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Krisenlandschaften und die Ordnung der Welt

Im Blick von Wissenschaft und Politik

SWP-Studie 2020/S 18, 10.09.2020, 108 Seiten

doi:10.18449/2020S18

Forschungsgebiete
  • Während der letzten zwanzig Jahre haben sich »Krisenlandschaften« (Volker Perthes) in der internationalen Politik formiert, die regionale Zusammenhänge, aber auch Konflikt- und Problemkontexte erkennen lassen, die eine anhaltende Herausforderung für deutsche und euro­päische Außen- und Weltordnungspolitik darstellen.

  • Jüngste Krisen und Zuspitzungen, etwa als Folge der Corona-Pandemie, der amerikanisch-chinesischen Machtrivalität oder des Brexit-Refe­rendums, lassen sich nicht isoliert analysieren, sondern fügen sich als Teilstücke in die größeren Krisenlandschaften ein.

  • Vor diesem Horizont sind auch traditionelle Schlüsselthemen – transatlantische Beziehungen, europäische Integration – sowie alte und neue Schwerpunktregionen – Russland und Osteuropa, Israel und der Nahe Osten, China und Afrika – in den Blick zu nehmen. Dabei gilt es Interessen deutscher Außenpolitik zu verorten, die neue konzeptionelle Schlussfolgerungen für die politische Praxis implizieren.

  • Das politische Programm der »Europäischen Souveränität« bietet eine mehrdimensionale Antwort, die das Militärische einschließt. Sichtbar wird dabei, wie sehr sich die Grundlagen des Verständnisses von Macht und die Koordinaten deutscher und europäischer Außenpolitik nach der Zäsur von 1989 und im Zuge wachsender internationaler Verflechtung verschoben haben.

  • Der exponierte deutsche und europäische Multilateralismus muss diesen Entwicklungen Rechnung tragen. Gefragt sind effektive Antworten, die darüber hinausgehen, nur grundsätzlich für globales Regieren einzutreten oder die Anforderungen der internationalen Klimapolitik und der VN-Nachhaltigkeitsagenda zu unterstützen. Dies beinhaltet auch, die Voraussetzungen für außenpolitisches Handeln im Innern, im europäischen Verbund und darüber hinaus neu zu justieren.

  • Die vorliegende Studie versammelt Beiträge von Wegbegleitern sowie Kolleginnen und Kollegen von Volker Perthes zum Ende seiner Tätigkeit als Direktor der SWP.

Inhaltsverzeichnis

1 Vorwort der Herausgeber

2 Wissenschaftlichkeit, Unabhängigkeit, Multiperspektivität. Internationale Beziehungen, SWP und Volker Perthes seit 2005

Stefan Mair

2.1 2005–2010: Die Welt gerät in Unordnung

2.2 2010–2015: Neue Machtgefüge entstehen

2.3 2015–2020: Die Krise der liberalen Erzählung

2.4 Abschluss 2005–2020: Aus der multilateralen Ordnung in die Großmächtekonkurrenz

Deutsche und europäische Außenpolitik

3 Koordinaten deutscher Außenpolitik nach 1989

Thomas Bagger

3.1 Die Zäsur von 1989 und ihre Grenzen

3.2 Navigieren durch Krisenlandschaften

3.3 Die USA, Russland und China: Veränderte Koordinaten deutscher und europäischer Außenpolitik

3.4 Weiter sehen: Interessen- und Aktionsradius deutscher Außenpolitik

3.5 Normative Horizonte und notwendiger Realismus

3.6 Politikberatung und aufgeklärte Außenpolitik

4 Europäische Souveränität – Selbstbehauptung in unruhigen Zeiten

Miguel Berger

4.1 Zwischen Ordnungsverlust und Ordnungsstiftung: Europa auf dem Weg zur Gestaltungsmacht

4.2 Vier Aspekte »Europäischer Souveränität«

4.3 Handlungsfelder und Instrumente europäischer Souveränität

4.3.1 Strategische Souveränität

4.3.2 Technologische Souveränität

4.3.3 Gesundheitssouveränität

4.3.4 Währungssouveränität

4.3.5 Ökonomische Souveränität

4.4 Eine ambitionierte Agenda für das neue Jahrzehnt

5 Multilateralismus und deutsche Außenpolitik: Ein Syllogismus?

Hanns W. Maull

5.1 Multilateralismus als Ausgangspunkt und Finalität deutscher Außenpolitik

5.2 Die qualitative und die quantitative Dimension des Multilateralismus

5.3 Verfassungsauftrag und Multilate­ralismus

5.4 Multilateralismus als außenpolitisches Instrument

5.5 Der Multilateralismus der deutschen Außenpolitik in der Praxis

5.6 Kooperativer und integrativer Multilateralismus

5.7 Fünf spezifische Ausprägungen multi­lateralistischer Diplomatie

5.8 Ausblick

6 Die binationale parlamentarische Versammlung: Treibstoff für den deutsch-französischen Motor

Wolfgang Schäuble

6.1 Die Gründung der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung

6.2 Gemeinsame Verantwortung – gemeinsame Agenda

6.3 Gemeinsamkeit auch in Zeiten der Krise

6.4 Nationale Unterschiede und gemeinsame Lernprozesse

6.5 Die Gemeinsame Außen- und Sicherheits­politik und die »europäische Souveränität«

6.6 Unterschiedliche strategische Kulturen und Rollenbilder

6.7 Der deutsch-französische Motor

7 Die Mär vom »deutschen Drückeberger«: Ein Einwurf wider die »Bellizisten« in Publizistik, Politik und Wissenschaft

Rolf Mützenich

7.1 Drückeberger Deutschland?

7.2 Einsicht in begrenzte Möglichkeiten und zu hohe Erwartungen

7.3 Deutsche Außenpolitik – besser als ihr Ruf

7.4 Die EU als deutsches Schicksal

8 Global Britain: Ambition Meets Reality

Robin Niblett

8.1 Inevitable

8.2 What is Global Britain?

8.3 Problems with Global Britain

8.4 Rethinking Global Britain

8.5 Conclusion

9 Ohne Leitbild? Perspektiven deutscher Europapolitik

Barbara Lippert

9.1 Was Leitbilder sind und wozu sie gut sind

9.2 Europapolitische Leitbilder von gestern stoßen auf neue Kontexte

9.3 Die funktionalistische Logik zerrinnt

9.4 Deutsche Europapolitik im Zwielicht

9.5 »Zusammenhalt der EU27« – ein neues Leitbild

10 Europa und der Nahostkonflikt: Wie weiter nach dem Ende der Oslo-Ära?

Muriel Asseburg

10.1 Einstaatenrealität und Annexion

10.2 Verzicht auf formale Annexion

10.3 Das europäische Mantra der Zweistaatenregelung

10.4 Wie weiter?

10.4.1 Alternativen ausloten, Zweistaatenansatz nicht vorschnell verwerfen

10.4.2 Konsistente Orientierung europäischer Politik an Prinzipien

10.4.3 Europäische Rolle bei der Konflikt­regelung

Multilateralismus und globale Verantwortung

11 Arbeit am Inventar der Weltaufgaben: Deutschland, Afrika und die Nachhaltig­keitsagenda der Vereinten Nationen

Martin Jäger

11.1 Die Agenda zwischen Magna Charta und planetarischem Pflichtenheft

11.2 Politische Reichweite und eingeschränkte Handlungsspielräume

11.3 Covid-19 und die Nachhaltigkeitsagenda: Prioritäten sind gefragt

11.4 Eine globale Verantwortungs­gemeinschaft

11.5 Die koloniale Erfahrung Afrikas aufnehmen

11.6 Heterogene Realitäten in Afrika: Was wissen wir? Was können wir wissen?

11.7 Leave no one behind : Würde und Teilhabe für alle

12 After the Pandemic – A View from the United States

James Dobbins

12.1 Impact of Covid-19 in Geopolitical Terms

12.2 The US Response to Covid-19 and Growing Discontent

12.3 A New Era?

13 Between Concentration and Dispersion: An Ongoing Debate on Power Relations

Thomas Gomart

13.1 China at the Top of the Global Hierarchy: What Would It Mean?

13.2 The Chessboard and the Web: The Fusion of Power

13.3 A Third Phase of Globalisation: Towards Heterogeneity

14 Transatlantische Ungewissheiten und strategische Risikoabsicherung

Peter Rudolf

14.1 Abschied von der liberalen Hegemonie

14.2 Die neue amerikanische Vormacht und der konservative Nationalismus

14.3 Herausforderung China

15 Was ist vom Aufstieg der »emerging powers« geblieben? Neue Partner und ihre Leistungsfähigkeit

Günther Maihold

15.1 Neue Akteure in der Weltpolitik

15.2 Das Aufstiegsnarrativ und der Wandel der internationalen Beziehungen durch die »emerging powers«

15.3 Außenpolitische Identität und Verhaltensmuster

15.4 Die demokratische Qualität der »aufsteigenden Mächte«

15.5 Der institutionelle Rahmen der »aufsteigenden Mächte« in der Welt­politik – die G20

15.6 Die Bedeutung der » emerging powers « für deutsche Außenpolitik

16 Internationale Klimapolitik – Spannungs­felder und mögliche Wendungen

Susanne Dröge

16.1 Entwicklungen in der internationalen Klimapolitik

16.1.1 Der Faktor USA

16.2 Das wachsende Spannungsfeld zwischen Wissen und politischem Handeln

16.3 Mögliche Wendungen in der inter­nationalen Klimapolitik

17 Anhang

17.1 Abkürzungen

17.2 Literaturhinweise

17.3 Die Autorinnen und Autoren

Vorwort der Herausgeber

»Die diplomatische Kunst des Möglichen liegt darin, mit einer möglichst inklusiven Allianz multilateral gesinnter Staaten die Regelgebundenheit internationaler Beziehungen zu stär­ken. Dabei darf sie aber nicht den Eindruck erwecken, dass es auch um den Export der ›richtigen‹ inneren Ordnung von Staaten geht.«

In dieser Einschätzung zur »Allianz für den Multilateralismus« hat Volker Perthes eine der Grundkonstanten internationaler Politik zusammengefasst: Akteure betreiben Außenpolitik mit innenpolitischen Kalkü­len; die innen- und außenpolitischen Sphären durch­dringen einander, im Handeln und in dessen Folgen. Wer dies und die der Außenpolitik zugrunde liegen­den Binnendynamiken konzeptionell und praktisch nicht berücksichtigt, wird nur begrenzt erfolgreich sein. Dabei ist »Erfolg« keine zentrale Kategorie von Per­thes’ außenpolitischem Denken. Er würde beschei­dener von Verantwortung und Chancen sprechen – von Gestaltungsoptionen, die sich durch Führungs­bereitschaft und Nutzen von Einflussmöglichkeiten aufbauen oder auch zurückgewinnen lassen. Oft geht das nur schritt- und stückweise voran, selten in großen Sprüngen. Perthes interessiert der Instrumenten­kasten von Außenpolitik in seinem ganzen Um­fang. Darin liegen neben der Diplomatie militärische, wirt­schaftliche und kulturelle Mittel bereit, um Frie­den zu sichern, Krisen abzuwenden, soziale Verwerfungen aufzufangen und neue Ordnungselemente wirk­sam werden zu lassen. Die Analyse etablierter Sicher­heitsarchitekturen, regionaler Kräftehierarchien und der relativen Machtbalance zwischen Staa­ten oder Staatengruppen ist dafür nur ein Zugang. Auch gilt es über bloße Gefahrenabwehr und Risiko­minimierung hinauszudenken und längerfristige Gestaltungschancen zu entwickeln. Auf diesem Weg muss der Blick für all jene nichtstaatlichen Akteure geschärft werden, die eigene Handlungslogiken ein­bringen und den Zusammenhalt national wie inter­national stärken können.

Gerade in Zeiten der Ungewissheit, des Unbehagens an der Globalisierung und des gefühlten Verlusts von Identität und Sicherheit – oft in Verbindung mit neuen Bedrohungswahrnehmungen – ist eine wissenschaftliche Politikberatung gefragt, die sich Alarmismus entzieht und die gesamte Breite von Ein­fluss- und Störfaktoren untersucht. Wenn Perthes als Direktor des Deutschen Instituts für internationale Politik und Sicherheit aus Berliner Perspektive auf die Weltkarte blickt, dann gilt seine Aufmerksamkeit nicht nur einzelnen Ereignissen und Krisen; er fragt, wie sie sich in größere Krisenlandschaften und über­greifende Strukturveränderungen einordnen und dementsprechend deuten lassen. Nur so kann es gelin­gen, einem Denken in Dauerkrisen und krisen­getriebenem Handeln den geeigneten analytischen Rahmen zu verschaffen. Viele der vertrauten, ver­meintlich stabilen Koordinaten und institutionellen Eckpunkte deutscher Außen- und Sicherheitspolitik sind nicht mehr ohne weiteres als gegeben voraus­zusetzen. Dass wechselseitiger Vertrauensverlust und eine oft gegensätzliche Wahrnehmung von Konflikten das Ziel einer regelbasierten internationalen Ord­nung untergraben, ist inzwischen zu einer neuen Rahmenbedingung der Weltpolitik geworden.

Dieser Wandel spiegelt sich auch in Forschung und Politikberatung der SWP während der 15 Jahre wider, in denen Volker Perthes das Institut geleitet hat. Um der neuen Komplexität gerecht zu werden, verlangte er von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht nur profunde Sachkenntnis. Gefragt war zudem, den Blick auf Akteure und Entwicklungen zu weiten, die politische Entscheider nicht »auf dem Zettel« haben oder routiniert ausblenden. Nur in einer sol­chen Kombination entsteht das Verständnis für außen­politische Wendungen und Weichenstellungen, die es sichtbar zu machen oder einzufordern gilt. Ziel muss sein, aus verpassten Chancen zu lernen, Pfadabhängigkeiten zu erkennen und gegebenenfalls Alterna­tiven aufzuzeigen.

Dieser Aufgabe sind auch die Beiträge der vorliegenden Studie verpflichtet. Sie behandeln Krisenlandschaften und Fragen der Weltordnung aus unterschied­licher Perspektive von Wissenschaft und Politik. Ver­fasst haben sie Freunde, Wegbegleiter, Kolleginnen und Kollegen von Volker Perthes zum Ende seiner Tätigkeit als Direktor der SWP.

Barbara Lippert / Günther Maihold

Wissenschaftlichkeit, Unabhängigkeit, Multiperspektivität. Internationale Beziehungen, SWP und Volker Perthes seit 2005

Stefan Mair

2005–2010: Die Welt gerät in Unordnung

Als Volker Perthes im Oktober 2005 sein Amt als Direktor der SWP antrat, schien die Welt noch in Ord­nung – »schien« aus heutiger Sicht. Denn das trans­atlantische Verhältnis galt auch damals schon als stark belastet. Deutschland und Frankreich hatten sich geweigert, am Irak-Krieg teilzunehmen, und deutliche Zweifel an der Legitimität und Sinnhaftig­keit des militärischen Vorgehens geäußert. Die EU wirkte gespalten zwischen einem »alten« und einem »neuen« Europa. Letzteres rekrutierte sich vor allem aus den acht mittel- und osteuropäischen bzw. balti­schen Staaten, die 2004 der EU beigetreten waren.

Wenn allerdings aus heutiger Sicht etwas in Ordnung schien, so war es die ungebrochene Hoffnung auf eine bessere Welt. Die EU-Erweiterung, so wurde erwartet, würde die im Kalten Krieg angelegte Spal­tung des Kontinents endgültig überwinden, Russland würde seinen Platz in einem friedlichen und stabilen Europa finden, China nach dem Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) vier Jahre zuvor seine wirt­schaftlichen und auch politischen Reformen weiter vorantreiben. Letztlich würden sich liberale, west­liche Werte universal durchsetzen: Menschenrechte, bürgerliche Freiheiten, Rechtsstaatlichkeit, Demo­kratie und Marktwirtschaft. Im Rahmen der herauf­ziehenden Weltordnung könnten sich mittel- bis lang­fristig auch Terrorismus, Staatszerfall und Groß­kon­flikte im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika überwinden lassen. Überdies begannen im Oktober 2005 in Deutschland die Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD, die am Ende zur Wahl einer frischen, jungen Politikerin als Bundeskanzlerin an der Spitze einer handlungsfähigen und breit legitimierten Großen Koalition führen sollten.

Schon bald erwies sich ein wesentlicher Teil der außenpolitischen Hoffnungen als Illusion. 2007 ver­deutlichte der russische Präsident Wladimir Putin mit einer vielbeachteten Rede auf der Münchner Sicher­heitskonferenz, dass sein Land sich durch die Nato-Osterweiterung in der Defensive und zunehmend marginalisiert sehe. Diesen Worten folgten im August 2008 Taten, als der Kreml eine militärische »Provokation« Georgiens nutzte, um in der Kaukasusrepublik zu intervenieren. Sechs Monate zuvor hatte die Un­abhängigkeitserklärung des Kosovo die europäische Einheit großen Belastungen ausgesetzt. Auch die nationalkonservative Regierung in Polen mit ihrem europa- und deutschlandkritischen Kurs stellte das europäische Integrationsprojekt vor erhebliche Heraus­forderungen. Der Libanon-Krieg 2006 und die bewaff­nete Auseinandersetzung zwischen Israel und der Hamas 2008/2009 riefen in Erinnerung, dass auch der Nahostkonflikt immer wieder militärisch eskalieren konnte.

Überschattet wurden all diese politischen Ereignisse jedoch von der Finanzmarktkrise 2007/2008. Was als Pleite einer amerikanischen Bank begann, ließ zunächst die US-Immobilienblase platzen, stürzte dann fast den gesamten internationalen Banken­sektor in die Krise und resultierte schließlich in einer Überschuldung nationaler Haushalte, die wiederum die sogenannte Eurokrise auslöste. Politisch hatte diese Krisenkaskade mehrfache Folgen. Sie unter­minierte das Vertrauen in die marktwirtschaftliche Ordnung, befeuerte international die Kapitalismuskritik und brachte den meisten westlichen Regierungen den Vorwurf ein, blind dem Mantra von Deregu­lierung und schlankem Staat gefolgt zu sein. Sie beförderte den weltpolitischen Aufstieg Chinas, das durch massive Interventionen erheblich zur Stabilisierung der globalen Wirtschaft beitrug und mehr denn je überzeugt war, dass sein Weg staatlich kon­trollierter und gesteuerter Ökonomie jenem der west­lichen Marktwirtschaft überlegen sei. Und sie trieb Deutschland innerhalb der EU immer mehr in eine Führungsrolle, weil seine wirtschaftliche Stärke als essentiell erschien, um die Finanzmarktkrise auf europäischer Ebene zu bewältigen. Ein Hoffnungsschimmer zeigte sich gegen Ende der Fünf-Jahres-Periode. Mit Barack Obama wurde im Januar 2009 der erste Präsident mit afroamerikanischen Wurzeln vereidigt. Ihm wurde zugetraut, die gesellschaftliche Polarisierung in den USA abzumildern und Fort­schritte bei der Befriedung internationaler Konfliktherde zu erzielen.

Von Beginn an war es Volker Perthes ein zentrales Anliegen, das transatlantische Verhältnis zu revitalisieren.

Blickt man auf die Schriftenreihen der SWP, lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass all diese Ent­wicklungen auch in der Forschungsarbeit des Hauses deutlichen Niederschlag gefunden haben. Vier The­mengebiete, die sich erst in den Folgejahren stärker abzuzeichnen begannen, ragen dabei besonders her­aus. Die SWP befasste sich schon sehr frühzeitig mit der internationalen Handlungsfähigkeit der EU, den weltpolitischen Folgen von Chinas Aufstieg, dem heraufziehenden Spannungsverhältnis zu den USA und den politischen Verhärtungen in Putins Russ­land. Ein weiterer Akzent lag auf den zahlreichen militärischen Konflikten und der Rolle der Bundeswehr bei deren Beilegung bzw. in friedenserhaltenden Einsätzen.

Zwei größere Projekte lenkten Aufmerksamkeit auf Themen, die für umfassende Wandlungsprozesse standen. Das Projekt »States at Risk«, das 2006 in eine Buchpublikation mündete, befasste sich mit Struktur­veränderungen auf nationaler und regionaler Ebene, indem es Fälle von fragiler Staatlichkeit in den Fokus nahm.1 Es bot Antworten auf die Fragen, welche Rolle Deutschland und die EU bei der Stabilisierung solcher Staaten spielen können und wo Prioritäten des Enga­gements zu setzen sind. Das zweite Projekt fand 2009 seinen Abschluss: Unter dem Titel »Neue Führungsmächte« analysierte es die internationale und regio­nale Rolle aufstrebender bzw. wiederkehrender Mächte – darunter Brasilien, Indien, China und Russ­land.2 Welche von ihnen wären als Partner für deut­sche und europäische Außenpolitik geeignet, wie würde dabei Deutschland aber auch führen können?

Die dominanten internationalen Themen von Okto­ber 2005 bis Oktober 2009 fanden aber nicht nur in SWP-Publikationen ihren Niederschlag. Volker Perthes hatte von Anfang an deutlich gemacht, dass für ihn die Wiederbelebung des transatlantischen Verhältnisses ein zentrales Anliegen ist. Es gelang ihm mit finanzieller Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung und des Marie Curie Action COFUND der EU, ein transatlantisches Austauschprogramm mit dem schönen Namen TAPIR aufzulegen: Transatlantic Post-Doc for International Relations and Security. Bis es im Jahr 2020 auslief, gab das Programm 51 Post-Dok­to­randen die Gelegenheit, über zwei Jahre hinweg an drei verschiedenen Thinktanks und Forschungsinstituten beiderseits des Atlantiks zu arbeiten,3 Erfahrun­gen zu sammeln und sich für anspruchsvolle Auf­gaben in Wissenschaft und Politik zu qualifizieren.

Die Rolle neuer Führungsmächte, der Aufstieg Chinas und die erhöhten Anforderungen an die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU schlugen sich auch in zwei neuen Beratungs- und Veranstaltungsformaten nieder. Mit BRICS (Bra­silien, Russland, Indien, China und Südafrika) und IBSA (Indien, Brasilien und Südafrika) hatten sich zwei Ländergruppen herausgebildet, die für Deutschland die Frage aufwarfen, wie es sich mit demokratisch verfassten und ähnlich gesinnten neuen Füh­rungsmächten über internationale Fragen abstimmen würde. Heraus kam GIBSA (Deutschland bzw. Ger­many, Indien, Brasilien und Südafrika), ein Quadrilog zwischen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, den im jährlichen Wechsel jeweils ein Institut aus einem der vier Länder organisiert. Der Austausch startete 2007 in der SWP und befindet sich mittlerweile in seiner vierten Runde. GIBSA ergänzt damit den be­reits lange etablierten Quadrilog zwischen der RAND Corporation (USA), Ifri (Frankreich), Chatham House (Großbritannien) und SWP. Zur GASP (engl. Common Foreign and Security Policy, CSFP) entstand als Ver­anstaltungsrahmen die jährliche CSFP Review, die zum ersten Mal 2008 in Berlin durchgeführt wurde. Der stetig wachsenden Bedeutung der EU für Deutsch­lands internationales Handeln trug die SWP schließlich auch dadurch Rechnung, dass sie im Jahr 2009 ihr Brüsseler Büro eröffnete.

