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Das Militär in Tschetschenien: Hindernis auf dem Weg zu einer politischen Lösung

Arbeitspapier 2003/ Nr.02, 15.02.2003, 10 Seiten
7. Putin - kaukasischer Gefangener der Generale?

Eines der wichtigsten Hindernisse für einen glaubwürdigen und nachhaltigen Kurswechsel weg von der gewaltsamen »Befriedung« durch die Truppen und Sicherheitsdienste liegt bei Putin selbst. Schließlich verdankt er seinen steilen politischen Aufstieg zum Präsidenten wesentlich dem Tschetschenienkrieg. Er war es, der sich an die Spitze einer nationalpatriotischen Welle setzte und den Einsatzbefehl zur massiven Intervention gab. Er identifizierte sich mit dem in der Militärführung im September 1999 weit verbreiteten Vorstellung, jetzt gelte es, in Tschetschenien die »Würde und Ehre« der Armee wiederherzustellen, die von ihr als schmählich empfundene Niederlage im ersten Krieg wettzumachen. Er ließ den Militärs praktisch freie Hand. Jetzt einzugestehen, daß die Verrohung einer außer Kontrolle geratenen Armee eine der Wurzeln des Übels in Tschetschenien ist, kann kaum von ihm erwartet werden.

Einen Kurswechsel von ihm zu erwarten, ist auch wegen der von den russischen Truppen erlittenen Verluste eine trügerische Hoffnung. Die offiziellen Zahlenangaben liegen bei rund 4 500 Mann. Dabei sind aber nur die Verluste der Streitkräfte gemeint. Addiert man aber (wie der Publizist Otto Lazis) die Verluste aller drei Hauptträger der militärischen und Sicherheitsoperationen in Tschetschenien - Verteidigungsministerium, MWD und FSB - kommt man auf 14 429 Tote und 12 285 Verwundete. Das entspricht den Verlusten von elf Jahren Krieg in Afghanistan, bei dem zwischen 13 000 und 15 000 sowjetische Soldaten ums Leben gekommen sind. In Anbetracht der hohen Verluste die Militärs jetzt massiv zu kritisieren, ihr Verhalten als repressive Besatzungspolitik anzuprangern, würde die Moral in der Truppe noch weiter als bisher untergraben. Letzten Endes fiele die Verantwortung für die Unterlassung, den Truppen in Tschetschenien Zügel anzulegen und zu menschenwürdigem Verhalten zu bewegen, auf ihren Oberbefehlshaber zurück, also auf Putin.

Aber auch wenn er diese Verantwortung nun übernehmen wollte, hätte er die allergrößten Schwierigkeiten, sich durchzusetzen. Er ist mit einem aufgeblähten militärischen Apparat konfrontiert, der nach der Soll-Stärke, der Anzahl der Planstellen berechnet, auch heute noch annähernd drei Millionen Soldaten und Zivilbedienstete umfaßt, davon 1,2 Mio. in den Streitkräften, 800 000 in den »anderen Truppen« und eine Million Zivilbeschäftigte, wobei die meisten der letzteren beim Verteidigungsministerium arbeiten und dabei oft militärische Aufgaben wahrnehmen. Dieser Apparat ist von der Gesellschaft abgekapselt. Er ist von Gewaltanwendung, Diebstahl und Korruption durchsetzt. Er verhindert die Aufklärung von Straftatbeständen; von einem konsequenten Durchgreifen der Militärstaatsanwaltschaft und der Gerichte gegen Rechtsverletzungen kann keine Rede sein. Das Verhalten der Streitkräfte und Sondertruppen in Tschetschenien ist einerseits logische Konsequenz dieser eklatanten Mängel, andererseits vereiteln die weitverbreiteten Gewalttaten alles Bemühen, Vertrauen zu schaffen und unterhöhlen in der Truppe das ohnehin nur gering ausgeprägte Rechtsbewußtsein.