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Asylpolitik: Schritte zur Deeskalation im Innern der EU

Der deutsche »Asylkompromiss« kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es kein »abgestimmtes« europäisches Vorgehen gibt. Raphael Bossong nennt vier Handlungsfelder, in denen die EU auf dem Weg zu einer sachlichen Asylpolitik Fortschritte machen muss.

Kurz gesagt, 07.07.2018 Forschungsgebiete

Der deutsche »Asylkompromiss« kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es kein »abgestimmtes« europäisches Vorgehen gibt. Raphael Bossong nennt vier Handlungsfelder, in denen die EU auf dem Weg zu einer sachlichen Asylpolitik Fortschritte machen muss.

Nachdem die große Koalition zumindest formell einen Kompromiss zur Beschleunigung von Dublin-Fällen gefunden hat, kann man darauf hoffen, dass sich die politische Lage in Deutschland etwas entspannt. Jenseits der letztlich sehr kleinteiligen Diskussion zur innereuropäischen »Sekundärmigration«, die angesichts der aktuellen Ankunftszahlen im Mittelmeer faktisch an Bedeutung verliert, ist aber die vielbeschworene »europäische Lösung« der Migrationskrise nicht in Sicht. Vielmehr ist es immer noch dringend erforderlich, eine politische Deeskalation auf Ebene der EU zu erreichen. Weder die Ergebnisse des letzten Europäischen Rats, die bisher nur auf dem Papier stehen, noch die Bekenntnisse deutscher Politiker zu einem »abgestimmten« europäischen Vorgehen reichen hierfür aus. Fortschritte sind in vier Feldern nötig.

»Kontrollierte Zentren« können der Leitidee von Solidarität neues Leben einhauchen

Erstens sollten sich die politischen Anstrengungen der kommenden Wochen auf die Umsetzung der sogenannten »kontrollierten Zentren« innerhalb der EU konzentrieren, die von Emmanuel Macron auf dem letzten Europäischen Rat vorgeschlagen wurden. Dort sollen Migranten und Schutzsuchende, die aus dem Mittelmeer gerettet wurden, einer ersten Prüfung unterzogen werden, bevor sie unter denjenigen EU-Mitgliedstaaten verteilt werden, die sich freiwillig zur Bearbeitung von Asylanträgen für zuständig erklären. Bisher fehlt es jedoch an Zusagen einer hinreichenden Anzahl von Mitgliedstaaten, um ein solches System der freiwilligen Solidarität zum Laufen zu bekommen. Die eklatanten Missstände der »Hotspots« auf den griechischen Inseln, die in vielerlei Hinsicht zu wilden Gefängnissen verkommen sind, dienen darüber hinaus als anschauliche Warnung, dass neue geschlossene Einrichtungen für Migranten unbedingt hohen rechtsstaatlichen Ansprüchen genügen müssen. In operativer Sicht müssten die Zentren aber nicht zu einer neuen Belastungsprobe werden. Angesichts der derzeit vergleichsweise geringen Ankunftszahlen über das Mittelmeer geht es hier nicht um eine Notfallmaßnahme wie bei den ursprünglichen Hotspots, sondern vor allem um einen politischen Mechanismus für einige Tausend Personen, um der Leitidee der Solidarität, wenngleich in freiwilliger und flexibler Form, wieder etwas Leben einzuhauchen.

Einige der bereits bestehenden Hotspots könnten nun zu besser funktionierenden »kontrollierten Zentren« ausgebaut werden. Dies würde vor allem in Italien als Zwischenschritt begrüßt werden, da Premier Conte gedroht hatte, alle weiteren Beschlüsse des Europäischen Rates zu blockieren, wenn nicht für die geregelte Übernahme von anlandenden Flüchtlingen gesorgt würde. Trotz der unbequemen neuen Regierung in Rom bleibt eine kooperative Beziehung mit Italien absolut unerlässlich. Die Androhung von einseitigen Zurückweisungen bis hin zur möglichen Schließung des Brenners erzeugt genau das Gegenteil.