Volker Perthes selbst fand in seiner ersten Amts­periode noch Zeit, sich in zwei Buchprojekten mit dem ursprünglichen Gegenstand seiner wissenschaftlichen Arbeit auseinanderzusetzen, dem Nahen und Mittleren Osten. Mit den »Orientalischen Prome­naden« publizierte er durchaus feuilletonistisch an­gelegte Betrachtungen und Einblicke, die sich aus 20 Jahren Forschung und Reisen in der Region erge­ben hatten.4 Das Buch »Iran – Eine politische Her­ausforderung« beschäftigte sich mit einem Staat, der in Volker Perthes’ zweiter Amtszeit zum Modellfall gelungener plurilateraler Vereinbarungen und in seiner dritten zu einem weiteren Zankapfel des trans­atlantischen Verhältnisses werden sollte.5

2010–2015: Neue Machtgefüge entstehen

Der Beginn von Volker Perthes’ zweiter Amtszeit stand ganz im Zeichen der Eurokrise, genauer: der Verschuldungskrise einiger Eurostaaten. Griechenland war 2010 das erste dieser Länder, die ihre Staats­schulden ohne äußere Hilfe nicht mehr bedienen konnten. Es folgten Irland, Portugal, Italien und Spa­nien. Schnell wurde deutlich, dass die Länder ohne massive Stützungsmaßnahmen seitens der EU in die Zahlungsunfähigkeit rutschen würden – auf dem Spiel stand damit das Fortbestehen des Euro als Gemeinschaftswährung und zentrales Integrationsprojekt. Ebenso unverkennbar war, dass die notwendigen Stabilisierungsmaßnahmen eine Führungsrolle Deutschlands erfordern würden. Nur mit seiner Wirt­schaftskraft konnten Sicherungsmaßnahmen so weit finanziell unterfüttert werden, dass sie auf den inter­nationalen Kapitalmärkten glaubwürdig wären. Diese Konstellation löste zweierlei aus. Zum einen ent­brannte in Deutschland eine Debatte darüber, welche Verantwortung und welche Kosten die Bundesrepu­blik übernehmen sollte, um das europäische Integra­tionsprojekt zu sichern und Krisenländer zu stabilisieren. Zum anderen sorgte die Art, wie Deutschland seine Führungsrolle ausfüllte, für schwere Spannungen innerhalb der EU. Die Bundesregierung widersetzte sich einer Vergemeinschaftung von Schulden, band Solidarität an Verantwortung und beharrte auf schmerzhaften Reformen bei den Empfängern. Vor allem in den südlichen Mitgliedstaaten ließ dies über­wunden geglaubte, tatsächlich aber nur überlagerte Ressentiments erneut zu Tage treten.

2011 sorgte eine Region für positive Schlagzeilen, die bis dahin eigentlich vor allem durch negative aufgefallen war. In Tunesien begann der Arabische Frühling, der binnen weniger Monate große Teile des Nahen und Mittleren Ostens erfasste. Massenproteste führten in Tunesien und Ägypten zum Ende autori­tärer Regime und zu demokratischen Wahlen, in Libyen, Jemen und Syrien zeitigten sie allerdings ganz andere Folgen. Das Regime Muammar al-Gaddafis konnte nur durch militärische Gewalt gestürzt wer­den. Als Libyens Alleinherrscher später ermordet wurde, war dies der Auftakt für Staatszerfall und die Herausbildung einer Kriegsökonomie im Land. Ein ähnliches Ergebnis hatten die Rebellion der Huthi im Jemen und das dortige Eingreifen der Regionalmächte Saudi-Arabien und Iran. In Syrien führte die gewalt­same Niederschlagung der Massenproteste zu einem Bürgerkrieg, der mit ungewöhnlicher Brutalität geführt wird und das Eingreifen unterschiedlichster staatlicher und nichtstaatlicher Kräfte provozierte. Da zeitgleich die irakische Regierung den Zugriff auf weite Gebiete im Westen des Landes verlor, konnte sich im Grenzraum zwischen Irak und Syrien ein Unikum der neueren Weltgeschichte etablieren. Die Terrorgruppe »Islamischer Staat« rief dort ein Kalifat aus, das nicht nur auf dem Papier bestand, sondern tatsächliche territoriale Kontrolle ausübte. Hier geht schon fast als Randnotiz unter, dass in Ägypten das demokratische Zwischenspiel bereits 2013 wieder ein Ende fand.

Auf der Weltbühne sorgten drei Staatsmänner für Aufsehen. Der 2009 inaugurierte US-Präsident Obama schien entschlossen, die internationale Rolle seines Landes neu zu definieren. Das hieß: kein verringertes Maß an globaler Verantwortung, aber ein deutlich reduziertes Gewicht militärischer Mittel bei deren Wahrnehmung; eine Relativierung, wenngleich kein Ende der Unterstützung von autoritären Regimen; verstärkte Hinwendung zum asiatischen Raum; und Einsatz von Freihandelsabkommen, um einzelne Regionen wirtschaftlich an die USA zu binden. Prä­sident Putin setzte seine Politik russischer Selbst­behauptung in der ersten Hälfte der Zehnerjahre mit noch mehr Nachdruck fort. Über eine neue Großmachtrolle Russlands, vor allem im Nahen Osten, sollte Putins zunehmend autoritäre Herrschaft legiti­miert, durch Destabilisierung von Reformländern in der Nachbarschaft das Übergreifen demokratischer Protestbewegungen verhindert werden. Die Annexion der Krim durch Russland und dessen militärisches Vorgehen in der Ostukraine zerstörten 2014 die letz­ten Hoffnungen auf eine dauerhafte, allseits respek­tierte Friedensordnung für Europa. Der Auftritt einer dritten Person in der Weltpolitik erregte zunächst weniger Aufmerksamkeit: Xi Jinping wurde 2012 zum Vorsitzenden der KP Chinas und ein Jahr später zum chinesischen Staatspräsidenten gewählt. Anfangs galt er als ein weiterer Reformer, der dem wirtschaftlichen und politischen Wandel in der Volksrepublik durch entschlossene Korruptionsbekämpfung zusätzliche Kraft verleihen würde. Nach einer Weile zeigte sich, dass seine beiden eigentlichen Ziele andere waren. Es ging ihm darum, die Kontrolle der KP über Chinas Wirtschaft und Gesellschaft zu stärken und den inter­nationalen Einfluss des Landes deutlich auszubauen.

Die Foresight-Reihe der SWP – eine Konsequenz aus Krisen, mit denen keiner gerechnet hatte.

Das Ende von Volker Perthes’ zweiter Amtszeit wurde wie deren Beginn durch eine europäische Krise überschattet. Die zunehmend desolate Lage in den Flüchtlingslagern an der türkisch-syrischen Grenze löste 2015 eine Flüchtlingsbewegung aus, die sich durch Südosteuropa zog und im Wesentlichen in Deutschland endete. Binnen weniger Monate fanden rund eine Million Menschen Aufnahme in der Bun­desrepublik. Dies verursachte nicht nur eine heftige innenpolitische Debatte, sondern auch einen massi­ven innereuropäischen Streit über Lastenverteilung, Solidarität und Verantwortung. Im Zuge dieser Kon­troverse wurde das Schengen-System durch wiedereingeführte Grenzkontrollen massiv beschädigt, und in vielen Mitgliedsländern gewannen rechtspopulis­tische Kräfte an Auftrieb.

Die Weltpolitik war in den Jahren von 2010 bis 2015 sichtlich in Bewegung – und damit auch die Gefahr für die SWP groß, zum Getriebenen allein tages­aktueller Ereignisse zu werden. Um dem zu begegnen, setzte das Haus immer wieder eigene, per­spektivisch über die unmittelbare Krisenlage hin­ausreichende Akzente. Fünf Themenfelder und eine methodische Innovation verdienen hier besondere Hervorhebung. Trotz oder gerade wegen der Enttäuschung über die Ergebnisse des Weltklimagipfels 2009 in Kopenhagen verstärkte die SWP ihre Forschungs­arbeit zu dieser globalen Herausforderung. Deutlich ausgebaut wurde auch ihre wissenschaftliche Kom­petenz in den Bereichen Rohstoff- und Energieversor­gung sowie Verknappung von Wasser und landwirtschaftlichen Nutzflächen – Themen, die in den näch­sten Jahren weiter an Bedeutung gewin­nen sollten. Lange vor der Flüchtlingskrise 2015 stärkte die SWP das Forschungsfeld der Migration, das sich seitdem zu einem umfassenden Programm entwickelt hat. Die Analyse des internationalen Terrorismus ging früh­zeitig über den einst dominierenden Fokus Naher und Mittler Osten hinaus; behandelt wurde hier ebenso die Ausweitung des Jihadismus auf Zentralasien und Afrika. Und schließlich erfasste die sicherheits­politische Forschung zwei Betätigungsfelder, die in den Folgejahren sehr viel Aufmerksamkeit erhalten sollten: Cyber-Sicherheit und die militärische Nutzung des Weltraums.

Die methodische Innovation war Folge eines weit­verbreiteten Unbehagens nach Ausbruch der Finanz­marktkrise. Weshalb waren so vielen Experten die Vorzeichen dieser Krise verborgen geblieben bzw. warum war es jenen, die sie erkannt hatten, nicht gelungen, politische Entscheidungsträger rechtzeitig zum Handeln zu bewegen? Für die SWP war die Schlussfolgerung offensichtlich: sich mehr mit dem Ungeplanten, auch dem Unwahrscheinlichen zu beschäftigen, mehr in Kapazitäten der strategischen Vorausschau zu investieren. So entstand die Foresight-Reihe, die bis heute fortgesetzt wird. Es geht hier um einen Prozess, bei dem Zukunftsszenarien erdacht und analysiert werden, um die Politik früh­zeitig auf mögliche Ereignisse aufmerksam zu machen. Den Auftakt bildete 2011 die Studie »Un­geplant ist der Normalfall«,6 der weitere folgen soll­ten. Noch ein Projekt ist hervorzuheben: Zusammen mit dem German Marshall Fund of the United States (GMF) veranstaltete die SWP 2013/14 eine Serie von Workshops unter dem Titel »Neue Macht, neue Ver­antwortung«. Beteiligt daran waren zahlreiche Exper­ten der internationalen Beziehungen ebenso wie politische Praktiker. Gemeinsam wurden Empfehlungen erarbeitet, was Deutschland mit der Macht an­fangen sollte, die ihm durch die Finanzmarkt- und Eurokrise neu zugewachsen war, und wie es seiner Verantwortung für die Bewältigung internationaler Herausforderungen gerecht werden könnte.7

Auch ihr internationales Netzwerk konnte die SWP in der ersten Hälfte der Zehnerjahre weiter­entwickeln. Angesichts der wichtigen Rolle, die die G20 beim Umgang mit der Finanzmarktkrise gespielt hatte, wurde diesem Club nun vielfach zugetraut, als neue Ordnungskraft zur Überwindung internationaler Probleme wirken und die Schwäche multilateraler Organisationen ausgleichen zu können. Übersehen wurde dabei, wie sehr die Heterogenität der Gruppe und die Willkürlichkeit ihrer Zusammensetzung einem solchen Anspruch entgegenstanden. Die SWP indes schloss sich nicht dem Hype der heraufziehenden B-, L-, Y-, W-, T- und C20-Formate an. Vielmehr setzte sie auf die Stärke von Clubs der Gleich- oder zumindest Ähnlichgesinnten, indem sie 2012 den Council of Councils mitbegründete, dem weltweit mittlerweile 28 renommierte Thinktanks angehören.

Für Volker Perthes muss seine zweite Amtszeit eine schwierige gewesen sein. Jeder, der ihm begeg­net, wird ihn als nüchternen, sehr realitätsbezogenen Analysten kennenlernen. Aber selbst mit dieser Grund­ausstattung können ihn die Ereignisse im Nahen und Mittleren Osten, die Erwartungen, die der Arabische Frühling geweckt hatte, und die Enttäuschung über dessen weiteren Verlauf nicht unberührt gelassen haben. Zwei Publikationen markieren seine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Hoffnung und Desillusionierung: 2011 erschien das Buch »Der Auf­stand. Die arabische Revolution und ihre Folgen«,8 2015 der Essay »Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen«.9 Wie sehr ihn dieses Ende noch in seiner dritten Amtszeit beschäftigen sollte, war zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar.

2015–2020: Die Krise der liberalen Erzählung

Neben der Frage des richtigen Umgangs mit der Flüchtlingsbewegung infolge des Syrien-Kriegs präg­ten 2015 bis 2017 schwere Terroranschläge die poli­tischen Debatten in Europa. Die Attentate von Paris, Brüssel, Nizza, Berlin, London, Manchester und Barce­lona erhöhten das Gefühl der Unsicherheit und schür­ten Überfremdungsängste. Links- wie Rechtspopulis­ten verschärften ihre Kritik an »Europa«. Brüssel wur­den Hegemoniestreben und die Einschränkung, gar Unterdrückung nationaler Souveränität vorgeworfen. Zugleich nutzten die von populistischen Kräften dominierten Regierungen in Polen und Ungarn ihre Macht, um Rechtsstaatlichkeit und demokratische Prin­zipien zu schwächen, was wiederum vehemente Kri­tik seitens der europäischen Institutionen hervorrief.

Die beiden lautesten Paukenschläge erfolgten 2016. Den meisten Prognosen und Erwartungen zuwider stimmte im Juni des Jahres eine Mehrheit der briti­schen Wähler für den Brexit – den Ausstieg ihres Landes aus der EU. Im Slogan der Brexiteers »take back control« spiegelte sich eine Mischung aus Xeno­phobie, Furcht vor einem alles regulierenden Moloch Brüssel und Sorge um mangelnde demokratische Kon­trolle europäischer Entscheidungen. Das Referendum stürzte einen der größten und handlungsfähigsten Staaten Europas in die innenpolitische Dauerkrise. Es paralysierte zeitweise aber auch die EU, der es schwer­fiel, neben den zähen Auseinandersetzungen mit Lon­don die Kraft für ihre eigene Wei­terentwicklung auf­zubringen. Die politischen Folgen des Brexit doku­men­tierten aber auch die Stärken der Europäischen Union: Entgegen zahlreichen Befürchtungen haben die EU-27 sich in den Verhandlungen bisher nicht auseinanderdividieren lassen, sondern an einer ko­hä­renten Strategie festgehalten. Auch ist bisher kein weiteres Mitgliedsland dem britischen Beispiel gefolgt.

Der zweite Paukenschlag kam im November 2016: Donald Trump gewann die Präsidentschaftswahl in den USA. Mit seiner Rede zum Amtsantritt wurde klar, dass alle Befürchtungen, die er im Wahlkampf geweckt hatte, mehr als berechtigt waren. Trump rechnete mit seinen Amtsvorgängern ab, zeichnete das Zerrbild eines desolaten, von Freund und Feind ausgenutzten Amerika und verweigerte die Verantwortung für internationale Entwicklungen. Später drohte er gar damit, die USA würden Nato und WTO verlassen und Handelskriege führen. Einer seiner ersten außenpolitischen Schritte bestand darin, das international verhandelte Iran-Abkommen aufzukün­digen und neue VN-widrige Sanktionen gegen das Land zu verhängen. Es folgten Strafzölle gegen die europäischen Alliierten und ein eskalierender Han­delskonflikt mit China. Für Europa und Deutschland wurde überdeutlich, dass sie sich auf den bisher wich­tigsten Verbündeten immer weniger würden verlas­sen können. Allerdings waren auch hier die Schlussfolgerungen unterschiedlich. Polen und die baltischen Staaten suchten aus Sorge über ein immer offensiver und aggressiver agierendes Russland den engen Schul­terschluss mit den USA, Deutschland und Frank­reich forcierten das Nachdenken über mehr strate­gische Souveränität Europas.

Eine Reihe weiterer europäischer Staaten schien einen dritten Weg einzuschlagen. Sie akzeptierten das chinesische Angebot von Sonderbeziehungen im Rahmen des Formats 16+1 und schlossen sich Pekings im Jahr 2013 gestarteten Prestigeprojekt »Belt and Road Initiative« (BRI) an. Zunächst wurde die BRI von ihren Protagonisten als Instrument uneigennütziger Entwicklungshilfe dargestellt, von Kritikern wieder­um als Mittel zur Externalisierung chinesischer Pro­duktionsüberkapazitäten und als Neuetikettierung altbekannter Vorhaben abgetan. Immer mehr indes entpuppte sich die Initiative als geoökonomische und geopolitische Großstrategie mit dem Ziel, wirtschaftliche Abhängigkeiten zu schaffen und politischen Einfluss auszuüben. Zudem signalisierte die BRI den globalen Gestaltungswillen und Machtanspruch Chinas, was wiederum in den USA die Wahrnehmung forcierte, man stehe drei Jahrzehnte nach Ende des Ost-West-Konflikts in einer neuen Auseinandersetzung um politische und militärische Vorherrschaft. Anders als damals findet dieses Ringen derzeit vor allem auf wirtschaftlicher und technologischer Ebene statt – in Form des amerikanisch-chinesischen Han­delskonflikts und der Bemühungen Washingtons, China aus der Weltwirtschaft zu entkoppeln. Dies erhöht den Druck auf Europa, entweder Gefolgschaft gegenüber den USA zu leisten oder stark genug zu werden, um eine Wahl zwischen Amerika und China verweigern zu können.

Im Schatten der heraufziehenden Großmacht­rivalität schwelen kriegerische Auseinandersetzungen weiter, und gerade der Syrien-Konflikt findet immer neue Kontextualisierung. Mittlerweile hat er sich von einem vorwiegend innerstaatlichen Bürgerkrieg zum Schauplatz der Konkurrenz von Groß- und Regionalmächten entwickelt. Waren dabei zu Beginn vor allem Iran und die USA involviert, sind es nunmehr zuvorderst die Türkei und Russland. Das letztere Kon­kurrenzverhältnis hat mittlerweile auch den liby­schen Bürgerkrieg erfasst. Immer mehr rückt dort der Kampf um Öl- und Gasquellen in den Vordergrund – ein Konfliktfeld, dem auch Griechenland beitreten könnte, was den Streit um wirtschaftliche Nutzungszonen im Mittelmeer angeht. Großes Eskalations­potential zeichnet sich aus anderen Gründen für die dysfunktionalen Sahelstaaten ab, wenn es dort nicht gelingt, die militärischen und terroristischen Opera­tionen jihadistischer Gruppen einzudämmen.

Die strategische Autonomie Europas hat die SWP sehr viel klarer definiert, als es in Brüsseler Dokumenten geschah.

All dies rückte mit Beginn des Jahres 2020 völlig in den Hintergrund. Erwartete man im Januar und Februar noch, die Ausbreitung von Covid-19 ließe sich auf China begrenzen bzw. kontrollieren, so wur­den diese Hoffnungen im März zunichtegemacht, als die Infektionszahlen in Norditalien hochschnellten. Binnen weniger Wochen wurde fast jede Weltregion von der Pandemie erfasst, führten nahezu flächen­deckend verhängte »Lockdowns« zu beispiellosen Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens und zu enormen wirtschaftlichen Schäden. Bis Mitte des Jahres überstieg die Zahl der weltweit Infizierten 12 Millionen, die Zahl der Toten lag bei rund 560 000. Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt, dass 2020 die Weltwirtschaft um annähernd 5 Prozent schrumpfen wird; für die USA und die EU rechnet er gar mit fast zweistelligen Einbußen. Die Folgen in der internationalen Politik sind noch nicht abzusehen. Am plausibelsten ist die Prognose, dass die USA eine weitere Schwächung erfahren werden. China schien anfangs zu profitieren, weil es großzügig Hilfszusagen für besonders betroffene Staaten machte und sich wirtschaftlich relativ schnell erholte. Doch mittlerweile ist die Volksrepublik aufgrund ihrer Versuche, Ursprung und Verlauf der Pandemie umzudeuten, heftig in die Kritik geraten. In der EU führte die Corona-Krise anfänglich zum Rückfall in nationale Reflexe, dann aber zu einer bis dahin ungekannten Bereitschaft Deutschlands, gesamtschuldnerische Haftung zu übernehmen und das Führungsbündnis mit Frankreich wiederzubeleben.

Die Umbrüche in Europa und der Weltpolitik haben sich deutlich in der Arbeit der SWP nieder­geschlagen. Zahlreiche Studien und Aktuells widme­ten sich der Frage nach dem richtigen Umgang mit Großbritannien, den USA, China und Russland. Publikationen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus, zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr und zur Situation im Nahen Osten nahmen ebenfalls großen Raum ein. Seit Jahren arbeitet ein Team jun­ger internationaler Wissenschaftlerinnen und Wis­senschaftler zusammen, um die Rolle Israels im regio­nalen und globalen Umfeld zu analysieren. Seit 2019 unterhält die SWP das Centrum für angewandte Tür­keistudien (CATS), das mit Förderung des AA und der Stiftung Mercator dringend benötigtes Wissen zur Entwicklung des Landes generiert. Zudem traten weltwirtschaftliche und handelspolitische Themen institutsweit stärker in den Vordergrund, spiegelten die Analysen das wachsende Gewicht der Geoöko­nomie. Am Ende des hier betrachteten Fünf-Jahres-Zeitraums trug auch eine forschungspolitische Inves­tition Früchte, die lange zuvor getätigt worden war. Die SWP hatte gezielt Kompetenz in der internatio­nalen Gesundheitspolitik aufgebaut, was sie nun zum gefragten Ratgeber bei der politischen Bewältigung der Corona-Krise machte.

Vier weitere Entwicklungsstränge in der Forschungsarbeit zeichneten sich seit 2015 deutlich ab. Die SWP forcierte ihre Anstrengungen in der metho­dischen Weiterentwicklung und Anwendung der stra­tegischen Vorausschau; sie leistete mit zwei größeren Publikationsprojekten einen Beitrag zur Debatte, wie sich die internationale Ordnung neu strukturieren wird und welche Schlussfolgerungen daraus für die deutsche Diplomatie zu ziehen sind;10 sie wandte sich mit neuen Methoden und Präsentationsformen der Frage zu, welche spezifische Rolle urbane Räume als Foren politischer Auseinandersetzungen spielen;11 und sie stellte die jeweils zu Jahresbeginn veröffentlichten Ausblicke immer stärker in den Kontext einer übergreifenden Themenstellung. Mit dem Ausblick 2019 ließ sich auf diese Weise ein Akzent setzen, der im Folgenden die europäische Debatte wesentlich prägen sollte: Die SWP definierte den Begriff der stra­te­gischen Autonomie Europas sehr viel klarer, als dies bis dahin in Dokumenten der Europäischen Kommission geschehen war.12

Covid-19 wurde für die SWP nicht nur zur inhalt­lichen Herausforderung, sondern machte es auch erforderlich, Arbeitsprozesse und Veranstaltungs­formate anzupassen. Zahlreiche Webinare und virtu­elle Workshops wurden organisiert, der wissenschaft­liche Austausch verlagerte sich in den digitalen Raum. Hier zahlte sich die bereits 2019 vorgenommene Um­stellung auf mobiles Arbeiten aus.

Besonders bedauerlich aber ist, dass es Volker Perthes durch die Corona-Krise verwehrt bleibt, sich als Direktor der SWP unmittelbar persönlich von vielen seiner internationalen Weggefährten zu ver­abschieden, auch von Veranstaltungsreihen, die er mitgeprägt hat. Dabei verzeichnete die dritte Amts­zeit für ihn einen Höhepunkt – durch eine Berufung, in der seine Nahost-Erfahrung, seine Kenntnis internationaler Diplomatie und seine Fähigkeit, schwierige Abstimmungsprozesse zu moderieren und zu leiten, gleichsam kulminierten: 2015/2016 war Volker Perthes als Assistant Secretary General und Senior Advisor für den VN-Sonderbeauftragten für Syrien tätig, und von 2016 bis 2018 leitete er als Chair die sogenannte Ceasefire Task Force (CTF) der Inter­national Syria Support Group bei den Vereinten Nationen.

Abschluss 2005–2020: Aus der multilateralen Ordnung in die Großmächtekonkurrenz

Ein Schnelldurchlauf durch die letzten 15 Jahre internationaler Beziehungen hinterlässt prima vista vor allem den Eindruck großer Unordnung. Die EU scheint sich seit Beginn dieses Zeitraums in einer per­manenten Krise zu befinden: von der Finanzmarkt- über die Euro-, Migrations- und Brexit-Krise bis zur Corona-Krise. Das deutsch-französische Tandem hat an Einigkeit, Innovations- und Integrationskraft sowie Gefolgschaft eingebüßt. Mit der EU-Osterweiterung wurde die Teilung des Kontinents nicht unbedingt überwunden, vielmehr offenbarte sie auch, welch tiefe Spuren ein halbes Jahrhundert unterschiedlicher Entwicklung in Gesellschaft und Politik hinterlassen hat. Statt die Integration weiter vertiefen zu können, musste die EU den Austritt ihres drittgrößten Mit­gliedslandes hinnehmen. Europas Wohlstand wurde durch Finanzmarkt-, Euro- und Corona-Krise auf den Stand vor 2007 zurückgeworfen, die europäische Friedensordnung durch Russlands militärisches Vorgehen in Georgien und der Ukraine tief erschüttert. Schließlich hat das Erstarken des Populismus demonstriert, dass das liberale Modell von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz und Offenheit selbst an seinen historischen Ursprungsorten, in Europa und den USA, in Frage gestellt wird – und nicht nur dort: Breiten Zulauf haben Populisten auch in Zen­tral- und Südamerika.

