nun in seiner Gesamtheit oder mit einer starken Mehrheit dahinter steht.