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Lehren aus der Ukrainekrise: Der Stellenwert des Militärischen

Lösungen von Krisen werden wesentlich durch die Machtverhältnisse zwischen den Beteiligten bestimmt. Gewaltpotenziale spielen hierbei eine gewichtige Rolle. Es ist daher falsch, militärische Maßnahmen kategorisch zu tabuisieren, meint Hanns W. Maull.

Kurz gesagt, 22.05.2014 Forschungsgebiete

Lösungen von Krisen wie jener in der Ukraine werden wesentlich durch die Machtverhältnisse zwischen den Beteiligten bestimmt. Gewaltpotenziale spielen hierbei eine gewichtige Rolle. Es ist daher falsch, militärische Maßnahmen kategorisch zu tabuisieren, meint

Hanns W. Maull.

Dass es keine »militärischen Alternativen« zu »diplomatischen« oder »politischen Lösungen« gäbe, gehört zu den ebenso gängigen wie ärgerlichen Gemeinplätzen der außenpolitischen Debatte um die Ukraine-Krise in Deutschland. Ärgerlich ist dieser Gemeinplatz nicht deshalb, weil er ganz falsch wäre (das sind Gemeinplätze selten), sondern weil er dem ernsthaften Nachdenken über Außenpolitik im Wege steht. Tatsächlich ist die angebliche Alternativlosigkeit der Diplomatie ein Beispiel für mangelhafte analytische Präzision, vulgo: für Denkfaulheit. Natürlich könnte und sollte die Unabhängigkeit der Ukraine nicht zum Preis eines Kriegs in Europa »gerettet« werden. Aber aus dieser Prämisse wird hierzulande häufig und gerne die Unvereinbarkeit von diplomatischen und militärischen Maßnahmen konstruiert und jegliche Form von letzteren tabuisiert. Damit wird der Gemeinplatz gefährlich bodenlos, ja vielleicht sogar bodenlos gefährlich. Warum das so ist, wird deutlich, wenn man das Argument logisch zu Ende denkt: Dann wäre nämlich die vollständige Abrüstung die beste Möglichkeit, politische Lösungen zu ermöglichen. Dass das zwar wünschenswert ist, in der Wirklichkeit aber nicht immer funktioniert, zeigt die gegenwärtige Krise in der Ukraine: Denn diese hat ja faktisch fast vollständig abgerüstet, weil sich die Machthaber in Kiew seit langen Jahren vor allem für ihre eigenen Belange interessierten, aber nicht für die der ukrainischen Gesellschaft insgesamt; die Vernachlässigung der Sicherheitskräfte ist dafür nur ein Beispiel in einer langen Liste von Versäumnissen. Die Ukraine hat deshalb den russisch inspirierten separatistischen Umtrieben im Osten der Ukraine noch nicht einmal funktionierende Polizeikräfte entgegenzusetzen, und verteidigungsfähig ist sie schon gar nicht. Im Übrigen: Auch der Blick in unsere eigene, europäische Geschichte zeigt, dass Hitlers Aggressionspläne vor allem deshalb nicht rechtzeitig vereitelt werden konnten, weil Frankreich und Großbritannien faktisch weitgehend abgerüstet hatten.

Alle »diplomatischen Lösungen« werden nicht ausschließlich, aber doch wesentlich durch die Machtverhältnisse zwischen den Beteiligten bestimmt. Auch die Abtretung des Sudetenlandes an das Deutsche Reich durch die Tschechoslowakei, die Hitler mit den Methoden brutaler Erpressung gegenüber Frankreich und Großbritannien 1938 in München durchsetzte, war ja eine »politische Lösung«, aber eben eine ausgesprochen einseitige: Schon wenige Monate später existierte der Staat Tschechoslowakei nicht mehr. Diese »politische Lösung« spiegelte die Machtverhältnisse im Europa des Jahres 1938, nicht zuletzt auch die militärischen, wider.

Dass Diplomatie nichts mit Militär, dass politische Lösungen nichts mit Machtverhältnissen – und damit letztlich auch mit Gewaltpotenzialen – zu tun haben, ist also ein Irrtum, der historisch immer wieder sehr teuer bezahlt werden musste. Für die internationalen Beziehungen heute heißt dies, dass militärische Schutzmaßnahmen bis hin zur Gewaltandrohung und sogar zur Gewaltanwendung durchaus Bestandteil politischer Lösungen sein können. Sein können – aber nicht sein müssen: Es hängt von Wertvorstellungen ab, ob und wie Gewalt ins Spiel kommt. Wenn alle Beteiligten sich einig sind, auf Gewalt zu verzichten, dann stehen die Chancen gut, friedliche Lösungen zu finden. In der Ukraine gibt es diese Einigkeit zwischen dem Westen und Russland offensichtlich nicht; es fehlt an den viel beschworenen »gemeinsamen Werten«, zumindest in diesem entscheidenden Punkt.

Kurzum: Natürlich gilt es, alles zu tun, um militärische, um gewaltsame »Lösungen« von Konflikten zu vermeiden. Aber dass man ohne machtpolitische Schritte gute und nachhaltige Lösungen für Konflikte wie die in der Ukraine erreichen könne, ist ein Mythos. In der internationalen Politik muss sich ein Staat notfalls gegen andere Staaten verteidigen können, alleine oder gemeinsam mit anderen. Die wichtigste Schlussfolgerung, die Europa aus der Ukrainekrise ziehen sollte, heißt deshalb: Die Europäische Union muss Wege finden, ihren baltischen Mitgliedstaaten zu helfen, sich gegen etwaige russische Begehrlichkeiten und Übergriffe wirksam zu verteidigen. Es ist schlicht falsch und möglicherweise gefährlich, in der gegenwärtigen Krise jegliche Form der militärischen Reaktion als Schritt in die Eskalation, ja als Kriegstreiberei zu brandmarken. Der Gemeinplatz, wonach es keine Alternative zu diplomatischen Lösungen gebe, sollte möglichst rasch aus dem Verkehr gezogen werden.

Der Text ist auch bei EurActiv.de, Handelsblatt.com und Zeit.de erschienen.