Statt eines weiteren Ausbaus der multilateralen Weltordnung war deren fortschreitende Erosion zu beobachten. Institutionen wie VN, WTO, IWF, Welt­bank und – so wird man nach den Erfahrungen der Corona-Krise hinzufügen müssen – auch die Welt­gesundheitsorganisation (WHO) schaffen es nicht, sich zu reformieren und dadurch Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. Zudem fehlt der agent, der sich diese Aufgabe zu eigen machen würde. Die USA verweigerten sich schon unter George W. Bush und Obama einer solchen Rolle. Unter Trump wandelte sich Washingtons Haltung gegenüber multilateralen Organisationen von Vernachlässigung hin zu teil­weise offener Feindschaft. Die Aussichten der Welt­gemeinschaft, globaler Herausforderungen Herr zu werden, sind damit erheblich gesunken. Die Leer­stelle, die Amerika in den internationalen Beziehungen hinterlässt, kann und will China nicht füllen. Pekings Prioritäten scheinen woanders zu liegen – nach innen in der Stabilisierung und Perpetuierung der KP-Herrschaft, nach außen in der Schaffung poli­tischer wie wirtschaftlicher Abhängigkeiten.

Das Ende der Geschichte ist ausgeblieben, statt­dessen droht die Rückkehr weltweiter Großmächtekonkurrenz. Wie der amerikanisch-chinesische Han­delskonflikt, geostrategische Projekte wie BRI und die Diskussion um wirtschaftliche Entkopplung zeigen, wird diese Rivalität anders als im Kalten Krieg weni­ger mit militärischen und diplomatischen Mitteln ausgetragen als vielmehr mit ökonomischen und technologischen. Dies birgt für die EU eine Herausforderung und eine Chance. Die Herausforderung ist, nicht zum Objekt der Großmächtekonkurrenz zu werden, sich also nicht entscheiden zu müssen, ob man der einen oder der anderen Seite Gefolgschaft leistet. Die Chance liegt darin, dass der EU ein relati­ver Machtgewinn erwächst, wenn sich die Konkurrenz der Großmächte in den wirtschaftlichen Bereich verlagert. Noch immer ist die EU weit entfernt von einem gemeinschaftlichen diplomatischen Handeln und dem Aufbau militärischer Fähigkeiten. Dagegen hat sie einen großen Teil ihrer Außenwirtschafts­politik vergemeinschaftet, und mit dem Binnenmarkt verfügt sie – auch nach dem Brexit – über einen der größten und innovativsten Märkte der Welt. Wie sehr sie allerdings bereit ist, diese Ressourcen und Optio­nen strategisch zu nutzen, ist noch unklar.

Herausforderung und Chance bedeutet der rasante Wandel des internationalen Umfelds auch für die SWP. Sie steht vor der Herausforderung, neue Ent­wicklungen und Themen rechtzeitig zu erkennen und analytisch zu durchdringen, Debatten früh zu prägen, dabei aber nicht medialen Aufgeregtheiten zu verfallen und gängige Interpretationsmuster un­ge­prüft zu übernehmen, etwa das vom neuen Kalten Krieg. Ihre Fähigkeit, diesem Anspruch gerecht zu werden, hat die SWP in den vergangenen 15 Jahren bewiesen. Die große Chance für sie in Zeiten inter­nationaler Unordnung liegt darin, Orientierung für das außen- und sicherheitspolitische Handeln Deutschlands und der EU zu bieten.

Aber nicht nur die internationalen Beziehungen haben sich in den vergangenen 15 Jahren stark ver­ändert; dasselbe gilt für das unmittelbare Umfeld, in dem die SWP agiert. Deutschland ist neue Macht und Verantwortung zugewachsen, Brüssel ist immer wich­tiger, die transatlantischen Bindekräfte sind immer schwächer geworden. Gleichzeitig ist die Beratungslandschaft in Bewegung geraten. Neue Thinktanks haben sich in Berlin, Brüssel und andernorts etabliert; Beratungsunternehmen und Consultings wenden sich geostrategischen Fragen zu, und auch die Universi­täten legen mehr Wert auf den politischen Transfer ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse. Außen- und Sicherheitspolitik wird in der Öffentlichkeit breiter und kontroverser diskutiert, als das noch vor 15 Jah­ren der Fall war. Schließlich ist auch das Misstrauen gegenüber Expertenwissen und klassischen Medien gewachsen. Fake News und Bemühungen von Staaten oder politischen Gruppierungen, alternative, wenn nicht sogar verfälschte Narrative und Interpretations­muster zu schaffen, haben deutlich zugenommen.

Ein SWP-Büro in Washington könnte helfen, deutsche Sichtweisen frühzeitig in amerikanische Diskurse einzuspeisen.

Auch diesen Veränderungen muss sich die SWP stellen. Mehr denn je steht sie vor der Notwendigkeit, nicht nur ihr Profil als unabhängige, forschungs­basierte Institution zu wahren, sondern dieses auch aktiv in die Öffentlichkeit zu tragen. Größere institu­tionelle Sichtbarkeit der SWP ist kein Selbstzweck, sondern Mittel, um auch solche Adressaten zu errei­chen, die zwar außerhalb des klassischen Zielgruppenspektrums stehen, außenpolitische Debatten aber zu­nehmend mitgestalten. Lange Zeit wurde in Deutsch­land beklagt, es fehle an einer vielfältigen Politikbera­tungslandschaft. Umso mehr ist zu begrüßen, dass sich dies mittlerweile geändert hat. So entsteht auch ein fruchtbarer Wettbewerb um innovative Beratungs­formate, um kluge Köpfe sowie neue Formen und Gelegenheiten der Kooperation. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Art und Weise, in der Informationen aufbereitet und zur Verfügung gestellt werden.

In Zeiten neuer Macht sowie innereuropäischer und transatlantischer Spannungen wird es immer wichtiger, deutsche Außen- und Sicherheitspolitik der eigenen Öffentlichkeit, aber auch den Bündnispartnern zu erklären, sowie Fake News und Desinformation entgegenzutreten. Für Letzteres reichen diplo­matische Kanäle und public diplomacy allein nicht aus. Das Büro der SWP in Brüssel leistet hier einen wichti­gen Beitrag. Ein weiteres Auslandsbüro in Washington könnte helfen, deutsche Sichtweisen frühzeitig in amerikanische Thinktank-Diskurse einzuspeisen und außen- und sicherheitspolitische Debatten, die beim wichtigsten außereuropäischen Bündnispartner auf­keimen, rasch aufzugreifen.

Volker Perthes hat die SWP außerordentlich geprägt, nicht nur in seiner 15-jährigen Amtszeit als Direktor – der zweitlängsten nach jener von Grün­dungs­direktor Klaus Ritter –, sondern auch zuvor schon als Nahost-Experte, als Leiter der Berlin-Vertre­tung, die dem Umzug der SWP in die Hauptstadt vorausging, mit dem Projekt »Arabische Eliten« und als Forschungsgruppenleiter Naher/Mittlerer Osten und Afrika. Wissenschaftlichkeit, Multiperspektivität und Unabhängigkeit sind die drei zentralen Begriffe seiner Amtszeit. Volker Perthes übergibt seinem Nachfolger eine SWP, die alle Voraussetzungen er­füllt, um die sich stark wandelnden internationalen Beziehungen analytisch zu durchdringen und die Debatte darüber mitzugestalten, welche Rolle deut­sche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik in diesen Beziehungen spielen soll.

Deutsche und europäische Außenpolitik

Koordinaten deutscher Außenpolitik nach 1989

Thomas Bagger

Besatzung und Teilung, schrittweise Wiedergewinnung der Souveränität, Westbindung und Nato-Mitgliedschaft, Aussöhnung und Europäische Wirt­schaftsgemeinschaft, Frontstaat im Ost-West-Konflikt – so etwa stellte sich das Koordinatensystem für die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland bis 1989 dar. Am Horizont die Wiedervereinigung als Staatsziel im Provisorium Grundgesetz verankert. Deutsche Außenpolitik vor 1990 war bei weitem nicht so statisch, wie sie im Rückblick gern beschrieben wird. Auch die Bonner Republik musste grundlegende Richtungsentscheidungen in kontroversen Debatten erstreiten, von der Wiederbewaffnung über die Ost­politik bis zur Nachrüstung. Und doch geschah das in einem über Jahrzehnte vergleichsweise starren welt­politischen Korsett. Mit dem Fall der Berliner Mauer veränderte sich für Deutschland und Europa vieles, aber – wie sich aus dem Abstand von dreißig Jahren besser erkennen lässt – weltweit doch nicht alles.

Die Zäsur von 1989 und ihre Grenzen

Für das bald darauf vereinte Deutschland war 1989 der tiefste Einschnitt der Nachkriegsgeschichte, für den Westen, vor allem aber für den Osten des Landes. Der parallel sich vollziehende Zusammenbruch der Sowjetunion und die Befreiung Mittel- und Osteuropas aus Einparteienherrschaft und Staatswirtschaft weckten überschießende Hoffnungen und weit­reichende, ja globale Transformationserwartungen. Der besondere Charme der Entwicklung lag aus Sicht der Bonner Republik darin, dass das wiedervereinigte Deutschland nicht nur die Teilung friedlich zu über­winden vermocht hatte, sondern zugleich wie ein Sieger der Geschichte aussah: Wenn der Weg für alle Staaten und Völker unweigerlich auf parlamentarische Demokratie und (soziale) Marktwirtschaft hin­auslaufen musste, dann war man selbst doch schon am Ziel. Und wenn statt militärischer Macht nun wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und kulturelle Ausstrahlung, globale Vernetzung und zunehmende Verrechtlichung die Machtressourcen der Zukunft waren, dann war das zum bevölkerungsreichsten und stärksten Land des europäischen Kontinents herangewachsene Deutschland ausgezeichnet positioniert. Die Geschichte schien auf Deutschland zuzulaufen.1

Sieger sind selten neugierig. So nimmt es kaum wunder, dass die Warnzeichen nur widerwillig als solche wahrgenommen wurden. Die korrodierende Wirkung erst des »war of choice« der Bush-Adminis­tration gegen den Irak 2003, dann aber vor allem der von den USA ausgehenden globalen Finanzkrise 2008 wurde im Westen lange unterschätzt – und war doch eine treibende Kraft für die Neuorientierung Russlands und Chinas in den Jahren danach. Die »Arabellionen« von 20112 wurden in Deutschland nahezu unisono als »Arabisches 1989« interpretiert, selbst dann noch, als sie scheiterten. Erst mit Russ­lands Annexion der Krim Anfang 2014 wurde un­übersehbar, dass die Annahme einer allmählichen, aber doch zwingenden globalen Konvergenz die Phänomene und Entwicklungen der internationalen Politik nicht länger angemessen beschreiben und interpretieren konnte. Nicht nur Russland definierte seine eigene Zukunft seit Wladimir Putins Rückkehr in den Kreml 2012 zusehends in Abgrenzung vom Westen.3 Auch das rasant aufstrebende China schlug unter Xi Jinping von 2012 an einen Kurs ein, der wirtschaftliche Dynamik mit einer Erneuerung der Einparteienherrschaft und einer Einengung der indi­viduellen und zivilgesellschaftlichen Spielräume kombinierte und westliches Gedankengut explizit als unerwünscht zurückzudrängen suchte.4

Hinzu kam 2016 die Erschütterung des Westens in seinem Kern, den beiden alten angelsächsischen Demo­kratien, womit die wachsenden außenpolitischen Herausforderungen mit der noch grundsätzlicheren Frage nach der Zukunft der Demokratie westlichen Typs selbst verbunden wurden.

Navigieren durch Krisenlandschaften

Mit »America First« und »Brexit« geht es nicht länger »nur« um die globalen Transformationserwartungen deutscher Außenpolitik, sondern auch um die Funda­mente der deutschen Nachkriegsentwicklung: um die Zukunft der transatlantischen Partnerschaft und der europäischen Integration, und damit um den existen­tiellen Rahmen für Deutschlands Sicherheit und Wohlstand.

Die Welt war mit dem Wegfall des Ost-West-Kon­flikts schon 1990 unübersichtlicher geworden. Aber die optimistische Zukunftserwartung bot eine starke intellektuelle Klammer und schien die Richtung zu weisen und das Ziel zu markieren. Mit dem Verfliegen dieses Optimismus stellt sich angesichts von über­bordender Komplexität und Widersprüchlichkeit vielfach offene Ratlosigkeit ein.

In Zeiten solch grundlegender Verunsicherung und offensichtlicher tektonischer Machtverschiebungen wird der Ruf nach »umfassenden Strategien« gerade aus der politikberatenden Zunft noch lauter als gemeinhin. Gründliches Nachdenken, schonungslose Analyse und klare Definition der eigenen Interessen sollen in der Folge ein Gerüst bieten, an dem sich die tägliche außenpolitische Praxis orientieren kann, ja muss. Solche periodischen Übungen sind wertvolle Gelegenheiten, auch für die Politikberatung. Und doch dürfen sie in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden. Sie leisten einen Beitrag zur Selbstverständigung und zur Konsensbildung der außenpolitischen Klasse. Im Idealfall haben sie Einfluss auf Entscheidungen über Ressourcen und den »sense of purpose« einer Regierung. Aber nur in seltenen Fällen bestim­men sie konkrete politische Entscheidungen unter neuen, unvorhergesehenen Umständen.5 Volker Perthes hat als alternatives Konzept den Begriff des »Navigierens durch Krisenlandschaften« geprägt.6 Ein Bild, das eher an französisches Denken anknüpft – »fixer le cap«, den Kurs setzen, das Ziel bestimmen – als an amerikanische »can do«-Ansätze, die vom Glau­ben an isolierte Problemlösungen getragen sind und immer wieder unbeabsichtigte, aber folgenschwere Nebenwirkungen zeitigen.

Was aber bedeutet das Navigieren durch Krisenlandschaften für Deutschland heute? Es verlangt nicht nach einmal präzise festzulegenden Koordinaten deutscher Außenpolitik, die künftiges Handeln determinieren sollen, sondern nach einer ehrlichen Bestimmung der »Koordinaten« des eigenen Standorts. Nur damit lassen sich verlässlich Richtung und Entfernung zu einem politisch-normativ angestrebten Ziel bestimmen.

Die USA, Russland und China: Veränderte Koordinaten deutscher und europäischer Außenpolitik

Dieser eigene Standort ist heute für Deutschland deutlich schwieriger zu bestimmen als in vielen Jahr­zehnten deutscher Nachkriegsgeschichte. Viel­leicht liegt die größte Herausforderung darin, dass die Ver­einigten Staaten von Amerika, deren aufgeklärtem Eigeninteresse die Bundesrepublik der Nachkriegszeit ihre Sicherheit, ihren Wohlstand und einen Gutteil ihres geistigen und institutionellen Gefüges verdankte, nicht länger der archimedische Punkt sind für die Verortung Deutschlands in der Welt. Sie sind nicht mehr der Fels in der Brandung der Weltpolitik, mal scharfkantig, bisweilen abstoßend, aber doch un­verrückbar. Heute driften die USA selbst – und wer vermöchte zu sagen, wohin? Damit aber kann der Standort Deutschlands nicht länger allein durch Nähe oder Distanz zu diesem Fels hinreichend präzise bestimmt werden.

Es war ein Novum, als Deutschland in der Ukraine-Krise 2014 eine politisch-diplomatische Führungsrolle übernahm.

Zugleich taugt der zweite große Pfeiler der Außenpolitik bis 1989, die europäische Integration, nicht als Ersatz für eine verblassende oder erodierende trans­atlantische Bindung. Zu sehr sind innerer Zusammen­halt und Dynamik des europäischen Einigungsprozesses mit der materiellen, politischen und geistigen Präsenz der USA in Europa verbunden, zumal nach der großen Erweiterung von 2004. Gerade für viele Staaten und Gesellschaften Mittel- und Osteuropas bleibt die Sorge bestimmend, mit einem Kurs in Rich­tung strategischer Autonomie7 des Kontinents den Rückzug der USA herbeizuführen und ihn als selbst­erfüllende Prophezeiung wahrzumachen. In keiner anderen außen­politische Frage fallen etwa deutsche und polnische öffentliche Meinung so weit auseinander wie in der Einschätzung der Trump-Adminis­tra­tion: In Deutschland als Garant für die Mobilisierung lautstarker Empörung fungierend, sehen die Polen Donald Trump positiver als seinen Vorgänger Obama. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat die Konse­quenz der fortdauernden Bedeutung der US-Präsenz für Europa auf den denkbar kürzesten Nenner ge­bracht: »The EU cannot defend Europe.«8 So führt der Weg zu einer Stärkung Europas auch in außen- und sicherheitspolitischen Belangen einstweilen nur über die Stärkung des europäischen Pfeilers der Nato.

Besonders deutlich werden die unterschiedlichen Verortungen und Strategien der EU-Mitglieder an ihrem Umgang mit Russland. Seit seiner Rückkehr in den Kreml 2012 hat Staatspräsident Putin Russland rhetorisch wie politisch als Gegenentwurf zum Wes­ten positioniert. Der immer größer werdende Abstand zur Konvergenzerwartung in Berlin war mit der Annexion der Krim und dem kaum kaschierten Krieg in der Ostukraine nicht länger zu überbrücken. Die politisch-diplomatische Führungsrolle, die Deutschland damals übernahm, war ein Novum. Zur Über­raschung Moskaus sah Berlin seine Rolle nicht darin, eine Sonderbeziehung zu Russland aufrechtzuerhal­ten, sondern in der Artikulierung einer gemeinsamen EU-Haltung, die die ganz unterschiedlichen Traditionen, Interessen und Bedrohungswahrnehmungen der Mitgliedstaaten zu verbinden suchte.9 Das Ergebnis – Normandie-Prozess plus Sanktionsregime – hat geholfen, eine weitere Eskalation zu vermeiden. Doch bleibt sechs Jahre nach Ausbruch des offenen Kon­flikts eine Lösung in weiter Ferne, und die Position der Europäer ist starr und unflexibel geworden, weil sich Erwartungen und Interessen der EU-Staaten gegenseitig blockieren. Ob es Berlin gelingen kann, zwischen dem voluntaristischen Votum eines Emma­nuel Macron für einen Neustart mit Moskau und der essentialistisch gefärbten Ablehnung jeder engeren Beziehung mit Russland durch die PiS-Regierung in Warschau konstruktivere und vor allem konsens­fähige Impulse für das Verhältnis mit Moskau zu entwickeln, steht dahin. Ebenso wie die Bereitschaft des innerlich zusehends erstarrenden Regimes im Kreml, auf solche Avancen eine Antwort zu geben, die Russlands längerfristige Interessen ins Auge fasst und sich nicht allein aus Ressentiment, taktischem Kalkül und dem unbedingten Willen zur Erhaltung der eigenen Macht speist.

Denn es fällt nicht nur dem französischen Staatspräsidenten schwer zu glauben, dass Russland seine Zukunft auf Dauer in einer auf antiwestlichen Ab­wehrreflexen gegründeten Allianz mit dem zunehmend übermächtigen China sieht. Mit diesem China tut sich andererseits auch Berlin schwer. Verdankt die deutsche Wirtschaft doch dem beispiellosen ökonomischen Aufstieg des einstigen Reichs der Mitte gol­de­ne Jahre. Deutschland als Gewinner der Globalisierung – das war Anfang der 2000er kaum zu hoffen. Neben den einschneidenden, von der rot-grünen Regierung umgesetzten Reformen der »Agenda 2010« hat Chinas Modernisierungsschub daran den vielleicht größten Anteil. Die Erwartung, dass so viel Handel und Austausch auch politische Öffnung fördern würde, prägte den Blick der Kanzler Schröder wie Merkel auf China. Aber die zahllosen Stiftungen und Medien, Universitäten und Forscher, die nach Part­nern in China Ausschau halten, spüren seit 2012 ein Schrumpfen der Räume, die immer engmaschigere und immer konsequenter digitalisierte politische und soziale Kontrolle, mit der die Partei ihre Macht zu sichern sucht. China ist heute neben den USA Deutschlands wichtigster Handelspartner, aber eben auch wirtschaftlich-technologischer Konkurrent und ideologisch-gesellschaft­licher Widersacher. Auch wer das amerikanische Konzept des »decoupling« für falsch oder gar gefährlich hält, kann sich der Diskus­sion über die »Systemkonkurrenz« nicht mehr ent­ziehen.

Wie aber umgehen mit einem China, das für viele Länder der Welt wichtigster Wirtschaftspartner und dessen Mitwirken unverzichtbar ist, um die Menschheitsfrage des Klimawandels überzeugend beantworten zu können?10 Wird Berlin auch hier, wie 2014 gegenüber Russland, einen Weg suchen, Europa auf eine gemeinsame Position einzuschwören? Das große Rendezvous eines EU-China-Gipfels, wie es als Höhepunkt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft für September 2020 in Leipzig geplant war, wird der Corona-Krise zum Opfer fallen. Aber die Frage bleibt dennoch. Die Kosten des »Nicht-Europa« in der China­politik treten immer deutlicher zutage. Das gilt auch im transatlantischen Verhältnis. Es ist wohl kaum übertrieben, zu prognostizieren, dass Europas Ver­hältnis zu den USA immer stärker eine Funktion der amerikanischen Strategie gegenüber China sein wird.

Weiter sehen: Interessen- und Aktionsradius deutscher Außenpolitik

Abgesehen von der schwierigen Bestimmung der deutschen Position gegenüber den großen Akteuren der Weltpolitik hat sich die »Krisenlandschaft« in einem Grade ausdifferenziert, dass deutsche Außenpolitik in alle Richtungen gefordert ist. Große Genera­lisierungen helfen nicht mehr weiter. Innenpolitische Dynamiken und technologische Trends machen jede Region, ja jedes einzelne Land zu einer Herausforderung, ob man es als Krisenherd anzusehen hat oder als Partner für gemeinsames Handeln gewinnen will. Das vielfältige, vielschichtige Afrika und seine über 50 Staaten sind für die Zukunft Europas so viel mehr als nur Ursprungsorte von Migrationsbewegungen. Asien ist so viel mehr als China. Lateinamerika, einst Ausgangspunkt des von Alexander von Humboldt angehäuften »Weltwissens«, liegt heute weitgehend im Windschatten deutscher öffentlicher Aufmerksamkeit und kämpft wie keine andere Weltregion mit Dämonen wie gesellschaftlicher Spaltung und über­bordender Gewalt. Der Nahe Osten kommt seit dem unseligen Krieg im Irak nicht zur Ruhe. Religiöse Gegensätze, regionale Hegemoniebestrebungen, das Fehlen gesellschaftlicher Perspektiven, staatliche Repression und nun auch noch Stellvertreterkriege in Syrien und Libyen wirken unmittelbar auf Deutschland und Europa, ohne dass Berlin und Brüssel dem erratischen Handeln der USA oder dem destruktiven Agieren Moskaus bisher etwas Wirkungsvolles ent­gegenzusetzen hätten.

Zur gelingenden Verortung des eigenen Landes in der unübersichtlicher werdenden Welt braucht es vor allem mehr Neugier und mehr Realismus. Es braucht auch eine Wiederentdeckung von Raum und Zeit. Dass »America First« für die Vereinigten Staaten viel­fach »gelingen« kann, eine davon geleitete Politik in Europa aber verheerende Folgen hätte, hängt neben den militärischen, finanziellen und technologischen Machtressourcen eben auch mit der privilegierten geographischen Lage der USA zusammen. Und viel­leicht müssen wir den Gedanken zulassen, dass die islamische Revolution im Iran 1979 oder die wirt­schaftliche Öffnung Chinas durch Deng Xiaoping im selben Jahr geopolitisch und geoökonomisch für die Welt einen größeren Umsturz bewirkt haben als das Jahr 1989 – sosehr dieses für Deutschland und Europa eine glückliche Zäsur markiert.11

Einfacher als die eigenen Koordinaten lassen sich das Ziel und damit die grundsätzliche Richtung deut­scher Außenpolitik bestimmen. In negativer Hinsicht sind sie definiert durch die historisch und interessenpolitisch begründete Ablehnung einer von manchen als vermeintlich neue Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit propagierten Rückbesinnung auf ein eng verstandenes nationales Interesse. Dieses Denken droht aus Sicht der europäischen Zentralmacht Deutschland mehr Unheil anzurichten als »nur« die drohende Rückwendung zu einer als zerstö­rerisch erinnerten Vergangenheit. Es beschädigt eben auch jene Institutionen und Instrumente, die wir notwendig brauchen, um die großen Menschheits­fragen von morgen anzugehen, die in den Zielen der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung festgehalten sind.

