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Das Militär in Tschetschenien: Hindernis auf dem Weg zu einer politischen Lösung

Arbeitspapier 2003/ Nr.02, 15.02.2003, 10 Seiten
6. Greueltaten der russischen Einsatzkräfte

Einer wirklichen Normalisierung und Befriedung Tschetscheniens stehen vor allem die von den russischen Streitkräften und Sondertruppen begangenen Greueltaten entgegen. Um Greuel handelt es sich in der Tat. Berichten internationaler und russischer Menschenrechtsorganisationen sowie unabhängiger Journalisten zufolge ist aus der »Antiterroraktion« der russischen regulären Geheimdienst- und Sondertruppen Terror gegen die Zivilbevölkerung geworden. Eine der Formen, die er annimmt, sind die immer wieder stattfindenden »Säuberungen« (za?istki) und »Sonderoperationen« (specoperacii). Dabei durchkämmen russische Truppen tschetschenische Dörfer auf der Suche nach vermeintlich dort untergetauchten Terroristen. Personen vor allem männlichen Geschlechts und Jugendliche werden festgenommen und erschossen, andere zusammengeschlagen und gefoltert, ins Gefängnis oder in Erdlöcher gesteckt . Männliche Jugendliche werden aber auch willkürlich an Kontrollposten auf offener Straße festgenommen und verschleppt. Menschenrechtsorganisationen schätzen, daß jeden Monat zwischen 50 und 80 Männer von russischen Soldaten ermordet werden.

Im März 2002 gab zwar General Wladimir Moltenskoj, Oberkommandierender der Vereinten Gruppe der Truppen in Tschetschenien, einen Befehl heraus, mit dem die Soldaten verpflichtet werden, bei ihren Einsätzen behutsam vorzugehen und gewisse Spielregeln einzuhalten, etwa sich gegenüber den Bewohnern auszuweisen. Der Befehl hat jedoch, wie es scheint, keinerlei Wirkung gezeigt. Fast täglich werden männliche Zivilisten von russischen Soldaten gesetzwidrig abgeführt und häufig später erschossen aufgefunden. Oder sie müssen von ihren Angehörigen freigekauft werden. Noch mit den Leichen wird Handel getrieben. Insgesamt 18 000 Menschen gelten nach ihrer Festnahme als vermißt.

Das brutale Vorgehen der russischen Truppen und Sicherheitskräfte erklärt zum großen Teil auch, warum Flüchtlinge nicht nach Tschetschenien zurückkehren, was ein wesentlicher Bestandteil einer echten Normalisierung wäre. Bis zum Sommer 2001 sollen offiziellen russischen Angaben zufolge 148 000 Personen in die Nachbarrepublik Inguschetien und 42 000 in andere nordkaukasische Republiken und anderswohin in Rußland geflohen sein. (Vor Beginn des Krieges lebten etwa 750 000 Menschen in Tschetschenien.) Nach dem Geiseldrama in Moskau versuchten russische Truppen, Flüchtlinge in Inguschetien zur Rückkehr zu zwingen, auch Lager wurden vereinzelt geschlossen. Vermutlich auch aufgrund internationaler Proteste wurden diese Versuche wieder aufgegeben.

Eine der Schlußfolgerungen, die sich aus der Bestandsaufnahme ergibt, ist unausweichlich: Eine Normalisierung der Situation, eine Befriedung der Kaukasusrepublik und politische Lösungen sind nur möglich, wenn man das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen und die Flüchtlinge zu einer freiwilligen Rückkehr bewegen kann. Schlüssel dazu wären sichtbare Wiedergutmachungs- und Aufbauleistungen, vor allem aber eine deutliche Veränderung des Verhaltens der russischen Truppen und Sondereinheiten. Gibt es dafür eine Chance, die Putin nutzen will - und könnte?