Die Bundesregierung sollte Lukaschenkos Erpressung ins Leere laufen lassen, indem sie zeigt, dass sie eine solche Zuwanderung bewältigen kann. Sie sollte sich auch für humanitäre Hilfe, neue Sanktionen und für Informationskampagnen in den Herkunftsländern einsetzen, meinen Steffen Angenendt, David Kipp und Janis Kluge.
Bereits seit einigen Monaten ist die Situation an der östlichen EU-Außengrenze zu Belarus prekär. In jüngster Zeit hat sich die Lage an der Grenze zu Polen deutlich verschärft, hier sind mehrere tausend Flüchtlinge und Migrant/innen zwischen belarussischen und polnischen Sicherheitskräften auf belarussischen Territorium gefangen. Polen lehnt eine Unterstützung durch die EU-Grenzschutzagentur Frontex ab, hat aber nach eigenen Angaben neben Grenzschutz und Polizei 15.000 Soldaten entsandt, um die Menschen am Grenzübertritt zu hindern. Dabei treiben polnische Sicherheitskräfte Medienberichten zufolge Menschen mit Gewalt nach Belarus zurück. Gleichwohl schaffen es immer wieder Menschen, die Grenze zu Polen zu überqueren und auch nach Deutschland weiterzureisen.
Lukaschenko will die EU mit Bildern von der Grenze erpressen, die die angebliche Doppelmoral der EU-Politik entblößen sollen. Sein vordringliches Ziel ist die Aufhebung der nach der Entführung der Ryanair-Maschine im Mai dieses Jahres verhängten EU-Sanktionen. Zudem will er den Kreml – der derzeit sein politisches Überleben garantiert – beeindrucken und dem innen- und außenpolitischen Drängen auf eine Verfassungsreform und einen Machtverzicht ausweichen. Putin lässt Lukaschenko gewähren und unterstützt sein Ziel, zu Verhandlungen mit der EU über die Rücknahme der Sanktionen zu kommen. Außerdem sieht Putin in dem Erpressungsversuch eine weitere Chance, die Spaltung der EU zu vertiefen. Allerdings könnte die militärische Eskalationsgefahr auch aus Sicht Putins zu groß werden.
Die polnische Regierung steht innenpolitisch so unter Druck, dass sie bei Neuwahlen einen Machtverlust befürchten müsste. Ihr kommt Lukaschenkos Erpressungsversuch innenpolitisch gelegen, weil sie ihn als Angriff auf die territoriale Integrität Polens und sich als deren Verteidigerin darstellen kann. Die Regierung rüstet rhetorisch und militärisch auf, hat die Grenzregion zur Sperrzone erklärt und kontrolliert die Berichterstattung aus der Krisenzone. Dabei dient die Inszenierung der nationalen Selbstverteidigung auch dazu, vom laufenden Rechtsstaatskonflikt mit der EU abzulenken. Die Regierung nährt die Mär, die EU ließe Polen im Stich, so dass das Land auf sich allein gestellt sei.
In der ersten Novemberwoche 2021 hat die Bundespolizei etwa 1.000 irreguläre Grenzübertritte mit Belarus-Bezug registriert, seit Jahresbeginn insgesamt etwa 9.000. Ankunftszahlen in dieser Größenordnung sind für Deutschland jedoch angesichts einer Gesamtzahl von insgesamt 115.000 neuen Asylanträgen in Deutschland (Januar bis Ende Oktober 2021) zu bewältigen, was sich auch daran zeigt, dass die Erstaufnahmeeinrichtungen im besonders betroffenen Bundesland Brandenburg bislang keine Kapazitätsprobleme haben. Die Bundesregierung sollte Lukaschenko deshalb deutlich machen, dass sie die Lage unter Kontrolle hat.
Eine Aufnahme der Menschen in Polen oder in anderen EU-Mitgliedstaaten ist der einzige Weg, die humanitäre Notlage rechtskonform zu bewältigen. Das schließt humanitäre Hilfe sowie das Recht der Flüchtlinge und Migranten ein, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Die EU sollte Polen erneut ein umfassendes Unterstützungsangebot durch die EU (Frontex, Europol und EASO) unterbreiten. Deutschland und andere Mitgliedstaaten könnten Polen zudem unterstützen, indem sie schnelle und faire Asylverfahren vor Ort mit Personal unterstützen und selbst Asylbewerber aufnehmen. Ein solches Unterstützungspaket würde die Transparenz der polnischen Aktivitäten an der Grenze erhöhen und der polnischen Bevölkerung zeigen, dass sie von den Mitgliedstaaten und der EU nicht im Stich gelassen wird.
Einer humanitären Lösung steht vor allem die Sorge entgegen, dass diese einen Sog auf weitere Flüchtlinge ausüben könnte. Daher muss die EU wirksame Präventivmaßnahmen gegen eine fortgesetzte Schleusung über Belarus ergreifen. Dazu zählen vor allem neue EU-Sanktionen gegen das Lukaschenko-Regime, die sich allerdings von den bisherigen vier Sanktionsrunden unterscheiden müssen: Die EU müsste deutlich machen, dass diese Sanktionen die Spannungen nicht weiter eskalieren sollen, sondern sich ausschließlich auf die Instrumentalisierung von Migranten beziehen und wieder aufgehoben würden, wenn sich die Situation an der Grenze entschärft. Solche Sanktionen könnten sich beispielsweise gegen die fünf staatlichen Banken richten; auch die Möglichkeiten zu Sanktionen gegen staatliche Reiseunternehmen sind noch nicht ausgeschöpft. Dabei sollte eine weitere Einschränkung der Mobilität der belarussischen Bürgerinnen und Bürger vermieden werden.
Notwendig sind auch Maßnahmen gegen Fluggesellschaften, die sich an der Beförderung der Menschen nach Belarus beteiligen – beispielsweise die Entziehung von Landerechten. Auch Gespräche mit Russland und der Türkei sind vordringlich, die mittlerweile zu Drehscheiben für Flüge nach Belarus geworden sind. Zudem sollte die Bundesregierung die EU zu überzeugenden Social Media-Aufklärungskampagnen in den Herkunftsländern über die Gefahren der gegenwärtigen Migrationsroute über Belarus drängen.
Über diese dringenden Maßnahmen zur Bewältigung der humanitären Krise hinaus sollte die EU aber aus dem Erpressungsversuch Lukaschenkos eine Lehre ziehen: Ein funktionierendes EU-Asylsystem mit einer fairen Verantwortungsteilung und eine gemeinsame Einwanderungspolitik wären der beste Schutz gegen solche Destabilisierungsversuche. Entsprechende Vorschläge liegen seit über einem Jahr auf dem Tisch. Die gegenwärtige Krise sollte allen Mitgliedstaaten die Dringlichkeit einer Einigung über das von der EU-Kommission vorgelegte Asyl- und Migrationspaket vor Augen führen.
doi:10.18449/2020A78
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