Für Deutschland bleibt die Idee einer internationalen Gemeinschaft richtungsweisend. Sie ist zwar in vielen Aspekten mehr Aspiration als Wirklichkeit. Aber im neuen Zeitalter, in dem der Mensch die Lebensbedingungen des Pla­neten irreversibel verän­dert, bietet allein die Idee einer wirklich globalen Ordnung die Chance, überzeugende politische Ant­worten zu formulieren. Aus der Einsicht in die Her­ausforderungen des Anthropozän folgt konsequenter­weise das fortgesetzte Bemühen, eine übernatio­nale Rechtsordnung zu schaffen.12

Aber auch positiv lässt sich Deutschlands natio­nales Interesse heute, dreißig Jahre nachdem das Staats­ziel der Wiedervereinigung erreicht worden ist, bün­dig und präzise bestimmen. Es ist unverändert im Grundgesetz zu finden: »als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen«.

Normative Horizonte und notwendiger Realismus

Europa gilt Deutschlands elementarstes nationales Interesse. Das geeinte Europa ist der unabdingbare Rahmen für Deutschlands Selbstbehauptung in der Welt. Die europäische Integration bleibt 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zugleich die einzige gelungene Antwort auf die Herausforderungen deutscher Geschichte und Geographie. Scheitert das europäische Projekt, dann stehen die Lehren der deutschen Geschichte in Frage.13 Beides zusammengenommen macht Europa für Deutschland so existen­tiell wichtig. Erst in und durch Europa hat Deutschland das Schwanken zwischen enthemmter Macht­politik und kultureller Hybris überwunden. Um es mit der Mahnung des Bundespräsidenten noch ein­mal negativ zu wenden: »Unter allen Gefährdungen, die ich für Deutschland erkennen kann, sehe ich keine größere als die, dass unsere deutsche Erzählung von der Zukunft ohne das geeinte Europa auskommt. Ob aus mangelnder Einsicht, aus Gleichgültigkeit oder bei manchen vielleicht sogar aus Absicht.«14

Politik ohne Moral läuft Gefahr, zynisch zu werden. Aber Moral allein ist noch keine Politik.

Problematischer als die grundsätzliche Richtungsbestimmung ist der Umgang der Deutschen mit der Entfernung zu den definierten normativen Horizonten ihrer Außenpolitik. Die nach 1989 lange Jahre dominierende Konvergenzerwartung schien lediglich zur Geduld zu mahnen. Der Zielhorizont würde sich schon nähern. Diese Hoffnung ist verflogen. Aber auch wenn die Desillusionierung inzwischen einge­setzt hat, sind ihre Konsequenzen bisher kaum ver­innerlicht. Es fällt schwer, von der linearen Zukunfts­erwartung Abschied zu nehmen und die Zukunft als offen zu begreifen. Noch schwerer fällt es, die Univer­salisierung der deutschen historischen Erfahrung und der daraus gezogenen Lehren zu hinterfragen. Je stär­ker die Kräfte von Fragmentierung und Fragilisierung, je größer die Lücke zwischen der objektiven Notwendigkeit von »global governance«-Strukturen und ihrer tatsächlichen Erosion, desto mehr neigt deutsche Außenpolitik zum Appellativen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Weil wir zu lange den analytischen Blick und die normative Präferenz für ein und dasselbe gehalten haben. In der Welt des Jahres 2020 aber verringert der übermäßige Gebrauch des Appells nicht die Entfernung zum angestrebten Ziel, vielmehr verrät er vor allem die eigene Hilflosigkeit. Mehr noch: Das bloße Insistieren auf dem für sich selbst als richtig Erkannten setzt die Anschlussfähigkeit deut­scher Außenpolitik aufs Spiel. Es droht Selbstisolierung durch Selbstgerechtigkeit. Auch dafür bietet die jüngste sicherheitspolitische Debatte in Deutschland Anschauungsmaterial. Die Überfrachtung der deut­schen außenpolitischen Debatte mit zu viel Heils­erwartung beeinträchtigt aber nicht nur den Blick für die Grenzen der eigenen Möglichkeiten, sondern eben auch für die realen Gestaltungschancen, die innerhalb dieser Grenzen sehr wohl existieren: »Politik sollte sich auch der Erwartung widersetzen, nach und nach alle Krisen lösen zu können. Oft wird es viel­mehr um intelligentes Krisenmanagement gehen – oder darum, möglichst sicher durch die Krisenlandschaft zu navigieren.«15

Dabei geht es nicht um Werterelativismus oder die Preisgabe der Moral. Politik ohne Moral, Außenpolitik zumal, läuft Gefahr, zynisch zu werden. Aber Moral allein ist noch keine Politik. Es steht Europa und ins­besondere Deutschland gut an, der Welt weniger missionarisch entgegenzutreten. Das normative Pro­jekt einer Welt, das die Würde des Menschen zum Maßstab staatlichen Handelns macht, das die Stärke des Rechts über das Recht des Stärkeren stellt, das sollte als Aspiration dennoch weiter unseren Horizont bilden und die Richtung deutscher Außenpolitik bestimmen. »Selbstbewusst, nicht sendungsbewusst« sollte Deutschland dazu beitragen. Selbstbewusst, weil wir überzeugt sind, dass wir das richtige Ziel verfolgen. Aber realistisch mit Blick auf die Chancen der Verwirklichung, auf unsere Entfernung zum Ziel.

Politikberatung und aufgeklärte Außenpolitik

Außenpolitik wird, wie alle Politik, nicht allein auf der Basis von Sachverstand gemacht, und sei er noch so brillant. George F. Kennan, der wohl einflussreichste aller modernen Strategen, fragte sich nach der Zeit, die er 1947 und 1948 als Leiter des neuge­schaffenen Planungsstabs im US-Außenministerium verbracht hatte, ernüchtert »why so much attention was paid in certain instances […] to what I had to say, and so little in others«.16

Politikberatung kann dazu beitragen, der praktischen Vernunft so viel Gehör wie möglich zu verschaffen.

Stephen Krasner, zu Zeiten von Außenministerin Condoleezza Rice ein Nachfolger Kennans im Pla­nungsstab des State Department, reflektiert in einem theorie- und erfahrungsgesättigten Rückblick auf diese Jahre die Grenzen selbst guter Politikberatung.17 Sie muss flexibel und schnell genug sein, um das »policy window« zu nutzen, das Fenster der Gelegenheit, wenn sich in der Krise die Dinge verflüssigen und neu gestaltbar werden. Selbst wenn das gelingt, ist dieser »policy stream«, dem es um geeignete Schritte zur Konfliktlösung geht, aber nur ein Strang politischer Willensbildung und Entscheidungs­findung unter mehreren. Die Bewertung der Dring­lichkeit, die Prioritätensetzung, die Abwägung der Opportunitätskosten, all das bleibt Sache der Politik und ihrer demokratisch legitimierten Entscheidungsträger. Politikberatung kann nur immer wieder analy­sieren, plausibilisieren, begründen und sich dann aufs glatte Eis der Empfehlungen wagen. Tut sie das überzeugend, gedanklich wie sprachlich, so kann sie einen wertvollen Beitrag zur außenpolitischen Ent­scheidungsfindung leisten, indem sie neben Erwägungen von Wahltaktik und Mehrheitsfindung der praktischen Vernunft so viel Gehör wie möglich verschafft. Denn nur eine solchermaßen aufgeklärte Außenpolitik, die nicht allein kurzfristigen taktischen Erwägungen und innenpolitischen Determinanten gehorcht, vermag die Perzeptionen und Inter­essen anderer Akteure zu berücksichtigen und auf diesem Weg dem normativen Ziel einer friedlicheren, gerechteren Welt näherzukommen. Nur eine solche Politik, die den Blick über den eigenen Tellerrand hebt, wird es Deutschland ermöglichen, seiner wich­tigsten außenpolitischen Aufgabe dreißig Jahre nach Herstellung der deutschen Einheit gerecht zu werden: Europa zusammenzuhalten in einer Welt, in der keiner der anderen großen Akteure ein eigenes Inter­esse an einem starken Europa hat.

Europa wiederum steht es gut an, im heraufziehen­den Weltkonflikt zwischen den USA und China für sein eigenes Modell einer kooperativen Politik und einer regelbasierten internationalen Ordnung einzu­treten. Ein aktuelles und wegweisendes Beispiel ist die von der EU-Kommission initiierte Geberkonferenz am 4. Mai 2020 zur Förderung von Diagnostik und Therapien und der Entwicklung, Produktion und fai­ren Verteilung von Impfstoffen gegen Covid-19. Die Welt von morgen wird entscheidend prägen, ob es gelingt, diese weltweite Krise durch eine breite Zu­sammenarbeit mittels »globaler öffentlicher Güter« zu lösen, oder ob jeder Staat für sich und im Wettbewerb mit anderen seiner Schutzverpflichtung gegenüber den eigenen Bürgern nachzukommen versucht.18 Gelingt es Europa, seinen Ansatz zum Erfolg zu füh­ren, wird das weit über den Kontinent ausstrahlen und für viele potentielle Partner beispielgebend sein.

»Wie die Welt nach Corona aussieht, bleibt eine Frage politischer Gestaltung«.19 Entscheidende Para­meter der bevorstehenden Entwicklung sind deut­schem außenpolitischen Handeln entzogen, allen voran der Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen am 3. November, dessen Bedeutung kaum zu hoch ein­geschätzt werden kann. Anderes liegt als unmittel­bare Verantwortung vor Deutschlands Haustür und in Deutschlands Möglichkeiten. Manches spricht dafür, dass die wirkungsmächtigste Kraft des künftigen innereuropäischen Zusammenhalts die Einsicht aller EU-Mitgliedstaaten ist, dass sich die Sehnsucht nach einem schützenden Rahmen in der Welt von morgen nicht im nationalen Gefüge der europäischen Klein­staaten – einschließlich Deutschlands – stillen lässt. Es ist die Einsicht, dass die Verkürzung von Liefer­ketten, der Aufbau von Resilienz und Versorgungspuffern, die Relokalisierung eigener kritischer Fähig­keiten, die Bewahrung technologischer Innovationskraft und regulatorischer Wirkungsmacht nur in einer geeinten und starken Europäischen Union zu haben sind. Einer Union, die nur als wirtschaftliche und politische Einheit, als Raum gemeinsamer kultu­reller Ressourcen und als Rechtsgemeinschaft in der Lage sein wird, gegen den Druck einer geforderten binären weltpolitischen Entscheidung eigene Spiel­räume dafür zu erhalten, dass sie ihr Schicksal selbst gestalten kann, statt es lediglich zu erleiden.

Europäische Souveränität – Selbstbehauptung in unruhigen Zeiten

Miguel Berger

Eine Konstante in Volker Perthes’ Arbeit als Wissenschaftler, Berater und Kommentator internationaler Politik ist das Interesse an regionalen und globalen Ordnungsstrukturen, an deren Entstehung, Stabilisierung und Wandel. Das Beispiel Syrien, ein Land, dem Volker Perthes seit seinen ersten Feldforschungen in den 1980er Jahren bis zu seinem Wirken als Berater des Sondergesandten der Vereinten Nationen beson­ders eng verbunden ist, macht deutlich, welche Aus­wirkungen die Veränderung globaler Machtdynamiken auf die Stabilität ganzer Länder und Regionen hat. Unter Volker Perthes’ Leitung ist daher der Wan­del regionaler und globaler Ordnungsstrukturen und Mächtebalancen weit über den Nahen und Mittleren Osten hinaus zu einem zentralen Fokus der Stiftung Wissenschaft und Politik geworden. So hat die von der SWP vor einiger Zeit vorgelegte Studie zur stra­tegischen Rivalität zwischen den USA und China1 als neuem »Leitparadigma der internationalen Beziehungen« maßgebliche Anstöße für die strategische Dis­kussion in Politik und Fachöffentlichkeit geliefert. Hier wie auch bei anderen Debattenbeiträgen der SWP steht die Frage im Mittelpunkt, wie Europa sich in einer durch geopolitischen Wettstreit geprägten Weltlage behaupten und Impulse für die Beendigung von Konflikten in seiner direkten und erweiterten Nachbarschaft geben kann – Volker Perthes hat dafür den Begriff der »Krisenlandschaften« geprägt. Denn nur wenn Europa in der Lage ist, auf Herausforderungen in seiner unmittelbaren Umgebung effektiv und strategisch zu reagieren, wird es das Gewicht und die Glaubwürdigkeit erhalten, um seine eigenen Ordnungsvorstellungen auch global zur Gel­tung zu bringen und nicht Objekt der Politik anderer zu werden.

Zwischen Ordnungsverlust und Ordnungsstiftung: Europa auf dem Weg zur Gestaltungsmacht

Nicht nur im Hinblick auf die aktuellen Krisen in unserer Nachbarschaft, sondern auch angesichts drän­gender Herausforderungen wie der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie oder des Klimawandels, der Digi­talisierung oder der Gestaltung der internationalen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen stellt sich die Frage, wie Europa auf den Wandel der globalen Ord­nung der letzten Jahre reagieren soll. Insbesondere das seit der letzten US-Sicherheitsstrategie dominierende Paradigma der Großmächterivalität führt dazu, dass die Vereinigten Staaten als traditioneller Bünd­nispartner Europas ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf die Auseinandersetzung mit China und den stra­tegischen Raum Asien-Pazifik richten. China selbst setzt seine erheblichen Ressourcen und Machtmittel nicht allein in seiner unmittelbaren Nachbarschaft, in Afrika oder in Lateinamerika immer offener zur Verwirklichung eigener geopolitischen Ziele ein, son­dern zunehmend auch gegenüber Europa. Für Europa steht daher nicht weniger auf dem Spiel, als in der sich ausbildenden neuen Ordnung des 21. Jahrhun­derts Gestalter innerhalb eines regelgeleiteten inter­nationalen Systems zu bleiben. Es geht darum, ob Europa fähig ist, politische Prioritäten selbständig zu definieren und im Einklang mit seinen Werten und Interessen durchzusetzen.

Mit der »Globalen Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU«2 von 2016 hat Europa expli­zit den Anspruch formuliert, diese Herausforderung anzunehmen. Und nicht zuletzt im Nachgang zur Globalen Strategie und der darin artikulierten Ambi­tion, die eigenen Selbstbehauptungskräfte zu stärken, hat die Debatte über die passende Ausbuchstabierung dieses Vorhabens, über den Weg dorthin und über des­sen Reichweite und Ausgestaltung, deutlich an Fahrt aufgenommen. Doch viele Fragen sind bisher noch unbeantwortet. In welchen Bereichen soll die Euro­päische Union ihre Fähigkeiten prioritär stärken? Wel­che Folgen hat ein Ausbau der Kapazitäten auf Unionsebene für das Verhältnis zu den Mitglied­staaten und für deren »nationale Souveränität«? Wel­che Haltung nimmt ein unabhängigeres und selbst­bewuss­teres Europa gegenüber seinen tradi­tionellen Bündnispartnern, seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen und dem Bekenntnis zu multilate­ralen Insti­tu­­tionen als Grundpfeiler europäischer Außenpolitik ein?

Europäische Souveränität bedeutet die Stärkung Europas auf allen Ebenen – sie ergänzt und stärkt die Souveränität der EU-Mitgliedstaaten.

Bei der Suche nach Antworten auf diese Fragen lohnt es sich, daran zu erinnern, über welches Poten­tial die Europäische Union dort verfügt, wo sie ihre erheblichen wirtschaftlichen, diplomatischen, aber auch militärischen Ressourcen zusammenführt und gemeinsam zur Geltung bringt. Gemessen am Brutto­inlandsprodukt war die EU im Jahr 2018 hinter den USA und deutlich vor China die zweitgrößte Volks­wirtschaft der Welt und mit nur knappem Abstand zum Spitzenreiter China auch der zweitgrößte Waren­exporteur weltweit. Und würden allein Deutschland, Frankreich und die Niederlande ihre jährlichen Patente gemeinsam anmelden, lägen sie mit den USA als traditionellem Innovationsweltmeister gleichauf. Doch auch in außenpolitischer Hinsicht spielt die EU etwa im Hinblick auf die Größe ihrer diplomatischen Dienste und ihres Vertretungsnetzes weltweit, ihre Bei­träge im Bereich Entwicklungspolitik und humani­täre Hilfe in der ersten Liga. Die »Team Europe«-Initia­tive der Europäischen Kommission ist ein erster An­satz, um diese Ressourcen und die Fähigkeiten der verschiedenen europäischen Institutionen und Mit­glieds­länder in konkreten Situationen zu bündeln und vor Ort effektiv einzusetzen.

Es bleibt jedoch die große Aufgabe der EU, aus der Summe ihrer Teile ein beständiges effektives Ganzes zu formen. Dazu bedarf es eines übergreifenden stra­tegischen Ansatzes, der Orientierung gibt, wie die Union auf konkrete Herausforderungen reagieren soll, und der die Entscheidungsfindung der 27 auch in Bereichen erleichtert, die in frühere Überlegungen noch nicht einbezogen waren. Zuletzt haben die Covid-19-Pandemie und ihre Folgen den EU-Staaten die Notwendigkeit koordinierten Handelns und stra­tegischer Planung im Gesundheitssektor und bei der Vorsorge gegen Pandemien und andere Risiken auf­gezeigt – Aufgabenbereiche, die bisher überwiegend in der Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten lagen. Aber auch auf anderen Feldern ist die euro­päische Selbständigkeit in den letzten Jahren auf den Prüfstand gestellt worden, zum Beispiel bei Fragen wie Datensicherheit, Informationshoheit, der Zu­verlässigkeit internationaler Lieferketten oder der Bedrohung der Geschäftstätigkeit europäischer Firmen durch extraterritoriale Sanktionen. Was wir daher brauchen, ist ein allgemein anerkannter Leitbegriff, der nicht nur das konzeptionelle Dach für die Stär­kung gemeinsamer Fähigkeiten der EU-Staaten in aus­gewählten Bereichen bildet, sondern auch das Ambi­tionsniveau festlegt, auf das die EU mit ihren Institu­tionen und Mitgliedsländern in Zukunft hinarbeiten soll.

Vier Aspekte »Europäischer Souveränität«

Zum Auftakt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 hat Außenminister Heiko Maas vorgeschlagen, die europäische Reaktion auf die Covid-19-Pandemie unter die Leitmotive Soli­darität und Souveränität zu stellen. »Europäische Sou­veränität«, so hat Minister Maas ausgeführt, »heißt, eigenständig handeln und entscheiden zu können und unsere Kräfte dort zu bündeln, wo die Nationalstaaten allein nicht mehr in der Lage sind, die Glo­balisierung zu gestalten.«3 Der hier geprägte Begriff der »Europäischen Souveränität« zielt somit auf den Anspruch der EU, unter dem Eindruck neuer geo­politischer, wirtschaftlicher und technologischer Rahmenbedingungen ihre Eigenständigkeit und Handlungsfähigkeit insgesamt zu stärken. Bestehen­de Abhängigkeiten nicht nur im Sicherheitsbereich, sondern etwa auch bei der Versorgung mit Medika­men­ten und medizinischen Produkten, beim Aufbau der Infrastruktur für Zukunftstechnologien oder der Handels- und Währungspolitik können nur dann überwunden werden, wenn die Europäer ihre Fähig­keiten verbinden und gemeinsam auf der Grund­lage ihrer Werte und Interessen einsetzen. Vier Aspekte dieses Verständnisses von »Europäischer Souveränität« möchte ich besonders hervorheben:

  1. Europäische Souveränität bedeutet die Stärkung Europas auf allen Ebenen. Sie ergänzt und stärkt die Souveränität der EU-Mitgliedstaaten. Unter den Bedingungen der Globalisierung und neuer geo­politischer Mächtekonkurrenzen werden auch mitt­lere und selbst größere Staaten bei der effek­tiven Verwirklichung der Souveränität, die sie nor­mativ in Anspruch nehmen, an faktische Grenzen stoßen. Gewinnt im Gegenzug aber die Europäische Union an souveräner Gestaltungsfähigkeit, dann gewinnen auch ihre Mitglieder diese zurück.

  2. Die Stärkung europäischer Souveränität geht nicht mit der Beschränkung der Souveränität anderer internationaler Akteure einher und beschneidet kein Land in der Ausübung seiner eigenen Handlungsfähigkeit. Ambitionen, Europa zu größerer Eigenständigkeit zu befähigen, sind daher keine bloße Reaktion auf den Rückzug der USA aus multi­lateralen Organisationen und Verträgen oder auf neueste Versuche Chinas, die öffentliche Mei­nung in Europa zu beeinflussen. Die EU sollte in dieser Frage vor allem auf sich selbst blicken und nach einer realistischen Bestandsaufnahme der eigenen Fähigkeiten und Defizite die Stellung bestimmen, die sie in der sich herausbildenden Ordnung des 21. Jahrhunderts einnehmen will.

  3. Europäische Souveränität ist kooperative Souveränität. Sie festigt die Rolle der EU in internationalen Partnerschaften und Verpflichtungen. Die Stärkung Europas auf internationaler Ebene kann und soll auch unsere Partner und die internationalen Organisationen stärken, indem wir durch gemeinschaftliches Agieren Reaktions- und Gestaltungs­fähigkeit gegenüber Herausforderungen zurückgewinnen, denen auch große Akteure allein weit­gehend hilflos gegenüberstehen. Gerade aus Ein­sicht in die Notwendigkeit internationalen Han­delns und mit Blick auf die Grenzen unserer eige­nen Handlungsfähigkeit folgt, dass auch ein sou­veränes Europa an multilateraler Zusammenarbeit als Grundpfeiler seiner Außenpolitik festhält.

  4. Europäische Souveränität bedeutet selbstbewusste Gestaltung der Globalisierung, nicht Abkehr von deren Errungenschaften. Mit der vor fast 70 Jahren begonnenen Vergemeinschaftung von Kohle, Stahl und Atomkraft haben die Gründungsstaaten der EU wirtschaftlicher Autarkie ganz bewusst eine Absage erteilt. Die Öffnung und Verflechtung der europäischen Volkswirtschaften untereinander, die Schaffung des Binnenmarkts mit seinen vier Grundfreiheiten und die spätere Vernetzung des gemeinsamen Wirtschaftsraums mit der Welt haben Europa ungeahnte Wohlstandsgewinne beschert, die niemand aufs Spiel setzen will. Euro­päische Souveränität meint daher immer Souveränität in einer globalisierten Welt. Diese zu erhalten und zu erhöhen kann in diesem Zusammenhang nur bedeuten, einseitige Abhängigkeiten zu reduzieren und Versorgungssicherheit durch die Vervielfältigung von Bezugsquellen und Partnern sicher­zustellen, nicht jedoch, sich von traditio­nellen Verbindungen abzukoppeln.

Handlungsfelder und Instrumente europäischer Souveränität

Mit der Einigung des Europäischen Rates auf gemein­same Anstrengungen zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie, die in ihrem Umfang beispiellos sind, hat Europa gezeigt, dass es gerade in Zeiten existentieller Krisen fähig ist, soli­darisch zu handeln und seine Institutionen und Ver­fahren an neue Herausforderungen und Gegebenheiten anzupassen. Wir wollen unsere EU-Ratspräsi­dent­schaft bis Ende dieses Jahres nutzen, um die Beschlüs­se von Brüssel rasch umzusetzen. Aber wir sollten den Willen zu Gestaltung und Veränderung, der sich in der Einigung ausdrückt, auch dazu nut­zen, um die Handlungsfähigkeit der EU auch in ande­ren Bereichen zu stärken und damit auch die Hand­lungs­fähig­keit der EU-Mitgliedstaaten insgesamt zu erhöhen:

Strategische Souveränität

Seit über 70 Jahren verteidigt Europa seine Sicherheit im engen Verbund mit den USA und Kanada. Die trans­atlantische Verankerung unserer Sicherheitspolitik widerspricht nicht dem Ziel größerer europäischer Souveränität in diesem Bereich. Denn weniger als je zuvor nach dem Zweiten Weltkrieg ist absehbar, wie viel Engagement sich die USA künftig noch in unserer Nachbarschaft leisten wollen und können. Zu sehr wen­det sich der strategische Blick Amerikas nach Asien. Mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) im Rahmen der Gemeinsamen Sicher­heits- und Verteidigungspolitik (GSVP), mit dem Euro­päischen Verteidigungsfonds (EDF) und dem Koordinierten Jahresbericht zur Verteidigung (Coordinated Annual Review on Defence, CARD) haben die EU-Mitgliedstaaten deshalb Instrumente geschaffen, die es ermöglichen, ihre militärischen Fähigkeitslücken gemeinsam zu analysieren und zu schließen. Wäh­rend unserer EU-Ratspräsidentschaft wollen wir zu­dem mit dem »Strategischen Kompass« ein Planungsdokument verabschieden, das die sicherheits- und verteidigungspolitischen Schwerpunkte der EU näher beschreibt und die strategischen Kulturen der EU-Mit­gliedstaaten noch enger zueinanderführt. Wenn es gelingt, die europäischen Verteidigungsanstrengungen nachhaltig zu finanzieren, wird die EU innerhalb der Nato, aber auch als Gemeinschaft der Europäer entschieden den Weg in Richtung leistungsfähiger europäischer Streitkräfte einschlagen, der beide Insti­tutionen stärkt. Gleichzeitig wird die Fortentwicklung europäischer Planungs- und Führungsfähigkeiten der EU ein zügigeres Handeln erlauben. Die EU-finan­zierte Europäische Friedensfazilität, die im Juli 2020 endgültig beschlossen wurde, wird darüber hinaus die Kapazitäten Europas erhöhen, gemeinsam mit seinen Partnern auf Krisen schnell zu reagieren.