Die EU muss den Krisen in ihrem Umfeld mehr Aufmerksamkeit widmen

Zweitens muss den bewaffneten Konflikten und humanitären Krisen in der erweiterten europäischen Nachbarschaft wieder deutlich mehr Aufmerksamkeit zuteilwerden. Die neue militärische Offensive in Südsyrien, bei der bereits mehrere Hunderttausend Menschen vertrieben wurden, trifft auf die Ablehnung der Anrainerstaaten, neue Schutzsuchende aufzunehmen. So steht seitens Jordaniens und des Libanon vielmehr die Forderung im Raum, rasch auf eine Rückkehr von Syrern hinzuwirken. Anstatt aber – wie ansatzweise bei der letzten Reise von Angela Merkel in die Region geschehen – eine Ausweitung von Hilfsleistungen zu vereinbaren, hat die EU bisher keine entschiedenen Maßnahmen ergriffen. Bekanntermaßen war im Jahr 2014 eine vergleichbare Zuspitzung der Versorgungslage von bereits Geflüchteten einer der Auslöser für die großen Fluchtbewegungen nach Europa. Die 2016 erreichte Abschottung durch das Türkeiabkommen und die vermeintliche Schließung der Balkanroute bedeuten nicht, dass sich die EU von neuen Krisen abkoppeln kann.

Eine Abkehr vom Schengen-Kodex ist ein rotes Tuch für osteuropäische Mitgliedstaaten

Drittens sollte das Schengen-Regime möglichst rasch wieder in den Normalzustand überführt werden. Die politische Verknüpfung von nationalen Grenzkontrollen innerhalb der Schengenzone mit anhaltenden Defiziten beim EU-Außengrenzschutz steht immer weniger im Einklang mit der tatsächlichen Entwicklung der irregulären Zuwanderung. Im November dieses Jahres kann deshalb die im Schengen-Kodex vorgesehene Begründung für befristete Binnengrenzkontrollen nicht mehr erneuert werden. Als Alternative könnte eine Ausweitung der grenznahen anlasslosen Personenkontrollen vereinbart werden, die das Schengen-Recht zu einem gewissen Grad erlaubt. Allerdings verfolgen insbesondere Deutschland, Österreich und Dänemark anscheinend die Position, dass stationäre Grenzkontrollen langfristig im Ermessen der Nationalstaaten liegen sollten. Die damit einhergehenden jüngsten Drohungen einer Schließung des Brenners sind doppelt schädigend, da sie nicht nur den Konflikt mit Italien verschärfen, sondern zugleich eine offene Abkehr vom Schengen-Kodex markieren würden. Mindestens der symbolische und politische Schaden wäre enorm, gerade auch in Hinblick auf die ohnehin schon sehr angespannten Beziehungen zu den osteuropäischen Mitgliedstaaten, die Schengen eine besondere Bedeutung beimessen. Ein substantieller Sicherheitsgewinn durch anhaltende Binnengrenzkontrollen ist derweil kaum zu belegen.

Der Aufbau einer Europäischen Asylbehörde wäre weit wirksamer als der Ausbau von Frontex

Viertens und letztens sollte parallel zur Weiterentwicklung der Rechtsgrundlagen des sogenannten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems der Aufbau der Europäischen Asylbehörde vorangetrieben werden. Der derzeit viel diskutierte Ausbau von Frontex ist weit weniger relevant. Auch wenn deutlich mehr Frontex-Beamte an EU-Außengrenzen patrouillieren sollten, müssten sie nach internationalem wie europäischem Recht Schutzsuchenden die Einreise gestatten. Ohne eine stärkere Harmonisierung der Asylverfahren dürften die Anreize zur anschließenden Sekundärmigration innerhalb der EU unverändert bleiben. Der Aufbau von gemeinsamen Verfahren unter Leitung der Europäischen Asylbehörde wäre umgekehrt eine notwendige Grundlage für die verlässliche und faire Verteilung von Schutzsuchenden aus kontrollierten Zentren an EU-Außengrenzen. 

Fortschritte in diesen vier Handlungsfeldern könnten wieder eine langfristige angelegte, sachliche EU-Migrationspolitik ermöglichen. Die aktuelle politische Diskussion, die sich auf interne Grenzkontrollen, einen unrealistischen Ausbau des EU-Außengrenzschutzes und politisch wie menschenrechtlich höchst zweifelhafte Lager in Nordafrika versteift hat, führt dahingegen in die Irre. Kurzfristig wichtig ist vor allem, dass die Rettung von Menschen wieder im Vordergrund steht, anstatt private Hilfsorganisationen zu kriminalisieren. Der Vorwurf, sie würden mit Schleppern zusammenarbeiten, ist völlig unbegründet. Dagegen besteht ein klarer Zusammenhang zwischen dem forcierten Rückzug von Rettungsschiffen und einem deutlichen Anstieg der Todesfälle auf dem Mittelmeer. 

Dieser Text ist auch bei EurActiv.de und auf Handelsblatt.com erschienen.