Direkt zum Seiteninhalt springen

Das Militär in Tschetschenien: Hindernis auf dem Weg zu einer politischen Lösung

Arbeitspapier 2003/ Nr.02, 15.02.2003, 10 Seiten
5. Fehlschlag der Befriedung

Die wirtschaftliche und soziale Infrastruktur Tschetscheniens hat durch die von den föderalen Truppen eingeschlagene Taktik noch stärker gelitten als im ersten Krieg. Sie hat erhebliche Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert und ein Flüchtlingselend großen Ausmaßes heraufbeschworen. Die »bewaffneten Banden« sind weiterhin aktiv, keineswegs ausgerottet. Nahezu täglich erleiden die russischen Truppen Verluste. Sie geraten in Hinterhalte oder werden Opfer von Selbstmordanschlägen. Von letzteren sind auch - wie der Bombenanschlag auf den Sitz der moskautreuen tschetschenischen Verwaltung in Grosny Ende Dezember beweist, bei dem mehr als 50 Menschen getötet und mindestens 70 verletzt wurden - Tschetschenen betroffen, die mit Moskau zusammenarbeiten. Hubschraubertransporte sind für die Truppen gerade in den letzten Monaten zu einer großen Gefahr geworden. Abschüsse mit Hilfe verschiedener Flugabwehrsysteme (Strela, Igla, Stinger, Blowpipe) häufen sich, und auch dabei gibt es manchmal große Verluste an Menschenleben. So wurde im August 2002 ein Armeehubschrauber über der russischen Militärbasis Chankala nahe Grosny abgeschossen, wobei 118 russische Soldaten und einige Zivilisten ums Leben kamen. Die bewaffneten »Banden« finden Zulauf, denn viele junge Tschetschenen gehen nicht zur Schule, finden keine Arbeit und fürchten, von russischen Soldaten aufgegriffen, mißhandelt, gefoltert und erschossen zu werden.

Dabei ist unklar, wie viele »Banden« und »Terroristen« es überhaupt zu Beginn des Krieges gegeben hat und wie viele es heute noch gibt. Die im Laufe der letzten dreieinhalb Jahre vom russischen Generalstab gemachten Angaben schwanken extrem, von nicht mehr als 1 500 bis zu 16 000 Mann. Schon im ersten Jahr der Kämpfe sollen 13 500 Banditen getötet worden sein. Allerdings ist schwer zu erkennen, wie derartige Zahlen zustande kommen. Wenn es bei der Zählweise der Toten überhaupt eine Systematik gibt, werden vermutlich - wie bei den amerikanischen »body counts« im Vietnamkrieg - die Verlustzahlen des Gegners übertrieben, um die eigenen Erfolge hervorzuheben. Umgekehrt ist man in Moskau bemüht, die Zahl der in Tschetschenien ums Leben gekommenen Zivilpersonen niedriger anzusetzen, als sie in Wirklichkeit ist. Dem Generalstab zufolge kamen 20 000 Zivilpersonen ums Leben. Wie aber der Unterschied zwischen »Terroristen« und Zivilpersonen gezogen wird, ist den Angaben nicht zu entnehmen. Was die tatsächliche Anzahl ziviler Opfer betrifft, liegt sie wahrscheinlich zwischen der vom Generalstab genannten Zahl und den von der »Union der Völker Tschetscheniens« angegebenen 100 000 Menschen.