Um unsere Souveränität auch in Sicherheitsfragen zu stärken, brauchen wir in Europa aber vor allem neben einer gemeinsamen strategischen Kultur institutionelle Verbindlichkeit und die Fähigkeit zu raschem und koordiniertem Handeln. Daher werden wir die Diskussion über einen Europäischen Sicherheitsrat und die Einführung von qualifizierten Mehr­heitsentscheidungen in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik weiter vorantreiben – auch wenn wir wissen, dass zur Erreichung dieser lang­fristigen Ziele noch besonders viel Überzeugungs­arbeit zu leisten ist.

Technologische Souveränität

Im Bereich technologischer Innovationen kann Europa seine Unabhängigkeit nur sicherstellen und erweitern, wenn es in der Lage ist, insbesondere digi­tale Zukunftstechnologien selbst zu entwickeln und seine kritische Infrastruktur zu schützen. Dies gilt etwa für die Sicherheit von Datennetzen wie auch für die Bereitstellung von Speicherkapazitäten und Cloud-Computing-Diensten. Vor allem aber der Auf­bau und die wirtschaftliche Nutzung von Mobilfunk­netzen der 5. Generation werden für die Wettbewerbs­fähigkeit der europäischen Industrie entscheidend sein. Modernisiert und digitalisiert Europa seine traditionell starke industrielle Basis mit Hilfe der 5G‑Technologie, dann wird es auch bei den digital dominierten Wertschöpfungsprozessen der Zukunft eine führende Rolle einnehmen können. Hinzu kommt: Nur mit eigenen Kommunikations- und Beob­achtungskapazitäten im Weltraum werden diese terrestrischen Fähigkeiten voll zur Geltung kommen. Die EU hat daher bereits im vergangenen Jahr die Grundzüge ihres ehrgeizigen Weltraumprogramms für die Jahre 2021 bis 2027 festgelegt, die wir zügig in die Tat umsetzen wollen. Die Einrichtung der neuen Generaldirektion Defence Industry and Space (DEFIS) ist dazu ein wichtiger Schritt. Insgesamt sollten wir die zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie bereitgestellten öffentlichen Investitionen zum Auf- und Ausbau von Zukunftstechnologien nutzen. Unsere Industriepolitik und unser Wettbewerbsrecht wollen wir stärker darauf ausrichten, die europäische Wirtschaft für den glo­balen Wettbewerb fit zu machen. Nur so kann die gegenseitige Solidarität der Europäer in der Krise langfristig auch zu einer Stärkung der Souveränität Europas führen.

Gesundheitssouveränität

Die Covid-19-Pandemie hat die Grenzen nationaler Antworten auf grenzüberschreitende Herausforderungen aufgezeigt. Eingespielte Verfahren und Ein­richtungen zur gemeinschaftlichen Unterstützung besonders betroffener Unionsländer fehlen im Ge­sund­heitsbereich weitgehend. Daher müssen Struk­turen und Kapazitäten geschaffen werden, die es ermöglichen, bei künftigen Gesundheitskrisen die Bereitschaft zur Solidarität in praktische Bahnen zu lenken und vor Ort rasch Hilfe zu leisten. Das Auf­stellen gemeinsamer Bestände an Schutzkleidung und medizinischer Ausrüstung zur schnellen Verteilung im Krisenfall und die Einrichtung eines europäischen Zentrums für ziviles Krisenmanagement sind dazu wichtige und sichtbare Schritte. Doch wir müssen auch unsere Abhängigkeit bei der Versorgung mit wichtigen Medikamenten und anderen medizinischen Gütern verringern. Der Wiederaufbau eigener europäischer Produktionskapazitäten ist jedoch keine Absage an offene Märkte und grenzüberschreitende Versorgungswege. Wird Europa selbst wieder stärker Produzent und Anbieter von lebenswichtigen Medi­kamenten und Medizinprodukten, etwa für den Kampf gegen Covid-19, lassen sich im Krisenfall Eng­pässe und Abhängigkeiten weltweit abfedern und die Versorgung aller sicherstellen. Deutschland und die EU stehen hier für globale Solidarität.

Währungssouveränität

Die Stärkung des Euro auf globaler Ebene ist ein wich­tiger Schritt zur Stärkung europäischer Souveränität. Seit seiner Einführung hat sich der Euro welt­weit zur zweitwichtigsten Währung sowohl bei den staatlichen Devisenreserven als auch im internatio­nalen Zahlungsverkehr entwickelt. Analog zur Ver­änderung der globalen Wirtschaftsordnung dürfte sich auch der Trend zur Diversifizierung der globalen Währungslandschaft in den nächsten Jahren fort­setzen. Nähert sich dabei die Relevanz des Euro dem wirtschaftlichen Gewicht Europas in der Weltwirtschaft an, stärkt dies nicht nur die Unabhängigkeit der EU, sondern auch die Belastbarkeit des internatio­nalen Finanzsystems insgesamt. Nicht nur die Euro­päer selbst, auch die übrigen Staaten erhalten so mehr Wahlmöglichkeiten bei der Abwicklung und Siche­rung von internationalen Transaktionen. Die jüng­sten Entscheidungen zum EU Recovery Fund und zur Ausgabe gemeinsam besicherter Schuldtitel sind hier ein historischer Schritt: Erstmals wird die EU als Ge­meinschaft in nennenswertem Umfang Schuldtitel am Markt platzieren. Damit steigt die Liquidität von hoch­klassigen, in Euro nominierten Titeln, was die Attrak­tivität für potentielle Investoren deutlich steigert.

Die Stärkung des Euro auf globaler Ebene ist ein wichtiger Schritt zur Stärkung europäischer Souveränität.

Voraussetzung für eine noch robustere internationale Stellung des Euro sind weitere Fortschritte bei der europäischen Wirtschafts- und Währungs-, der Banken- und auch der Kapitalmarktunion. Auch muss die wirtschaftliche Konvergenz und Stabilität inner­halb der Eurozone weiter erhöht werden, wofür etwa die Einführung einer europäischen Arbeitslosen­versicherung einen entscheidenden Schritt darstellt.

Ökonomische Souveränität

In engem Zusammenhang mit der Stärkung des Euro im globalen Zahlungsverkehr steht die Fähigkeit Europas, über seine internationalen Handelskontakte und wirtschaftlichen Verbindungen frei und ohne Einflussnahme von außen zu entscheiden. Dabei zeigt sich in der Handelspolitik, welche Souveränitäts­gewinne die EU und ihre Mitgliedstaaten verbuchen können, wenn sie geeint und mit einer klaren Agenda auftreten. Im Handelsbereich ermöglicht der gemein­same Binnenmarkt der EU ein selbstbewusstes Auf­treten auf Augenhöhe mit anderen großen Volks­wirtschaften. Allerdings wird die europäische Souve­ränität in wirtschaftlichen Fragen zukünftig entschei­dend auf der Fähigkeit beruhen, eigene Unternehmen gegen die Auswirkungen von Sanktionsentscheidungen zu schützen, die andere Staaten gegen Dritte getroffen haben. Die Europäische Union hat immer deutlich gemacht, dass sie Sanktionen mit extraterritorialer Wirkung als unzulässigen Eingriff in ihre Handels- oder Energiepolitik ablehnt. Um diese Posi­tion auch praktisch zur Geltung zu bringen und Abschreckungseffekte für die eigene Wirtschaft zu vermeiden, muss die EU ihr Instrumentarium zur Neutralisierung der rechtlichen Auswirkungen extra­territorialer Sanktionen ausbauen und die Selbst­behauptungskräfte der europäischen Wirtschaft zu erhöhen. Den Euro als Handelswährung zu stärken gehört ebenso zu den dafür notwendigen Bedingungen wie weitere Überlegungen zur Schaffung von Kompensationsmöglichkeiten für europäische Unter­nehmen, die von extraterritorialen Sanktionen betrof­fen sind, und zu geeigneten Gegenmaßnahmen.

Eine ambitionierte Agenda für das neue Jahrzehnt

Das mit dem Konzept der »Europäischen Souveränität« umrissene Ambitionsniveau für die Stärkung der internationalen Handlungsfähigkeit Europas ist er­kennbar hoch angesetzt. Ob Europa diesem Anspruch gerecht werden kann, wird sich nicht zuletzt daran entscheiden, welche Lehren wir aus den Erschütterungen der Covid-19-Pandemie zu ziehen bereit sind. Deren genaue Folgen werden sich erst langfristig bestimmen lassen. Allerdings spricht viel dafür, dass diese Krise mehr noch als andere Herausforderungen der jüngeren Vergangenheit die »politische Vorstellungskraft der Öffentlichkeit entfesselt« hat (Ivan Krastev).4 Eine vor wenigen Monaten im Auftrag des European Council on Foreign Relations (ECFR) in elf europäischen Ländern erhobene Umfrage zeigt, dass 47 Prozent der Befragten die EU bei der Bewältigung der Covid-19-Pandemie zwar bisher für weitgehend irrelevant halten. Als Konsequenz aus diesem Befund befürwortet eine deutliche Mehrheit (63 Prozent) jedoch keine Alternativen zum Projekt der euro­päischen Einigung, sondern gerade dessen Vertiefung und Weiterentwicklung.5

Mit dem Konzept der Europäischen Souveränität liegt ein Vorschlag auf dem Tisch, um diesem Momen­tum eine Richtung und ein Ziel zu geben. Wenn wir es ernst meinen mit der Ambition, die Selbstbehauptungskraft der Europäischen Union zu stärken, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt für eine vertiefte De­batte und konkrete Schritte. Wir hoffen, dass auch Volker Perthes in dieser Diskussion weiter das Wort ergreifen und nicht aufhören wird, uns zu erinnern, wozu ein handlungsfähiges Europa in der unruhigen Welt von heute und morgen gebraucht wird.

Multilateralismus und deutsche Außenpolitik: Ein Syllogismus?

Hanns W. Maull

»Was ist das eigentlich, Multilateralismus?«, wollte Volker Perthes wissen, als von den Plänen des deut­schen Außenministers Heiko Maas zu einer »Allianz für den Multilateralismus« die Rede war. Die Frage war und ist berechtigt, denn der Begriff ist ebenso sperrig wie inhaltlich mehrdeutig. Es lohnt also, dieser Frage mit Blick auf den Stellenwert des Multi­lateralismus in der deutschen Außenpolitik nach­zugehen.

Multilateralismus als Ausgangspunkt und Finalität deutscher Außenpolitik

Der Multilateralismus gilt als Kompass der deutschen Außenpolitik. Der Begriff selbst spielte zwar in den Analysen der westdeutschen Außenpolitik vor der Vereinigung explizit keine Rolle: Im Stichwortverzeichnis der klassischen Studie von Wolfram Han­rieder taucht zwar die »Multilateral Force« (MLF) der Nato auf, nicht aber der Begriff »Multilateralismus«;1 auch Helga Haftendorns Gesamtdarstellung der west­deutschen Außenpolitik von 1945 bis 1982 kommt ohne ihn aus.2 Dies ändert jedoch nichts an der Zen­tralität des Phänomens selbst.

Schon Waldemar Besson arbeitet 1970 in einer der ersten Gesamtdarstellungen der westdeutschen Außenpolitik folgende Grundlinien heraus (neben der deutsch-deutschen Koexistenz und der Entwicklungspolitik): die Nato als Garant der westdeutschen Sicher­heit, den Verzicht auf Souveränität im Kontext des (west-)europäischen Regionalismus, den Ausgleich mit den osteuropäischen Nachbarn. Damit identifiziert er drei der vier wesentlichen multilateralen Interaktionszusammenhänge der deutschen Außenpolitik, nämlich die trans­atlantische Sicherheits­gemeinschaft, die europäische Integration und die gesamteuropäische Ordnung.3 Als vierten multilateralen Handlungszusammenhang sollte man die globale Ebene der Vereinten Nationen (VN) hinzufügen, in denen die beiden deutschen Staaten formal allerdings erst 1973 Mitglied wurden. In zahlreichen Unter­organisationen war die BRD damals freilich schon längst präsent – und durchaus einflussreich.

Die qualitative und die quantitative Dimension des Multilateralismus

Die westdeutsche Außenpolitik war also von Anfang an multilateral bzw. genauer: multilateralistisch ausgerichtet. Mit der Vereinigung wurde diese Aus­richtung bekräftigt und fortgeschrieben. Die hier vor­genommene Präzisierung »multilateralistisch« bezieht sich auf zwei grundsätzlich verschiedene Definitionen des Begriffs »Multilateralismus« – eine quantitative und eine qualitative.4 Die quantitative Bestimmung des Begriffs versteht unter Multi­lateralismus jede Form der Politikkoordination zwischen drei oder mehr Staaten, im Gegensatz zur bilateralen oder zu unilateralem Vorgehen eines Staates. Die qualitative Definition hebt dagegen auf die Normen und Formen der Politikkoordination ab. Sie füllt den Begriff inhalt­lich mit kooperativem Verhalten, der Einhaltung von Regeln, der Anerkennung der Gleichberechtigung bzw. Nichtdiskriminierung sowie mit der Bereitschaft zu »diffuser Reziprozität« (Czempiel).5 Das Adjektiv »multilateralistisch« lässt sich ausschließlich dieser zweiten, qualitativen Bedeutung des Begriffs zuord­nen; »multilateral« hingegen kann außenpolitisches Verhalten und internationale Politikkoordination sowohl im quantitativen wie im qualitativen Sinne beschreiben.

Im Gegensatz zur quantitativen Begriffsbedeutung, die simpel und eindeutig ist, gibt es durchaus unter­schiedliche Formen des qualitativen Multilateralismus. Diese unterscheiden sich nach den ihnen zu­grunde liegenden Vorstellungen über die normativen Grundlagen der internationalen Ordnung und über die normativen Prä­missen der jeweiligen nationalen Außenpolitiken.6 Wenn die (west‑)deutsche Außen­politik als »instinktiv«,7 »reflexiv«8 oder »prinzipiell«9 multi­lateralistisch bewertet wird, dann ist damit noch keine präzise Verortung dieser Außenpolitik und ihres Kompasses gewonnen. Insbesondere bleibt offen, welche spezifischen Wertorientierungen und Normen damit verknüpft sind und wie die Entscheider sie jeweils interpretieren. Es geht also dar­um zu erkennen, welche Entwürfe zu politischer Ordnung hinter dem Etikett »multilateralistische Außenpolitik« liegen, außerdem darum, subtile Veränderungen in den dominanten Interpretationen der Werte und Normen nachzeichnen zu können. Rainer Baumann etwa hat solche Veränderungen im Verlauf der – durchgängig multilateralistisch ausgerichteten – deutschen Außenpolitik von 1990 bis 2004 fest­gestellt.10

Verfassungsauftrag und Multilate­ralismus

Das ordnungspolitische Leitbild der Bundesrepublik Deutschland ist liberaldemokratisch und föderalistisch. Dementsprechend implizieren auch die in der Präambel des Grundgesetzes formulierten außen­politischen Staatsziele der europäischen Einigung und des Weltfriedens eine europäische und internatio­nale Politik liberaldemokratischer Prägung. Beide Vorga­ben setzen erkennbar den Fortbestand souveräner Nationalstaaten voraus. Allerdings müssen diese in Kontexte eingebettet sein, die die Politik zwischen Staaten dem Recht und dem Gewaltverbot unter­werfen und sie auf Wahrung der Menschenrechte, soziale Ausgewogenheit und politische Partizipation hin ausrichten.

Mit diesen Verfassungszielen der europäischen Einigung und des Weltfriedens erhält die deutsche Außenpolitik demnach eine multilateralistische Finalität: Sie sieht sich verpflichtet, auf die liberal­demokratische Gestaltung der zwischenstaatlichen Beziehungen in Europa und der Welt hinzuarbeiten. Dabei wurde Europa offenkundig nicht als zentralistischer Einheitsstaat konzipiert, sondern als – mit den Worten des Bundesverfassungsgerichtes – »Staatenverbund«.11 Die zwischenstaatlichen Beziehungen blieben also erhalten, sie seien aber »multilateralistisch« im Sinne einer sehr speziellen und anspruchsvollen Ausprägung des Multilateralismus zu gestalten, die die freiwillige Übertragung von Hoheits­rech­ten und damit die supranationale Integration ein­schließe. Diese – spezifisch bundesdeutsche – Sicht­weise der europäischen Integration korrespondiert auffallend mit der inneren, föderalen Verfassung der Bundesrepublik, in der die Bundesländer dem Bund weniger untergeordnet als beigeordnet sind und (ins­besondere über den Bundesrat) an der Gestaltung der Politik auf Bundesebene bis hin zur Außenpolitik mitwirken.

Demgegenüber erscheint der Verfassungsauftrag der Wiedervereinigung auf den ersten Blick ausgesprochen »bilateralistisch«. In mancher Hinsicht waren die deutsch-deutschen Beziehungen tatsächlich ausgeprägt bilateral; die Politik der Hallstein-Doktrin zur Durchsetzung des bundesdeutschen Alleinvertretungs-Anspruchs könnte man – in ihrer Fixierung auf die »DDR« – als »negativ bilateralistisch« bezeich­nen. Dies wäre indes irreführend: Auch die Deutschlandpolitik der alten Bundesrepublik war ja letztlich eingebettet in eine multilateralistische Grundausrichtung. Zudem war von Anfang an klar, dass die deut­sche Frage nur multilateral gelöst werden konnte. Wie erfolgreich die westdeutsche Außenpolitik war, lässt sich gut nachzeichnen an der multilateralen Bearbeitung der deutschen Frage. Bei der letzten Deutschland-Konferenz der vier Mächte während des Kalten Krieges 1959 durften die beiden deutschen Staaten nur am »Katzentisch« teilnehmen. Somit wurde ein 4+2-Format verfolgt, die Verhandlungen endeten ergebnislos. Dagegen kam es 1989/1990 zu Verhandlungen im Format 2+4 und den entsprechenden Vereinbarungen.

Die bundesdeutsche Außenpolitik war von Anfang an multilatera­listisch, weil sie es sein musste.

Grundsätzlich lässt sich also festhalten: Die bundesdeutsche Außenpolitik war von Anfang an multi­lateralistisch, weil sie es sein musste. Denn zum einen war und ist der Multilateralismus (im spezifischen Sinne einer föderativen liberaldemokratischen Ord­nung) konstitutiv, und das nicht nur für die außen­politische Identität und das außenpolitische Rollenkonzept der Bundesrepublik als Zivilmacht.12 Er ist überdies unauflöslich verbunden mit der politischen Ordnung der Bundesrepublik selbst. Zum anderen ist Deutschland durch seine geopolitische Lage in der Mitte Europas und seine gemeinsamen Grenzen mit neun anderen Staaten zum Multilateralismus ver­dammt. Allerdings erzwingt der geopolitische Kontext zwar eine multilaterale, jedoch nicht unbedingt eine multilateralistische deutsche Außenpolitik oder gar die spezifische multilateralistische Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland: Die Außenpolitik des Kaiserreichs, ja selbst die des Nationalsozialismus war durchaus (auch) »multilateral«, zugleich aber hege­monial und expansionistisch.

Multilateralismus als außenpolitisches Instrument

Naturgemäß sind multilaterale Verhandlungsprozesse schwerfälliger und langsamer als bilaterale Diplomatie oder unilaterales Vorgehen. Sie tendieren zu schwachen Kompromissen – man denke nur an die »COPs« (die Conferences of the Parties der VN-Klima­konvention) der internationalen Klimapolitik. Die Qualität der Ergebnisse wird bestimmt durch die Kon­stellation der Interessen und Zielsetzungen, eben­so spielen Durchsetzungsfähigkeit und Durchsetzungswille der beteiligten Akteure und Koalitionen eine Rolle. Dabei machte sich in den letzten beiden Jahr­zehnten der Rückzug der Vereinigten Staaten aus multilateralen Kontexten (wie eben der internationalen Klimapolitik oder, unter Präsident Donald Trump, aus dem VN-Menschenrechtsrat in Genf) nachteilig bemerkbar. Die USA hatten immer wieder wichtige Impulse für die Agenda, das Zeitmanagement und die Umsetzung multilateraler Politikprozesse gegeben und so dazu beigetragen, die spezifischen Schwierigkeiten multilateraler Diplomatie zu überwinden. Diese Schwierigkeiten ergeben sich einerseits aus den jeweiligen Macht- und Konfliktkonstellationen und den – möglicherweise sehr kleinen – Schnittmengen der Ziel- und Interessensdefinitionen der beteilig­ten Akteure, andererseits – weniger offensichtlich – dadurch, dass Ergebnisse zu wenig engagiert, ziel­strebig und hartnäckig verfolgt werden.

Zu den spezifischen Formen der Diplomatie in multilateralen Kontexten gehört die Fähigkeit, Koali­tionen zu schmieden, die die eigenen Anliegen voran­zubringen gewillt und geeignet sind. Dies wiederum setzt voraus, die Anliegen der anderen Akteure in diesen Kontexten angemessen zu erkennen (also diplomatisch empathiefähig zu sein), sie zu berücksichtigen und mit den eigenen zu verknüpfen. Grund­legend hierfür sind Kompromissfähigkeit und ‑bereit­schaft, darüber hinaus die Fähigkeit, die eigenen Ziel­setzungen nicht aus den Augen zu verlieren. Um Koalitionen zu bilden, braucht es handwerklich gute, kluge Diplomatie – nicht zuletzt bilaterale.13 Effek­tive multilaterale Diplomatie beruht in diesem Sinne auf guter bilateraler Diplomatie. Nur bestimmte exklusive Formen der bilateralen Diplomatie (»Bilate­ralismus«) stehen im Widerspruch zu multilateralis­tischer Außenpolitik – dann nämlich, wenn sie mit dem Ziel betrieben werden, die Früchte der Kooperation nur den beiden Beteiligten zukommen zu lassen, andere hingegen auszugrenzen.14

Um in multilateralen Kontexten eigene Ziele voranzubringen, bedarf es nicht nur des Geschicks, Koalitionen zu schmieden, sondern auch der Kunst, sie zu führen.

Um auf Koalitionen im Sinne der eigenen Ziele und Interessen Einfluss aus­üben zu können, bedarf es der Kunst des Führens.15 Dabei sind in zwischenstaatlichen Kontexten Autoritätsressourcen nur begrenzt verfügbar: Das Souveränitätsprinzip, grundlegend für die Organisation der modernen internationalen Poli­tik, steht der Konstruktion hierarchischer Beziehungen zwischen Staaten grundsätzlich entgegen.16 Dass die machtpolitischen Gegebenheiten dieses Prinzip in der Praxis der zwischenstaatlichen Beziehungen aushöhlen und Staaten versuchen, auf andere Staaten und Gesellschaften einzuwirken, ändert nichts an seiner Gültigkeit. Das Souveränitätsprinzip mag auf »organized hypocrisy« beruhen, wie Stephen Krasner feststellte – dennoch bildet es einen zentralen nor­mativen Bezugspunkt außenpolitischen Handelns.

Führung muss daher überwiegend oder ausschließlich mit anderen Möglichkeiten der Einflussnahme arbeiten, etwa mit Überzeugungsarbeit und Kompro­missangeboten, mit Gegenleistungen, Anreizen und Sanktionen. Hierbei kommen auch Berechenbarkeit, Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit sowie »diffuse Rezi­prozität« ins Spiel, sprich die Bereitschaft eines Akteurs, (Vor-)Leistungen zu erbringen in der Erwartung, dass man sich ihrer in der Zukunft in einem noch unbekannten Zusammenhang erinnert und sie dann erwidert.

Um in multilateralen Kontexten die Verhandlungs­agenda zu bestimmen, inhaltliche Fortschritte ent­sprechend den eigenen Anliegen zu erzielen und die erreichten Ergebnisse anschließend umzusetzen, sind Koalitionen notwendig, die nicht nur gut geführt und somit in ihren Zielsetzungen hinreichend geeint sind – sie müssen auch durchsetzungsfähig sein. Folglich stellt sich das Problem kluger Führung eben­falls in diesem Kontext.

Der Multilateralismus der deutschen Außenpolitik in der Praxis

Wie gut hat die deutsche Außenpolitik bislang im Umgang mit diesen spezifischen Anforderungen an den Multilateralismus abgeschnitten? Und wie ist sie dabei im Einzelnen vorgegangen? Es würde im Rahmen dieses Beitrags zu weit führen, die deutsche Europapolitik daraufhin systematisch zu untersuchen; einige Beobachtungen dazu seien jedoch im Folgenden angestellt. Unterschieden wird dabei zwischen der multilateralistischen »Haltung« bzw. »Einstellung« der deutschen Außenpolitik und den Mitteln, mit denen sie jeweils agierte.

Multilateralistische Außenpolitik beruht – wie jede Außenpolitik – auf Annahmen und Wahrnehmungen. Diese lassen sich zusammengefasst als außen­politische »Haltung« bzw. »Einstellung« gegenüber dem Multilateralismus bezeichnen. Hinter diesen Annahmen stehen Wertvorstellungen und normative Prämissen, die in einem spezifischen Verständnis, einer spezifischen Interpretation von Multilateralis­mus wurzeln. Ein Beispiel: Das deutsche Verständnis von Multilateralismus wird geprägt durch die Tradi­tionen des Rechtsstaats und des Föderalismus. Das Ergebnis ist eine, aber eben nicht die eine verbind­liche Form einer liberaldemokratischen Ordnung.

Diese Einstellung bedarf in konkreten Handlungskontexten der Spezifizierung: Was bedeutet multi­lateralistische Außenpolitik in dieser Situation? Um die Frage zu beantworten, müssen auch die grundlegenden multilateralistischen Normen konkretisiert und möglicherweise neu interpretiert werden. Was heißt »Vertiefung der europäischen Integration« unter den spezifischen Gegebenheiten etwa in der Migrations­politik 2015? Wie ist diese Norm zu deuten?

Kluge multilateralistische Außenpolitik erkennt an, dass die eigenen Ziele und Interessen mit denen der Partner verflochten sind.

Schließlich gehört zur multilateralistischen Haltung die Einstellung anderen Akteuren gegenüber. Es wurde bereits darauf verwiesen, dass kluge multi­lateralistische Außenpolitik empathisch ist: Sie sollte in der Lage sein, die eigenen Annahmen zu reflektieren und zu relativieren, indem sie sich bemüht, die Annahmen der Partner zu verstehen. Das Ergebnis sind Ziel- und Interessensdefinitionen, die die eigenen Ziele und Interessen in ihrer Verflochtenheit mit den­jenigen der Partner bestimmen. Sie bilden die Grund­lage für die Strategien einer multilateralistischen Außenpolitik.

Wie diese umgesetzt werden, hängt von den Mit­teln ab, die dabei zum Einsatz kommen. Ein Maßstab für empathische Außenpolitik ist, ob diese Empathie in den Partnergesellschaften als solche anerkannt wird und Unterstützung findet. Ein Faktor ist sicherlich eine aktive Öffentlichkeitsarbeit, obschon nicht der wichtigste: Resonanz hat mit Glaubwürdigkeit zu tun. So stoßen deutsche Bedenken gegenüber der italie­nischen Staatsverschuldungspolitik, die deren pro­blematische Anreizstrukturen (moral hazard) thematisieren, durchaus auf Resonanz in Italien. Dies gilt indes nicht für die pauschale Ablehnung der finan­ziellen Solidarität mit Italien, die aus diesen Beden­ken ja nicht zwingend folgt. Es geht eben nicht um die Frage finanzielle Solidarität ja oder nein, sondern darum, wie Italien wirkungsvoll und nachhaltig unterstützt werden könnte.

Selbst eine kursorische Betrachtung zeigt, welch unterschiedliche Ausprägungen des Multilateralismus der deutschen Außenpolitik allein schon im Kontext der Europäischen Union (EU) festzustellen sind.17 In der Eurokrise etwa zögerte Berlin zwar lange, die Führung in der Krisenbewältigung zu übernehmen, tat dies dann aber ab Frühjahr 2010 zunehmend ener­gisch und durchsetzungsfähig. Dabei verfolgte die Bundesregierung eine klare Strategie mit dem Ziel, die Eurozone zusammenzuhalten (»scheitert der Euro, dann scheitert Europa«) und die deutschen (und ande­re europäische) Banken zu entlasten, die zu Beginn der Krise erneut (nach der internationalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise von 2008/2009) mit exis­tenzgefährdenden Kreditrisiken konfrontiert waren. Diese Entlastung erforderte aus der Sicht Deutschlands umfangreiche Umschuldungsmaßnahmen mit strengen wirtschaftspolitischen Auflagen für die Krisenländer.

Insgesamt war diese Strategie im Sinne der verfolgten Ziele und Interessen politisch erfolgreich, aller­dings zu einem sehr hohen Preis – und letztlich auch nur deshalb, weil Berlin mit der Europäischen Zentralbank (EZB) einen mächtigen Verbündeten hatte, der ebenfalls entschlossen war, den Zusammenhalt der Eurozone mit allen geldpolitischen Mit­teln (»whatever it takes«) zu gewährleisten. Wirtschaftspolitisch dagegen erwiesen sich die beschlossenen Maßnahmen für die betroffenen Länder als höchst problematisch, allen voran für Griechenland.

In der Flüchtlingskrise agierte Berlin wenig multilateralistisch. Die Absicherung der Außengrenzen des Schengen-Raums und das Management der Asyl­suchenden und Migranten überließ Deutschland in den Vereinbarungen von Dublin weitgehend den süd- und osteuropäischen Anrainerstaaten. Als sich der Migrationsdruck 2014/2015 krisenhaft verstärkte, reagierte Berlin unilateralistisch bzw. bilateralistisch (keine Schließung der deutsch-österreichischen Grenze). Deutschland hat in dieser Krisensituation einen Groß­teil der Flüchtlinge aufgenommen. Seine Bemühungen um eine europäische Lösung des Problems sind bis heute am Widerstand etlicher, insbesondere mit­tel­osteuropäischer Mitgliedstaaten gescheitert.

Am überzeugendsten agierte Deutschland als Multilateralist in der Ukraine-Krise von 2014. Zwar gelang es der EU nicht, ihre Ziele (Wiederherstellung des Status quo ante in der Ukraine vor der Annexion der Krim und den Kämpfen in der Ostukraine) gegen­über Russland durchzusetzen, aber sie handelte in ihrer Sanktionspolitik geschlossen. Dadurch konnte sie Russland für seine Politik in der Ukraine erheb­liche wirtschaftliche Kosten auferlegen. Dies gelang nicht zuletzt deswegen, weil Deutschland sich syste­matisch darum bemühte, die Interessen und Ziele vor allem der mittelosteuropäischen Mitgliedsländer zu berücksichtigen – und somit außenpolitische Empa­thie bewies. Diese fehlte hingegen im umstrittenen Projekt der Erdgaspipeline Nord Stream 2 zwischen Russland und Deutschland: Die Ukraine und Polen werden als Transitländer umgangen.18 Deutschland präsentierte sich hier als unempathischer Bilateralist.

Kooperativer und integrativer Multilateralismus

Insgesamt zeigt schon dieser kurze Blick auf die deut­sche Europapolitik eine breite Palette von Vorgehens­weisen. Sie reichen vom Unilateralismus (etwa bei der Energiewende) und exklusivem Bilateralismus (Nord Stream 2) bis zu genuinem Multilateralismus im Sinne des propagierten außenpolitischen Selbst­verständnisses und Selbstbildes (Ukraine-Krise). Aber auch dort, wo die deutsche Außenpolitik multilateralistisch agierte, ließen sich unterschiedliche Ausprägungen ausmachen. So könnte man zwischen koope­rativem und integrativem Multilateralismus unterscheiden: Eine integrativ multilateralistische Außen­politik hebt darauf ab, die strukturelle Trans­forma­tion der zwischenstaatlichen Beziehungen im Sinne ihrer Verregelung, Verrechtlichung und Zivilisierung in Europa und weltweit voranzubringen (wie Berlin dies beispielsweise in der Eurokrise tat). Kooperativer Multilateralismus bewegt sich dagegen auf dem Boden des zwischenstaatlichen Status quo (wie das Agieren Deutschlands in der Migrations- und Flücht­lingskrise, in der Ukraine-Krise oder jüngst mit der Libyen-Konferenz in Berlin mit dem Ziel, den – zerfallenen – Staat Libyen zu stabilisieren und zu befrieden).19

Sowohl der kooperative wie auch der integrative Multilateralismus der deutschen Außenpolitik lassen sich in konkreten Kontexten hinsichtlich ihrer Effek­tivität und Legitimität bewerten. Beide Bewertungsmaßstäbe hängen zusammen, sind aber nicht iden­tisch: Einerseits erhöht die wahrgenommene Legiti­mität einer Außenpolitik in der Regel ihre Erfolgs­chancen, andererseits wirken Erfolge legitimierend. Allerdings kann eine Politik um ihrer wahrgenommenen Legitimität willen auch Abstriche bei Zielen und Ergebnissen in Kauf nehmen und damit ihre Effektivität beeinträchtigen.

Fünf spezifische Ausprägungen multi­lateralistischer Diplomatie

Eine weitere mögliche Auffächerung bei der Unter­suchung der deutschen Außen- bzw. Europapolitik betrifft unterschiedliche Formen multilateralistischer Diplomatie. Eine erste Form ergibt sich aus der Frage, ob und inwieweit deutsche Außenpolitik in Europa hegemonial auftrete.20 Die entsprechende Ausprägung wäre ein »hegemonialer Multilateralismus« Deutschlands. Kennzeichnend hierfür wäre, dass Deutschland in einem Politikfeld die Regeln und die Entscheidungen weitgehend bestimmt. Dabei stützte es sich auf privilegierte Partner (Frankreich) und Koalitionen, bemühte sich aber auch um breite Zu­stimmung der anderen Beteiligten. Diese Ausprägung könnte man insbesondere bei der Bewältigung der Krise in der Eurozone erkennen. Freilich trifft die Charakterisierung selbst in diesem Zusammenhang nicht vollständig zu, weil die EZB im Krisenmanagement eine eigenständige und sehr bedeutsame Rolle spielte. Generell erscheinen die Machtressourcen Deutschlands nicht hinreichend, um eine Politik des hegemonialen Multilateralismus zu betreiben.

Die zweite Ausprägung ist »kooperative Führung«. Hierbei schmiedet Berlin erfolgreich Koalitionen und ist in der Lage, europäische Politik zu gestalten; jedoch stützt es sich dabei noch stärker auf Partner und ver­zichtet darauf, Führungsanspruch offen zu demons­trieren. Das Management der Ukraine-Krise seit 2014 oder die Libyen-Konferenz 2020 sind Beispiele dafür.

Bei der dritten Form des Multilateralismus, der Gefolgschaft, agiert die deutsche Diplomatie als wesentlicher Unterstützer in einer Koalition, die von einem Partner angeführt wird, und überlässt diesem den Vorrang. Erkennbar ist diese Ausprägung vor allem in den transatlantischen Beziehungen, in denen Deutschland durchgängig als (zumeist wich­tigster) europäischer Partner der Vereinigten Staaten auftrat.21 Betrachtet man die westliche Reaktion auf die Besetzung und Annexion der Krim durch Russ­land 2014, ließe sich die deutsche Führungsrolle in der Sanktionspolitik der EU als Gefolgschaft im trans­atlantischen Verhältnis interpretieren.

Die vierte Ausprägung multilateralistischer Diplomatie ist die Vermittlung. Es geht hierbei nicht darum, eigene Ziele und Interessen durchzusetzen, son­dern darum, Konflikte einzuhegen und, wo mög­lich, zu befrieden. In der deutschen Außenpolitik betraf dies häufig Konflikte zwischen den wichtigsten Partnern Frankreich und USA.

Eine der intrinsischen Schwierigkeiten multilate­raler Diplomatie ist die suggestive Kraft ihrer häufig aufwändigen Ausgestaltung: Die eindrucksvollen Pro­zesse können leicht verwechselt werden mit effektiver Befassung oder gar Ergebnissen. Zudem bietet der Multilateralismus vielfältige Möglichkeiten, Verantwortung abzugeben, Engagement zurückzunehmen und anderen Akteuren den Vortritt zu lassen (etwa dem Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, den EU-Sonderbeauftragten und den Diplomaten des Europäischen Auswärtigen Dienstes, EAD).

Die fünfte und letzte Form multilateralistischer Außenpolitik könnte man etwas despektierlich als »Biedermeier-Multilateralis­mus« bezeichnen. Auch dafür gibt es etliche Beispiele in der deutschen Europapolitik. Immer wieder saß sie dem Glauben auf, mit dem »Abladen« einer deutschen Zielsetzung auf der Ebene der europäischen Politik sei das Pro­blem auf gutem Weg zu einer Lösung, die deutsche Außenpolitik könne sich demzufolge zurückziehen bzw. zurückhalten. So engagierte sich die deutsche Diplomatie in den 1990er Jahren zwar energisch für die Osterweiterung der Nato und der Europäischen Union, die Umsetzung der Beitritte in den Verhandlungen mit den Kandidaten überließ sie dagegen den beiden beteiligten Organisationen und ihren Bürokra­tien. Und zuvor in den Kriegen im ehemaligen Jugo­slawien drang die deutsche Diplomatie zwar nach­drücklich und richtigerweise darauf, die Auseinander­setzungen zu internationalisieren, indem die ehema­li­­gen Teilrepubliken anerkannt und die Vereinten Nationen mit ihren Möglichkeiten, Frieden zu erzwin­gen, eingeschaltet wurden. Zugleich verwies Bonn aber darauf, dass Deutschland nicht in der Lage sei, die neuen Staaten mit Rüstungsgütern zu beliefern, um ihr Recht auf individuelle Selbstverteidigung gegen die Aggression Serbiens wahr­zunehmen. Eben­so wenig sei Deutschland imstande, an militärischen Zwangsmaßnahmen im Auftrag des VN-Sicherheits­rates mitzuwirken.

Ausblick

Die Ergebnisse dieser Überlegungen lassen sich in vier Punkten zusammenfassen:

1) Der Multilateralismus – und zwar eine sehr spezifische Ausprägung des Multilateralismus – ist konstitutiv und demnach identitätsstiftend nicht nur für die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, sondern für diese selbst. Umgekehrt bedeutet das: Eine grundlegend andere Außenpolitik wäre nur vorstellbar in Verbindung mit einem grundlegend anders verfassten Gemeinwesen in Deutschland.

2) Die spezifische Ausprägung des Multilateralismus in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik ergibt sich aus den normativen Vorgaben des Grund­gesetzes sowie deren Interpretation durch die jewei­ligen Entscheider. Grundsätzlich ist der deutsche Multilateralismus transformatorisch ausgerichtet, das heißt, er zielt auf eine qualitative Veränderung der zwischenstaatlichen Beziehungen zunächst in Euro­pa, darüber hinaus aber auch weltweit.

3) Die Praxis der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik entfaltet sich vor dem Hintergrund, wie die außen- und sicherheitspolitischen Kontexte wahr­genommen werden und wie die Entscheider die nor­ma­tiven Vorgaben der deutschen Außenpolitik jeweils interpretieren. Sie war bislang in der Tat weit­gehend (wenn auch nicht durchgängig) multilateralis­tisch. Damit sind indes nur Handlungskorridore bzw. Parameter außenpolitischen Verhaltens beschrieben; innerhalb dieser Parameter verfügt multilateralis­tische Außenpolitik über ein breites Spektrum spezi­fischer Handlungsmöglichkeiten und konkreter Entscheidungsoptionen. Welche dieser Handlungs- und Entscheidungsoptionen tatsächlich realistisch und wie chancenreich sie sind, hängt von drei zent­ralen Kontextbedingungen ab: den Partnern, der Leistungsfähigkeit internationaler Institutionen und der innenpolitischen Unterstützung. Auf diese Kontextbedingungen kann die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zwar einwirken, aber nur in begrenztem Umfang.

4) Ein Paradox der multilateralistischen Außen­politik Deutschlands bestand (und besteht) seit je darin, dass sie in erheblichem Maße auf Rahmen­bedingungen transformierter zwischenstaatlicher Beziehungen angewiesen ist, die sie selbst zu schaffen bemüht ist. Die Erfolge der deutschen Außen- und Sicherheits­politik in der Vergangenheit beruhten wesentlich darauf, dass sie sich auf starke Partner und leistungsfähige internationale Institutionen stützen konnte – bedingt durch die politisch strukturbildende Kraft des Ost-West-Gegensatzes und nach 1990 durch die erfolgreiche Neubegründung der internatio­nalen Ordnung in den eineinhalb Jahrzehnten des »uni­polaren Moments« der amerikanischen Weltmacht. Diese Voraussetzungen werden jedoch derzeit zu­nehmend prekär.

Wenn Deutschland außenpolitische Herausforderungen meistern will, muss es sich stärker engagieren – dazu ist auch die Unterstützung der Gesellschaft nötig.

Für die Zukunft der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik stellen sich damit qualitativ neue, schwer­wiegende Herausforderungen. Sie muss sich dafür einsetzen, den Bestand der europäischen Integration und die Restbestände einer zerfallenden internatio­nalen Ordnung zu bewahren und auszubauen und – wo möglich – Transformationsprozesse in der zwi­schen­staatlichen Zusammenarbeit weiter voranzutrei­ben. Dazu müsste sie, bildlich gesprochen, einen Gang höher schalten oder, im Stil ihres eigenen Nar­ra­tivs, »mehr Verantwortung übernehmen«. Bislang ist sie diesen guten Absichten, die seit dem Koalitions­vertrag von 2013 immer wieder deklariert werden, allerdings noch nicht wirklich gerecht geworden. Auch die »Allianz für den Multilateralismus« ist zwar sinnvoll und löblich, aber bestenfalls ein marginaler Beitrag zur Bewältigung der anstehenden Aufgaben. Überdies ist (noch) nicht klar, ob die deutsche Gesell­schaft darauf vorbereitet ist, die erforderlichen Res­sour­cen für eine Außen- und Sicherheitspolitik bereit­zustellen, die auf die zu lösenden Herausforderungen zugeschnitten ist. Und nicht zu­letzt muss eine solche Außen- und Sicherheits­politik auf die politische Unter­stützung aus der Gesellschaft zählen können.

Die binationale parlamentarische Versammlung: Treibstoff für den deutsch-französischen Motor

Wolfgang Schäuble

Außenpolitik gilt traditionell als Domäne von Regie­rungen und Präsidenten. Parlamente spielen da eine untergeordnete Rolle. Thomas Jefferson fasste das klassische Staatsverständnis einst in dem Satz zusam­men: »Foreign affairs is executive altogether1 Und auch Alexis de Tocqueville befand, dass sich das demokratische Prinzip nicht für die Regelung auswär­tiger Angelegenheiten eigne. Denn die Außenpolitik »erfordert nahezu keine der Eigenschaften, die der Demokratie eigen sind, dagegen verlangt sie die Ent­faltung von fast lauter solchen, die ihr abgehen«.2

Tocqueville ging bei seinen Überlegungen allerdings davon aus, dass Völker und Nationen unabhängig voneinander existieren. Er konnte das Maß an globaler Verflechtung und wechselseitiger Abhängigkeit nicht vorhersehen, das die Staatenwelt von heute fundamental von der des 19. Jahrhunderts unterschei­det und die Trennlinie zwischen Innen- und Außenpolitik zunehmend verwischt.

Außenpolitik kann längst nicht mehr gänzlich an den Parlamenten vorbei gemacht werden, jedenfalls nicht in den westlichen Demokratien. Das galt auch schon, als Charles de Gaulle und Konrad Adenauer 1963 den Elysée-Vertrag unterzeichneten und damit die Freundschaft zwischen den einstigen Erzfeinden auf gesellschaftlicher Ebene besiegelten und politisch institutionalisierten. Beide wussten selbstverständlich, dass völkerrechtliche Verträge die Zustimmung der Parlamente brauchen, und sie erlebten, dass Rati­fizierungen nicht immer reibungslos vonstatten­gehen. Gleichwohl stand für sie außer Frage, dass der Lauf des deutsch-französischen Motors allein von den Taktgebern an der Spitze beider Staaten abhing. Vermutlich hätten sich weder der Schöpfer der Fünf­ten Republik noch der Erfinder der Kanzlerdemokratie vorstellen können, dass einst ihre Parlamente die eingespielten Mechanismen der deutsch-französi­schen Kooperation um eine neue Qualität ergänzen würden: die Institutionalisierung ihrer parlamen­ta­rischen Zusammenarbeit in einer binationalen Kammer.

Die Gründung der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung

An deren Anfang steht die Rede des französischen Präsidenten an der Sorbonne im September 2017. Emmanuel Macrons leidenschaftliches Plädoyer für ein vertieftes Europa hob sich nicht nur auffallend von der in anderen Hauptstädten herrschenden europapolitischen Verzagtheit ab. Seine ehrgeizigen Pläne enthielten auch den an Deutschland gerichteten Aufruf, mit einem »neuen Elysée-Vertrag« Dyna­mik in den europäischen Integrationsprozess zu bringen. Diese Anregung haben Assemblée nationale und Deutscher Bundestag zügig aufgegriffen und sie mit einer gleichlautenden Entschließung beider Parlamente zum 55. Jahrestag des Elysée-Vertrages am 22. Januar 2018 nachdrücklich unterstützt. Sie haben darin zugleich angekündigt, dem deutsch-französischen Tandem auf parlamentarischem Wege neuen Schwung zu verleihen. Während die Regierungen über den Aachener Vertrag verhandelten, arbeitete eine Deutsch-Französische Arbeitsgruppe aus je neun Mitgliedern des Deutschen Bundestages und der französischen Nationalversammlung den Entwurf eines Deutsch-Französischen Parlaments­abkommens aus. Kernstück dieses Abkommens ist die Gründung der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung, die sich am 25. März 2019 nach der Unterzeichnung der Parlamentsvereinbarung in Paris konstituierte.

Der Versammlung gehören je fünfzig Mitglieder des Deutschen Bundestages und der französischen Nationalversammlung an, die den jeweiligen partei­politischen Proporz ihrer Parlamente repräsentieren und soweit möglich auch das gesamte fachliche Auf­gabenspektrum ihres Parlaments vertreten. Unter Vorsitz der beiden Parlamentspräsidenten tagt die Versammlung zweimal im Jahr, abwechselnd in Frankreich und Deutschland, zuletzt in einer Sonder­sitzung zur Corona-Pandemie als Videokonferenz.

In Gegenwart wie historischer Rückschau ist die binationale Kammer einzigartig.

Skeptiker mögen hier vorrangig politische Sym­bolik vermuten. Tatsächlich bekräftigen beide Par­lamente damit aber nicht nur ein weiteres Mal die besonderen, freundschaftlichen Beziehungen zwi­schen ihren Ländern und die entscheidende Rolle des deutsch-französischen Motors für das gemeinsame Europa. Sie haben vielmehr den erklärten Anspruch, aus ihrer Arbeit heraus Denk­anstöße zu geben und Konkretes voranzubringen – mit Blick auf die grenz­überschreitende Zusammenarbeit, auf die Angleichung deutschen und französischen Rechts und das deutsch-französische Zusammenwirken im Sinne einer vertieften europäischen Einigung. Das binationale Parlament will dazu beitragen, in zentralen politischen Standpunkten Übereinstimmung zwi­schen Deutschland und Frankreich anzubahnen und die parallele Umsetzung in politisches Handeln zu ermöglichen.

Die binationale Kammer verstetigt die Zusammenarbeit zwischen Assemblée nationale und Bundestag über regelmäßige Treffen der Präsidien und gelegentliche gemeinsame Ausschusssitzungen hinaus und soll sie unter Angleichung der Arbeitsmethoden bei­der Parlamente effektiver gestalten. Sie hat sich eine Geschäftsordnung gegeben, fasst Beschlüsse, setzt themenspezifische Arbeitsgruppen ein und schlägt gemeinsame Entschließungen vor, die zwar keines der nationalen Parlamente – und erst recht nicht die Regierungen – binden, aber von Bundestag und Assemblée nationale behandelt werden müssen. Das ist in dieser Form bislang einzigartig – mit Blick auf die gegenwärtigen internatio­nalen Beziehungen und erst recht in der historischen Rückschau.

Gemeinsame Verantwortung – gemeinsame Agenda

Ein erstes Ergebnis der Beratungen der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung war der Entwurf für eine Entschließung zum Vertrag von Aachen. Schon die Tatsache, dass zwei Parlamente den Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages zwischen ihren beiden Ländern nicht nur durch die Verabschiedung von Vertragsgesetzen begleiten, son­dern ihren Regierungen Leitlinien zur Umsetzung des Vertrages an die Hand geben, ist neuartig und steht für ein gewandeltes parlamentarisches Selbstverständnis. Das gilt ebenso für das ehrgeizige Vorhaben beider Parlamente, die inhaltsgleiche Umsetzung europäischer Richtlinien in nationales Recht anzu­streben, wo dies geboten ist.

Assemblée nationale und Deutscher Bundestag beschreiten diesen neuen Weg im Bewusstsein der gemeinsamen Verantwortung für das europäische Projekt und einer wachsenden Dringlichkeit, in Europa und mit Europa voranzukommen. Die breite Mehrheit der Abgeordneten in beiden Parlamenten weiß – wie übrigens auch die Mehrheit der Deutschen und Franzosen –, dass wir nur gemeinsam als Europäer unsere Souveränität sichern und die vor uns liegenden Herausforderungen bewältigen können. »Als EU sind wir wer. Sonst sind wir nichts.« So bün­dig hat es Alfred Grosser formuliert, der große Mittler der deutsch-französischen Annäherung.3

Nicht erst die gegenwärtige globale Pandemie hat offengelegt, wie abhängig die Europäer von der Welt und voneinander sind und auch wie fragil scheinbar Selbstverständliches ist wie etwa freie Grenzen. Die Krisen der vergangenen Jahre – die Banken- und Finanzkrise, die Euro- und Griechenlandkrise, die Flüchtlingskrise, die russische Aggression gegenüber der Ukraine – lehren jede für sich, dass nur euro­päische Antworten wirksame Antworten sein können. Das gilt nicht minder für die anstehenden globalen Aufgaben: für die Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Pandemie und den Kampf gegen die Ausbreitung des Virus, den Schutz des Klimas, den digitalen Wandel, die politische Gestaltung der Globalisierung, die wirtschaftliche Ent­wicklung und politische Stabilisierung von Krisen­regionen, insbesondere auf dem afrikanischen Kon­tinent und im Nahen und Mittleren Osten.

Es ist kein Zufall, dass sich diese Themen auf den bisherigen Tagesordnungen der gemeinsamen Ver­sammlung wiederfinden: die Befragungen der beiden für die deutsch-französische Zusammenarbeit zustän­digen Regierungsmitglieder sowie der beiden Vertei­digungs- und zuletzt der Innenminister, die durchaus kontrovers verlief, die Einsetzung von Arbeitsgruppen zu digitalem Wandel und künstlicher Intelligenz, zur europäischen Klimaschutzpolitik und zur Harmonisierung des deutschen und französischen Wirtschaftsrechts, das einmal in ein gemeinsames europäisches Wirtschaftsrecht münden soll.

Gemeinsamkeit auch in Zeiten der Krise

Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie haben sich Mitglieder des Vorstands der binationalen Ver­sammlung zu konkreten Notwendigkeiten der euro­päischen Zusammenarbeit im Gesundheitsschutz und bei der Krisenbewältigung, aber auch mit Blick auf die spezifischen Probleme der deutsch-fran­zösischen Grenzregionen zu Wort gemeldet.4 Gerade hier, wo das gemeinsame Europa Teil der Lebenswirklichkeit ist, sind die Defizite einer auf den natio­nalen Hori­zont gerichteten Strategie und die Folgen einer un­zureichenden Abstimmung über Grenzen hinweg besonders deutlich geworden. Die Pandemie hat nicht nur die weiterhin bestehenden rechtlichen Hürden im grenzüberschreitenden Arbeits- und Wirtschaftsleben offenbart, sondern auch gezeigt, wie schnell alte Ressentiments wieder aufbrechen können.

Mit meinem Amtskollegen Richard Ferrand stimme ich darin überein, dass wir angesichts dieser Krise ungekannten Ausmaßes nicht nur schnell und soli­darisch handeln müssen, sondern dass wir auch über neue Schritte hin zu mehr Solidarität und finanz­politischer Integration in Europa nachdenken müssen – wohlwissend, dass unsere beiden Länder dabei für unterschiedliche Ansätze stehen. Während Frankreich bereits in der Eurokrise für gemeinsame Staats­anleihen als Zeichen europäischer Solidarität plädierte, lehnt die deutsche Seite eine gesamtschuldnerische Haftung mit Blick auf die europäischen Verträge und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ab. Dennoch ist es Deutschland und Frankreich gelun­gen, sich auf einen gemeinsamen Vorschlag für einen europäischen Wiederaufbaufonds zu einigen, der den Bedenken und Forderungen beider Seiten gerecht wird.

Genau darum geht es in der deutsch-französischen Kammer: den nationalen Blickwinkel stärker als bis­lang im Sinne einer europäischen Perspektive zu weiten. Das bedeutet, im parlamentarischen Alltags­geschäft die legitime Position des anderen zu ver­stehen und in die eigene Perspektive einzubeziehen, um zum gemeinsamen Handeln zu kommen.

Nationale Unterschiede und gemeinsame Lernprozesse

Das geschieht im Wissen um die Unterschiede in der Verfassungstradition, in der Rechtslage, in der politi­schen Kultur. Das Präsidialsystem der Fünften Repub­lik ist mit der parlamentarischen Demokratie, wie sie das Grundgesetz ausformuliert, nicht identisch. Der Zentralismus des französischen Staatswesens unter­scheidet sich fundamental vom Föderalismus der Bundesrepublik mit ihren Ländern. Der Bundesrat ist eben auch etwas anderes als der französische Sénat. Und während Deutschland – wie es einmal in einem Kommentar hieß – vom »Prinzip des aufgeklärten Verwaltungsfortschritts«5 geprägt ist, zählen in Frank­reich stärker das entschlossene, mitreißende Wort eines vom Volk gewählten Präsidenten und der Druck von der Straße.

Es geht nicht darum, die beiden politischen Systeme einander anzugleichen. Es geht um ein vertieftes Verständnis für andere Auffassungen, die auch aus unterschiedlichen politischen Kulturen in der Ent­scheidungsfindung und in der Rechtsanwendung und nicht zuletzt aus der Geschichte resultieren – und die jeweils ihre Berechtigung und ihre spezifischen Vor- und Nachteile haben. Erst das wechselseitige Verständnis ermöglicht einen produktiven Ausgleich über Differenzen hinweg. Es geht mit anderen Wor­ten darum, voneinander zu lernen, um als Deutsche und Franzosen gemeinsam zu denken.

Bereits im Ringen um die Gemeinsame Geschäftsordnung der deutsch-französischen Kammer trafen die unterschiedlichen Parlamentskulturen aufeinander. Gleichwohl konnten strittige Punkte wie etwa die Frage der Aus­gestaltung des Quorums zur Beschlussfassung oder einer Stellvertreterregelung nach kontro­verser Debatte gelöst werden.

Historische Entwicklungen sind immer auch Lern­prozesse, wie die euro­päische Geschichte in besonderer Weise lehrt. Nicht nur die Europäische Union ist aus einem solchen Lernprozess hervorgegangen, der auf die ersten Ideen eines vereinigten Europas zurück­geht, die in der europäischen Friedensbewegung des 19. Jahrhunderts aufkamen. Auch die Überwindung der seit dem Krieg von 1870/71 bestehenden deutsch-französischen Erbfeindschaft wurde auf­grund eines Umdenkens möglich, das sich mit den Außenministern Aristide Briand und Gustav Stresemann erstmals in politischem Handeln niederschlug. Dem Schuman-Plan vor siebzig Jahren ging die französische Über­legung voraus, Sicherheit vor Deutschland nicht mehr durch wirtschaftliche und politische Eindämmung des Nachbarn, sondern durch dessen Einbindung zu erreichen. Nur fünf Jahre nach Kriegsende den Deut­schen die Hand zur Partnerschaft anzubieten bedeu­tete einen Bruch mit der bisherigen Strategie und war überdies geradezu kühn: Noch Ende der 1950er Jahre waren fast drei Viertel der Franzosen überzeugt, dass »das deutsche Volk gefährlich« sei. Umgekehrt mach­ten zwei Drittel der Deutschen die französische Seite für das schwierige Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich verantwortlich.6

Inzwischen sind die Beziehungen zwischen den Menschen in beiden Ländern von großer gegenseitiger Sympathie geprägt, die Umfragen zufolge von politischen »Beziehungskrisen« nur wenig berührt wird. Die massiven Beschränkungen in der Grenz­region im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus waren allerdings ein Stresstest auch für die all­täglichen deutsch-französischen Beziehungen. Trotz­dem: Vermeintliche nationale Eigenarten scheinen zwar erstaunlich beständig, wie sich in den noch immer anzutreffenden Zuschreibungen stereotyper Wesenszüge von den leichtlebigen, genussfreudigen, un­zuverlässigen Franzosen und den fleißigen, stren­gen, humorlosen Deutschen andeuten. Aber dennoch sind sie wandelbar, weil sich Gesellschaften verändern und Kulturen nicht statisch sind.

In den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts untersuchte François Perroux den Unterschied im Denken zwischen den beiden Nachbarstaaten Deutschland und Frankreich, die sich im Zuge der Locarno-Politik angenähert hatten. Der französische Wirtschaftswissenschaftler befand: »Die beiden Part­ner [sprechen] nicht die gleiche Sprache und [haben] unterschiedliche geistige und moralische Werte.« Begründet in der jeweiligen Mentalität sah er un­überbrückbare Gräben zwischen Deutschland und Frankreich. Die Deutschen interessierten Verträge oder Regeln nicht, so Perroux. Für sie zähle allein Treu und Glauben, der Staat werde die Dinge schon richten. Die Haltung der Franzosen beschrieb er als diametral entgegengesetzt: In Frankreich sei die Vertragstreue anerkannt als dauerhafte und absolute Richtschnur.7

Es war kühn von Frankreich, den Deutschen kurz nach Kriegsende eine Partnerschaft anzubieten.

Dieses Urteil ist deshalb bemerkenswert, weil es unsere gängige Vorstellung der unterschiedlichen nationalen Eigenarten von Franzosen und Deutschen geradezu auf den Kopf stellt. In ihrer Analyse des Euro als Kampf der Wirtschaftskulturen führen die Ökonomen Markus Brunnermeier, Harold James und Jean-Pierre Landau die Aussagen Perroux’ als Beispiel für die Veränderungsfähigkeit moderner Gesellschaften an. Sie selbst beschreiben die heutigen Unterschiede in der politisch-ökonomischen Herangehensweise Deutsch­lands und Frankreichs genau umgekehrt. Die Franzosen verfügen demnach über die Er­fahrung eines starken, effizienten Staates, der Krisen bewältigen kann, ohne dabei auf Regeln ver­sessen zu sein. Die Deutschen dagegen, geprägt von der föde­ralen Tradition mit einer schwachen Zentral­macht, versuchen Krisen möglichst zu vermeiden – und zwar durch Regeln.

Keine dieser Auffassungen kann für sich reklamieren, die einzig richtige zu sein – auch wenn jede Seite verständlicherweise die eigene, gut begründete Sichtweise für die beste hält. Wer um die unterschiedlichen Wirtschaftskulturen weiß, wird sich deshalb kaum über die konfliktreichen, zähen Ver­handlungen wundern, die deutsche und französische Finanzminister über den Umgang mit der europäischen Staatsschuldenkrise und die Hilfen für Grie­chenland geführt haben. Diese Kulturen prägten und prägen die Debatten über die verstärkte fiskalpolitische Überwachung, die wirtschaftspolitische Steue­rung in der Wirtschafts- und Währungsunion und die Europäische Bankenunion. Sie liegen auch den unter­schiedlichen Vorstellungen über die Ausgestaltung des europäischen Wiederaufbaufonds zugrunde, der die wirtschaftliche Erholung der besonders betroffenen Staaten nach der Corona-Pandemie unterstützen soll.

Die Kenntnis solcher nationalen Unterschiede in der Gemeinschaft von 27 Staaten ist wichtig und not­wendig. Aber Kompromisse ergeben sich daraus nicht von selbst. Entscheidend ist vielmehr, im Respekt vor diesen unterschiedlichen Herangehensweisen, die in spezifischen historischen Umständen und Erfahrungen begründet sind, zu Lösungen zu kommen, die für alle akzeptabel sind. Das erfordert in letzter Konsequenz die Bereitschaft, die eigenen althergebrachten Sichtweisen zu hinterfragen und ein Stück weit davon abzurücken.

Die Gemeinsame Außen- und Sicherheits­politik und die »europäische Souveränität«

Besonders dringend erscheint dies in der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. In einer Welt, die zunehmend von strategischer Riva­lität zwischen den großen Mächten geprägt ist und in der die regelbasierte internationale Ordnung erodiert, muss die Europäische Union den Anspruch und vor allem die Fähigkeiten entwickeln, ein ernstzunehmen­der globaler Akteur zu werden. Emmanuel Macron hat dafür den Begriff der »europäischen Souveränität« benutzt. Denn keiner der europäischen Staaten ver­fügt über die Kapazitäten, die globalen Ordnungs­fragen wirkungsvoll im europäischen Sinne zu beant­worten. Nur gemeinsam kann es den Europäern ge­lingen, ihr besonderes Modell zu bewahren, das in den Werten und Prinzipien der Französischen Revo­lution wurzelt: die Verbindung von Freiheit und sozia­ler Gerechtigkeit, von Fortschritt und Nachhaltigkeit, von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und universellen Menschenrechten.

Die Europäische Union muss mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit übernehmen. Das bedeutet auch, sich intensiver als bislang um die Krisenregio­nen an der europäischen Peripherie zu kümmern, sich stärker für den Erhalt einer multilateralen Ord­nung und für den Schutz kritischer Infrastrukturen zu engagieren. Zu einem außen- und sicherheits­politischen Konzept, das Diplomatie, ziviles Krisenmanagement, polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit, aber auch Entwicklungs-, Handels- und Ein­wanderungspolitik einschließt, zählen am Ende auch die Bereitschaft und die Fähigkeit, militärische Ge­walt anzuwenden.

Deutschland und Frankreich haben hier eine Führungsverantwortung, die mit dem Ausscheiden Großbritanniens aus der Union noch größer geworden ist.

Ein erster Schritt war der Beschluss zur »Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit« in der Verteidigungspolitik, zur PESCO, die auf eine Initiative Frank­reichs und Deutschlands zurückgeht. Im Ver­trag von Aachen bekennen sich beide Länder darüber hinaus zum Aufbau einer Europäischen Verteidigungsunion im Rahmen des vernetzten Ansatzes.

Wer die nationalen Armeen integrieren will, braucht eine gemeinsame Risiko- und Bedrohungsanalyse, die Konsolidierung der Sicherheits- und Ver­teidigungsindustrien und gemeinsame strategische Ziele. Das setzt voraus, dass Deutschland und Frank­reich in sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen eine gemeinsame Kultur entwickeln. Dass eine Verständigung auch über kontroverse Themen mög­lich ist, belegt das deutsch-französische Abkommen über gemeinsame Regeln für Rüstungsexporte, ein erster, wichtiger Erfolg der mit dem Aachener Vertrag intensivierten deutsch-französischen Partnerschaft im Verteidigungssektor.

Unterschiedliche strategische Kulturen und Rollenbilder

Mit dem Parlamentsabkommen und der binationalen Versammlung haben die Abgeordneten einen Rah­men geschaffen, den sie verstärkt nutzen sollten, um sicherheitspolitische Belange und unbequeme Sach­fragen zu debattieren, die wechselseitigen Erwartungen offen zu artikulieren und die Möglichkeiten einer Annäherung auszuloten. Vermutlich weichen Fran­zosen und Deutschen trotz unterschiedlich gelagerter Prioritäten in ihren großen außenpolitischen Ziel­setzungen sehr viel weniger voneinander ab als in ihrem jeweiligen außen- und verteidigungspolitischen Selbstverständnis. Diese fundamentalen, histo­risch bedingten Unterschiede in den Rollenbildern lassen sich mit dem Politikwissenschaftler Hanns W. Maull auf französischer Seite als Dreiklang aus »independence, activism und global presence«, auf deutscher hingegen durch die Schlagworte »never again, never alone und politics before force« be­schreiben.8

Hierin gründen divergierende Vorstellungen von der verteidigungspolitischen Zusammenarbeit und der Rolle des Militärs. So hegen die Deutschen ein anderes Verhältnis zur Nato als die Franzosen, weil sie in Zeiten der staatlichen Teilung und stark ein­geschränkter Souveränität die existentielle Abhängigkeit ihrer Sicherheit von der Nato ganz anders erfah­ren haben als eine Atommacht mit ständigem Sitz im VN-Sicherheitsrat. Dieser Konfliktpunkt bestand von Anfang an. Bekanntlich verankerte der Bundestag zum Verdruss de Gaulles das transatlantische Bünd­nis in einer Präambel zum Elysée-Vertrag. Wenn die EU auch auf militärischem Gebiet souveräner werden muss, dann heißt das aus deutscher Sicht: nicht als Alternative zur Nato, sondern um das transatlantische Bündnis zu kräftigen. Denn auf absehbare Zeit bleiben die Europäer für ihre Sicherheit auf den nord­atlantischen Verteidigungspakt angewiesen.

Deutschlands verteidigungspolitische Zurückhaltung darf keine Ausrede sein, anderen die Lasten militärischen Engagements zu überlassen.

Grundlegend ist ein weiterer Unterschied: Während für Franzosen militärische Stärke zum nationalen Selbstverständnis gehört, haben Deutsche aus nachvollziehbaren, schwerwiegenden historischen Gründen eine Kultur der Zurückhaltung verinnerlicht. Diese »zivile Sonderwegsmentalität«9 zeigt sich auch dreißig Jahre nach Wiedererlangung der vollen staatlichen Souveränität in einer verfestigten politi­schen Stimmung gegen jedwedes militärische Engage­ment. Fast zwei Drittel der Deutschen würden einen deutschen Militärbeitrag auch im Fall einer russischen Aggression gegen ein Nato-Mitglied ablehnen, wie eine Befragung ergeben hat.10 Es fällt ihnen über­dies schwer anzuerkennen, dass militärische Inter­ventionsmacht nötig ist, um die freie Weltordnung zu erhalten und die Gegenkräfte freiheitlicher Demokratien zu kontrollieren, und dass dies nicht nur mate­rielle Kosten verursacht, sondern auch einen morali­schen Preis hat, wie der amerikanische Historiker Robert Kagan hervorhebt.11

Hier stehen den Deutschen unbequeme Debatten ins Haus. Sie müssen versuchen zu begreifen, dass es bei Themen wie dem Parlamentsvorbehalt für mili­tä­rische Einsätze oder bei Rüstungsexporten nicht allein um die innenpolitische Sicht, sondern auch um die Verlässlichkeit Deutschlands gegenüber Partnern und Verbündeten geht. Die deutsche verteidigungs­politische Zurückhaltung darf keine Ausrede sein, Fran­zosen und anderen Bündnispartnern die mate­riellen und moralischen Lasten militärischen Engage­ments zu überlassen.

Der Austausch und die Arbeit in der gemeinsamen Parlamentskammer können dazu beitragen, solche nationalen Selbstblockaden zu überwinden. Ich bin jedenfalls überzeugt, dass es ohne die Hilfe der fran­zösischen Freunde und der europäischen Partner, die ein legitimes Schutzbedürfnis artikulieren, für die Deutschen schwer wird, ihre historisch begründeten verteidigungspolitischen Hemmnisse hinter sich zu lassen.

Der deutsch-französische Motor

Europa braucht politische Führung, erst recht nach den Disruptionen infolge der Corona-Pandemie. Diese Führungsarbeit müssen Deutschland und Frankreich zusammen leisten, um das europäische Projekt voran­zubringen. Ohne den deutsch-französischen Motor stockt es im Europa der 27 noch weit mehr als im Europa der Sechs – zumal in einer EU, die so starken politischen Fliehkräften ausgesetzt ist wie nie zuvor in ihrer Geschichte. »Freundschaft reicht nicht mehr, um in der EU zu Entscheidungen zu kommen«, hat der französische Finanzminister Bruno Le Maire zu Recht konstatiert.12

Dabei war der deutsch-französische Motor zu keinem Zeitpunkt ein Selbstläufer, der aus lauter Freundschaft funktionierte. Davon zeugen zahlreiche Konflikte: vom Streit um die Gemeinsame Agrar­politik, die unter Präsident de Gaulle zur »Politik des leeren Stuhls« führte, bis zum Dissens über die Reform der Eurozone. Es zeichnet die deutsch-franzö­sische Zusammenarbeit gerade nicht aus, dass beide Seiten von vornherein in ihren Interessen und Priori­täten übereinstimmen. Vielmehr ist es das »Prinzip der produktiven Gegensätze«,13 das den Motor zum Laufen bringt, indem unterschiedliche, aber komple­mentäre Interessen ineinandergreifen und da­durch einen europäischen Antrieb erzeugen. Die verschiedenen politischen und ökonomischen Tradi­tionen sorgen zwar für Reibungen, können sich aber inso­fern als Vorteil erweisen, als sie die zwischen Deut­schen und Frankreich ausgehandelten Kompromisse für andere europäische Partner annehmbar machen.

Deswegen sollten die deutsch-französischen Debatten in der gemeinsamen Kammer die Sicht anderer Europäer nicht vergessen. Nur wenn die Bemühungen in beiden Staaten auf eine gesamteuropäische Per­spektive zielen, kann die binationale Versammlung ihrem selbstgesetzten Ziel gerecht werden, »die Inte­gration innerhalb der Europäischen Union in allen Bereichen zu fördern«.14

Wenn Deutscher Bundestag und Assemblée nationale mit ihrer engen institutionalisierten Zusammenarbeit konkrete Projekte voranbringen, soll das zu­gleich europäische Lösungen mit anstoßen und auch als Vorbild für andere in Europa wirken. Daran knüpft sich selbstverständlich nicht die Erwartung, diese besondere Form der intensiven interparlamentarischen Kooperation auf wei­tere Parlamente auszu­dehnen. Das wäre schlicht nicht möglich. Aber mittel- und langfristig sollten wir, Deutsche und Franzosen, uns bemühen, auch die parlamentarischen Beziehungen zu anderen Partnern zu vertiefen, vor allem zu Polen.

Die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung ist eine noch junge Institution. Ob sie die mit ihr verbundenen Hoffnungen erfüllen kann, hängt von engagierten, gestaltungswilligen Parlamentariern ab, die das große Potential dieser neuartigen institutionellen Zusammenarbeit ausschöpfen.

Parlamente sind keine Regierungen; sie können diese nicht ersetzen. Aber sie können auch mehr, als ihren Regierungen »nur« auf die Finger zu schauen: durch eigene Impulse die politische Dynamik ver­stär­ken und so die nötigen Entwicklungen vorantreiben. Für die Zeit nach der Corona-Pandemie ist dies drin­gend und notwendig. Wir müssen gemeinsam als Europäer daraus Lehren ziehen und unserer Wirtschaft einen kräftigen technologischen Schub geben, der zugleich auf mehr Nachhaltigkeit und globale Gerechtigkeit zielt. Die Deutsch-Französische Parla­mentarische Versammlung wird dazu einen Beitrag leisten. Wenn es gelingt, die anstehenden Heraus­forderungen als europäische Gemeinschaftsaufgaben sichtbar und begreifbar zu machen, trägt sie zugleich dazu bei, Europa als Schicksalsgemeinschaft zu formen.

Die Mär vom »deutschen Drückeberger«: Ein Einwurf wider die »Bellizisten« in Publizistik, Politik und Wissenschaft

Rolf Mützenich

Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik hat bei der Mehrheit der Mitglieder der sicherheitspolitischen Community und bei vielen Leitartiklern der Hauptstadtpresse derzeit keinen guten Ruf. In der Diagnose sind sie sich einig: Deutschland »verzwerge« sich ohne Not selbst, wäre gerne eine »Art große Schweiz« und weigere sich, außen- und sicherheitspolitische Führung zu übernehmen. Die Bundesregierung gebe zwar »kluge« Kommentare vom Seitenrand ab, drücke sich ansonsten aber vor ihrer »weltpolitischen Ver­antwortung«. Lediglich der Grad an Heftigkeit der Vorwürfe und die Adressaten unterscheiden sich. Da ist, speziell an die Adresse von Linkspartei und SPD gerichtet, die Rede von »Drückebergerei« und vom sicherheitspolitischen »Trittbrettfahrer«, der sich von den Partnern im Bündnis die Kastanien aus dem Feuer holen lässt und hinterher alles besser weiß. Darüber hinaus werden neutralistische oder – aus dieser Perspektive noch schlimmer – pazifistische Sonderwege und mangelnde Führungsbereitschaft und Bündnistreue diagnostiziert.

Stellvertretend sollen hier einige Stimmen aus Wissenschaft, Politik und Medien zu Wort kommen, die einen unvollständigen, aber durchaus repräsen­tativen Querschnitt bilden. So spöttelt Josef Joffe: »Die Deutschen feiern sich […] als ›Friedensmacht‹ (Willy Brandt), die mit der ›Kultur der Zurückhaltung‹ märchenhaft reüssiert hat. Die höhere Moral wirft zudem hohen realpolitischen Gewinn ab. Derweil die Westmächte rings um die Welt Gut und Blut opfer­ten, konnte die Republik den eigenen Garten bestel­len.«1 Und Wolfgang Ischinger sekundiert: »Eine schlagkräftige Diplomatie erfordert es leider – wenn es um Krisen geht –, notfalls auch mit militärischen Mitteln drohen zu können. Das Militärische sollte man als ein Instrument unter mehreren im Instrumentenkasten haben. Wenn man das nicht hat, wird Diplomatie häufig zur rhetorischen Hülse. Dann kann man lange beklagen, wie schlimm es in Syrien ist, aber Nullkommanichts ändern.«2 Und auch Bun­destagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) plädierte für eine Ausweitung der deutschen Militäreinsätze. Deutschland könne sich nicht »wegducken« und »alles den Franzosen und den Amerikanern überlassen. Die Lehre aus Auschwitz kann kein Argument dafür sein, dauerhaft kein Engagement zu über­nehmen.«3

Wenn Deutschland »nur« mit ECR-Tornados zur Luftaufklärung einen Beitrag leistet, heißt es prompt: »Die Deutschen schießen Fotos, die anderen scharf.«4 Offensichtlich muss da einiges kompensiert werden.5 Als Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karren­bauer ohne Absprache einen nicht durchdachten Plan für eine internationale Schutzzone in Nordsyrien vor­stellte, kannte die Begeisterung im Berliner Blätterwald keine Grenzen. Man bewunderte ihren »Mut« und begrüßte »den Bruch mit Deutschlands ›Kultur der militärischen Zurückhaltung‹«.6 Dem spätestens seit 2014 immer eindringlicher beschworenen Para­digmenwechsel hin zu mehr (gerne auch militärischer) Verantwortung sollten endlich Taten folgen, wo und wie, wird da fast schon zur Nebensache.

Ganz offenkundig werden vom deutschen Journalismus und von der deutschen Wissenschaft an die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik besonders strenge Maßstäbe angelegt. Meine Forderung nach einer Debatte über die nukleare Teilhabe und die Rolle von Nuklearwaffen hat erwartungsgemäß Zu­spruch gefunden, aber auch scharfe Kritik ausgelöst – bis hin zu dem Vorwurf, sie würde das Ende der Nato und der Westbindung der SPD einläuten. Wäh­rend Donald Trump die Nato für obsolet erklärt, Emmanuel Macron gar deren »Hirntod« diagnostiziert und Recep Erdoğan russische Luftabwehrraketen kauft und an der Seite Putins im Bürgerkrieg in Syrien mitmischt, soll die eigentliche Bedrohung für das »mächtigste Bündnis der Weltgeschichte« davon ausgehen, dass zwanzig Nuklearbomben aus Deutsch­land abgezogen werden? Hier scheinen mir doch die Maß­stäbe gehörig durcheinandergeraten zu sein, zumal die Forderung keine ganz neue ist.

Militärisch sind die Kriege und Konflikte in Afghanistan, Syrien oder der Sahelzone nicht zu überwinden.

Eine wohltuende Ausnahme von dieser Ad-hoc-Kommentierung, die oftmals mit einem merkwürdigen »Hurra-Patriotismus« einhergeht, bildet die wissenschaftliche Begleitung und Beratung durch die SWP und ihren Direktor Volker Perthes, der unter anderem in den Fragen Israel, Nahost, Jemen, Libyen und Syrien zu einem unbestechlichen, klugen und ausgewogen urteilenden Experten und Ratgeber für die praktische Politik geworden ist. Seine Expertise und die seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben auch die Außen- und Sicherheitspolitiker und ‑politikerinnen der SPD-Bundestagsfraktion in den vergangenen Jahren gerne und auf vielerlei Weise in Anspruch genommen.

Hier zeigt sich der Unterschied zwischen seriöser, wissenschaftlich fundierter Politikberatung und der Kommentierung durch einige Meinungsmacher, die allem Anschein nach am liebsten selbst Politik machen würden und sich ohnedies für die besseren Politiker halten. Berichterstattung und Netzdebatten gieren zunehmend nach Rücktritten und Krisen und reduzieren Politik oft auf persönliche Dramen. Die komplizierten und komplexen Entscheidungssitua­tionen der Politik – gerade der Außenpolitik – ver­kürzen Kommentatoren immer häufiger auf immer banalere Personalisierungen und simple Wahrheiten. Denkt Politik nach, bittet sie um Geduld, prüft und debattiert sie, dann wird sie bestenfalls karikiert und nicht selten verachtet.

Drückeberger Deutschland?

Es soll hier nicht darum gehen, berechtigte Kritik beispielsweise an der mangelhaften Ausstattung der Bundeswehr abzutun oder gar einem idealisierten Bild deutscher Außenpolitik das Wort zu reden. Einige Fragen mögen dennoch erlaubt sein: Ist man verantwortungslos, wenn man nicht bei jedem gefor­derten militärischen Einsatz »Hurra« ruft? War das »Nein« Gerhard Schröders zum völkerrechtswidrigen Irak-Krieg 2003 Ausdruck von »Feigheit« oder nicht viel­mehr Ausdruck deutscher Verantwortung? Wie sollte denn nach Vorstellung der Kritiker eine »angemessene deutsche Rolle in der Welt« konkret aussehen? Können Militärflugzeuge über Nordsyrien Assad (und Putin am besten gleich mit) zur Räson bringen? Sind Marineverbände die erste Wahl, um in einem unübersichtlichen Konfliktgeschehen die freien Seewege in der Straße von Hormuz gegen den Iran zu verteidigen oder – wenn es nach der Ver­teidigungsministerin geht – zusammen mit den USA die aufstrebende Weltmacht China im Südchinesischen Meer einzudämmen?

Internationale Verantwortung bedeutet nicht, blindlings einem starken, aber derzeit unberechen­baren Verbündeten hinterherzurennen, sondern zeigt sich darin, dass man die komplexe Dimension eines Konflikts erkennt und entsprechend alle zur Verfü­gung stehenden Mittel der Außen- und Sicherheits­politik zur Anwendung bringt. Dazu gehören in ers­ter Linie Diplomatie, gute Dienste, Prävention und humanitäre Hilfe. Völkerrechtskonforme militärische Mittel können hingegen im besten Fall schwersten Menschenrechtsverbrechen ein Ende zu setzen und Zeitfenster schaffen oder dazu dienen, Konflikte zu überwachen und gegebenenfalls einzufrieren, wie auf dem Balkan. Die Vergangenheit hat aber auch gezeigt, dass sich die Kriege und Konflikte in Afghanistan, Syrien oder in der Sahelzone nicht mit militärischen Mitteln überwinden lassen. Eine schonungslose Bilanz des Afghanistan-Einsatzes kann kaum die Augen vor der Tatsache verschließen, dass diese Mission weit­gehend gescheitert ist. Die Frage, ob die Tausenden von Milliarden, die die internationale Gemeinschaft seit 2001 für das militärische Engagement aufgebracht hat, nicht anderweitig besser angelegt gewesen wären, ist legitim – von den Toten, die diese Mission auf allen Seiten gekostet hat, ganz zu schweigen. Auch auf dem Balkan ist es zwar gelungen, das Morden der jugoslawischen Erbfolgekriege zu beenden – das Ergebnis ist jedoch alles andere als zufriedenstellend. Bosnien-Herzegowina und das Kosovo sind und blei­ben Protektorate, die auf unabsehbare Zeit am Tropf des Westens hängen. Die herrschenden korrupten Eliten haben sich mit dieser Situation nicht zuletzt deshalb arrangiert, weil sie in erheblichem Ausmaß davon profitieren.

Einsicht in begrenzte Möglichkeiten und zu hohe Erwartungen

Der Erzählung vom »deutschen Drückeberger« kann und muss man deshalb durchaus selbstbewusst ent­gegentreten, ohne dabei zweifelsohne vorhandene Fehler und Versäumnisse zu verleugnen. Diplomatie ist und bleibt gerade in unserer immer komplexer werdenden Welt die Einsicht in die Begrenztheit unserer Möglichkeiten, ohne daran zu verzweifeln. Als Deutschland, als Teil der Europäischen Union (EU) und des »Westens« können wir die Welt nicht nach unserem Bilde und besonderen Interessen gestalten. Folglich dürfen wir unsere Außenpolitik auch nicht mit zu großen Erwartungen überfrachten. Wer »mehr Verantwortung« und »mehr Engagement« sofort mit »mehr Militär« gleichsetzt, macht es sich nicht nur zu einfach, er wird auch der Komplexität dieser Welt nicht gerecht. Vor dem Hintergrund des vergangenen Jahrhunderts erfordert der Einsatz von deutschen Streitkräften auch in Zukunft eine ständige politische Untermauerung und parlamentarische Mandatierung.

Deutsche Außenpolitik – besser als ihr Ruf

Die deutsche Außenpolitik unter den sozialdemokratischen Ministern Steinmeier, Gabriel und Maas hat keinen Grund, ihre Erfolge zu verschweigen, und keinerlei Anlass, in Sack und Asche zu gehen. Die deutsch-französischen Bemühungen im Normandie-Format um Frieden in der Ostukraine, der militärische Beitrag der Bundeswehr im Baltikum im Rah­men der Nato-Vorwärtsverteidi­gung, der deutsche Anteil bei der Stabilisierung des Balkans, die Zentral­asien­strategie von Frank-Walter Steinmeier, deutsche Soldaten in Mali, der deutsche Beitrag zum Abschluss des Iran-Atomabkommens im Rahmen der EU‑3+3, die Teilnahme am Afghanistan-Einsatz und zu­letzt unter Heiko Maas die »Allianz für den Multilateralismus« sind nur ein kleiner Ausschnitt. Hinzu kom­men zahllose Initiativen zur Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung, das Management der Finanzkrise, die Aufnahme von 1,5 Millionen Flücht­lingen, humanitäre Hilfe, die Vermittlungsbemühungen im Syrien-Krieg und zuletzt die Berliner Libyen-Konfe­renz sowie der Macron-Merkel-Plan für ein europäisches Wiederaufbauprogramm zur Bewältigung der wirt­schaftlichen Folgen der Corona-Krise.

Deutschland hat seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr nur seine wirtschaftliche Stärke in die Waagschale geworfen, sondern zunehmend auch seinen gewachsenen politischen Einfluss. Besonders deutlich wurde dies in der Finanz- und in der Staats­schuldenkrise – und beileibe nicht alle Partner waren von dieser Einflussnahme begeistert. Wenn dies Ausweis für Drückebergerei oder gar Duck­mäusertum sein soll, frage ich mich, in welcher Welt die (Pauschal-)Kritiker der deutschen Außenpolitik eigentlich leben.

Und was zeigt sich denn, wenn man einen vergleichenden Blick auf andere Staaten und »Führungsmächte« richtet? Wie verantwortungsvoll ist die amerikanische Außenpolitik unter Donald Trump? Agierte und agiert die politische Klasse Großbritan­niens in der Brexit-Frage verantwortungsbewusst? Ist der autoritäre chinesische Überwachungsstaat ein Vorbild? Von der verbrecherischen Expansionspolitik Putins auf der Krim, in der Ostukraine und in Syrien und seinen Versuchen, den Westen zu destabilisieren, brauchen wir ebenso wenig zu reden wie von den Bolsonaros, Erdoğans, Orbáns und Kaczyńskis dieser Welt. Die Corona-Pandemie hat nochmals wie in einem Brennglas aufgezeigt, wo verantwortungsvolle Politik gemacht wird und wo nicht.

Angesichts neuer Großmachtrivalitäten, des ökonomischen und geopolitischen Expansionismus Chinas, des russischen Revisionismus, territorialer Konflikte und des Zerfalls der internationalen Ord­nung bleiben Nachhaltigkeit, Regeln, internationale Organisationen und Multilateralismus mittel- und lang­fristig die einzigen Optionen, den globalen Her­ausforderungen zu begegnen: der Digitalisierung, dem Klimawandel, der Migration. Die Modelle Trump, Putin und Xi sind nicht dazu geeignet, die großen glo­balen Aufgaben und Krisen in den Griff zu bekom­men. Nicht zuletzt hat die Corona-Pandemie gezeigt, dass es zur Bewältigung der meisten internationalen und existentiellen Herausforderungen ziviler Mittel bedarf.

Auch der Westen selbst ist alles andere als immun gegen Anfeindungen und Erosion. Die Verachtung für den Multilateralismus, die in Politik und Rhetorik Donald Trumps zum Ausdruck kommt, stellt Bünd­nisbeziehungen und Allianzloyalitäten zur Disposi­tion, der russische Präsident zieht Grundprinzipien der Nachkriegsordnung in Zweifel, während Orbán und Kaczyński den Wertekanon der Europäischen Union mit Füßen treten. Spätestens seit der Corona-Pan­demie scheinen sich die USA endgültig als Füh­rungsmacht zu verabschieden. Donald Trumps Ver­such, sich einen in Deutschland erforschten Impfstoff exklusiv für die USA zu sichern, seine Entscheidung, die US-Zahlungen an die Weltgesundheitsorganisa­tion einzustellen, und das Schüren von Rassenhass und Unruhen im eigenen Land sind deutliche Indi­zien für den (hoffentlich nur temporären) Abschied von der amerikanischen Führungsrolle in der Welt.

Die EU als deutsches Schicksal

Nach der deutschen Wiedervereinigung, den EU-Osterweiterungen sowie der Umsetzung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion schien Europa in den 1990er und 2000er Jahren auf einem vielversprechenden Weg zu sein. Dieser fand mit der globalen Finanzkrise 2008 ein abruptes Ende. Die 2010er Jahre waren gekennzeichnet von Krisen und Rückschritten, die zu einer tiefen wirtschaftlichen wie sozialen Nord-Süd-Spaltung führten. Die Reaktion auf die Flüchtlingskrise 2015 war fast überall in Europa von nationalen Alleingängen geprägt. Das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU ist der vorläufige Höhepunkt eines zunehmenden Nationalismus und Protektionismus, die in Europa weithin um sich greifen. Auch die deutsche Politik trägt für die Krise der EU Mitverantwortung. Sie hat in der Finanzkrise häufig national und egoistisch reagiert.

Nicht nur das Coronavirus, sondern auch der Nationalismus verbreitet sich pandemisch. Wir brau­chen daher dringend einen neuen Geist des Zusammenhalts einer europäischen Sicherheitsgemeinschaft. Deutschland ist infolge der Corona-Pandemie als wichtiges Land gefragter denn je. Die Erwartungen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ab dem 1. Juli dieses Jahres sind gewaltig. Umso wichtiger war es, dass es Deutschland und Frankreich gelungen ist, auf dem historischen EU-Gipfel in Brüssel vom 17. bis 22. Juli eine Einigung auf das größte Finanz- und Rettungspaket der EU-Geschichte mit einem Gesamtumfang von 1,8 Billionen Euro zu erreichen, davon 750 Milliarden für ein Konjunktur- und Investitionsprogramm gegen die Folgen der Pandemie. Das Euro­päische Parlament muss dieses Paket noch beraten und bestätigen.

Corona bietet die Chance für einen Neustart der EU und international für neue Abrüstungsinitiativen.

Auch wenn der Anteil der Zuschüsse, die nicht zurückgezahlt werden müssen, auf Druck der »spar­samen Fünf« von 500 auf 390 Milliarden Euro gesenkt und die Einigung auf einen Rechtsstaatsmechanismus vertagt bzw. an die EU-Kommission überwiesen wur­de, hat die EU doch in dieser existentiellen Krise ihre Kompromiss-und Handlungsfähigkeit bewiesen. Ob es sich dabei um den von Olaf Scholz erhofften »Hamil­ton-Moment«7 handelt, wird die Zukunft zeigen. Dies wird nicht zuletzt auch davon abhängen, ob es der EU gelingen wird, eine gemeinsame Wirtschafts- und Sozialpolitik zu entwickeln.

Die Corona-Pandemie bietet aber auch eine Chance für einen Neustart der EU und inter­national für neue Abrüstungsinitiativen. Eine über­zeugende europäische Antwort darauf ist entscheidend für die Zukunft des Kontinents, um nicht im aggressiven Systemwettbewerb zwischen den USA und China unter die Räder zu geraten. »Deutschland kann es auf Dauer nur gut gehen, wenn es auch Europa gut geht.«8 Dieser Satz von Bundeskanzlerin Angela Merkel trifft den Nagel auf den Kopf. Um sich zwischen den Machtpolen be­haupten zu können, bleibt für die EU auch nach dem Kompromiss von Brüssel noch viel zu tun, unter anderem in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Klima­schutz und Digitalisierung. Diese Krise ist auch eine Chance, Europa wieder auf einen besseren Weg zu bringen. Das ist die derzeit größte außenpolitische Verantwortung, vor der sich Deutschland nicht drü­cken darf und nicht drücken wird.

Global Britain: Ambition Meets Reality

Robin Niblett

Inevitable

With the benefit of hindsight, Britain’s departure from the EU on 31 January 2020 can be seen as a historical inevitability. After fully withdrawing from its world-spanning empire in the 1960s and suffering a gradual erosion of its relative wealth, Britain’s late entry into the then European Economic Community in 1973 seemed a belated recognition that its eco­nomic and strategic future lay alongside its neighbours on the European continent. The fact that Britain became a proactive member of the European Community appeared to confirm this thesis. In the 1980s, the Thatcher government helped conceive and drive forward the Single Market. In 1998, Prime Min­ister Tony Blair stood alongside President Jacques Chirac in Saint-Malo to propose creating a European Security and Defence Policy. The British government then worked closely with its German counterpart to seal the EU’s post-Cold War enlargement in 2004.

Of course, there were hiccups and clashes – Mar­garet Thatcher’s bruising battles to secure a na­tional rebate from the EU budget after 1985 and John Major’s resistance in the 1991 Maastricht Treaty negotiations to Britain joining the Social Chapter and the future European Monetary Union. But other EU countries had their own confrontations: from France’s vetoes and ‘empty chair’ policy in the 1960s, to its and the Netherlands’ rejection of the Constitutional Treaty in 2005. Several Central European EU members have now taken up Britain’s Eurosceptic cause. Yet each has found a way to continue to balance its national interests with the benefits and requirements of its EU membership.

For many, therefore, the result of the Brexit referendum was an anomaly. “If only David Cameron had not used the artifice of a referendum on EU membership to try to unite his Conservative Party”; “If only he had not called the referendum in the wake of the worst recession in a generation”; “If only the British press had not poisoned so many English minds against the EU”; “If only young people had voted in the same numbers as their grandparents”; “If only Dominic Cummings had not received secret help for his audacious online referendum campaign from an anti-EU US billionaire”. These complaints are deliv­ered as intensely today as they were four years ago.

They are fair complaints. But they miss the point that Britain had been drifting away from the core of EU business for at least a decade prior to 23 June 2016. Its self-exclusion from the euro meant that British politicians were not at the table when some of the most sensitive EU business took place, with many ‘package deals’ ignoring UK interests. Foreign Office diplomats complained that EU policy decisions were sometimes influenced by trade-offs between euro mem­bers of which they had no knowledge. Britain’s absence from the Minsk process negotiating the fu­ture of eastern Ukraine since September 2014 and the EU’s policy towards the Western Balkans pointed to its growing detachment even from traditional areas of national foreign policy concern.

Today, the Covid-19 crisis exposes the extent of the past schism between Britain’s approach to European integration and that of its EU counterparts. After some shameful moments – unilateral border clo­sures and banning the export of national supplies of protective medical equipment – EU members have got down to the business of coordinating their ap­proach to the recov­ery. The Franco-German proposal for an EU Recov­ery Fund will likely result in a further accretion of competence to EU institutions and the Commission. One only has to imagine the position of any British prime minister faced with Commission Presi­dent Ursula von der Leyen’s proposal for imple­ment­ing the fund. The UK would now be trying to block or opt out from the ability of EU institutions to raise their own resources to finance the fund, especially if these entailed new central tax-raising authority.

Chancellor Angela Merkel’s willingness to compromise on the expansion of the EU’s fiscal tools reflects a hard-nosed understanding that the Single Market could be at risk if wealthier EU members end up benefiting from the recovery at the expense of those that suffered most grievously from the virus, through no fault of their own. This is a very different situation from the financial crisis of 2008–10, when northern European politicians could fairly observe that Italy, Spain, Greece and others inflated their labour costs and debt rather than strengthen their competitiveness after the launch of the euro. If it had remained a member of the EU, however, Britain would have been unable to take such a pragmatic approach, for the simple reason that EU integration had become synonymous, for many, with the coun­try’s loss of control over its destiny and identity.

What is Global Britain?

Those who championed Brexit see leaving the EU as enabling the country to fulfil two objectives which are, in turn, the two sides of the Global Britain coin.

First, they believe that Britain has been held back from fulfilling its national potential by an EU that swaddled the country and its businesses in unnecessary red tape. This red tape is crafted in a bureau­cratic and undemocratic EU process that also tends to settle for the lowest common denominator. Leaving the EU will free Britain to pursue policies that are tailored to its specific strengths and needs. At a mini­mum, it will enable Britain to take responsibility for its own destiny; in other words, it will force politicians to take the difficult domestic decisions without having to coordinate them with EU partners in advance, and allow the British people to hold them to account for their failures.

At the heart of Brexit was the belief that a sovereign, independent Britain should regain full control over all its domestic politics. At the heart of Global Britain is the idea that Britain will be free to regain its role as a successful ‘free-trading nation’, which had been blocked by the EU’s slow and compromise-laden trade policy. The fact that the EU has struck numerous free trade agreements with countries and regions around the world (agreements that have also benefited Britain) misses the essence of the British complaint. Supporters of Brexit argued that the EU focused its negotiations more on the interests of con­tinental European manufacturers than on globally competitive British financial, legal and other services. And, because of EU sensitivities over protecting its agricultural sector and certain less competitive indus­trial sectors, it failed to strike deals with two of the world’s largest economies, the US and China.

Held back by EU membership from living up to its global potential, Britain became instead an economic gateway to continental Europe; a relatively low-cost manufacturing location from which continental European companies and their non-EU counterparts could service the EU market. There are no longer any British-owned or domiciled car manufacturing com­panies; yet, in 2016, Britain manufactured the largest number of cars since 1973, with 75 per cent of them being exported to the continental EU. At the same time, Britain’s flexible labour markets and generous welfare system, combined with the EU’s system of free movement of labour, made it a magnet for con­tinental EU migrants, leading to wage suppression and stretched public services.

Supporters of Brexit believe that the shock of leaving the EU will wean the country off this eco­nomic over-dependence on the EU and force British companies to reach out to global markets and secure the value-adding returns for Britain. From this per­spective, additional frictions at the EU border are not to be feared, but to be embraced as a spur for British business to go global.

At the heart of Global Britain is the idea to regain the role as a successful ‘free‑trading nation’.

For Brexiteers this is not just important but urgent, as they see the EU as an ageing, low-growth and stag­nant market, which should be traded for enhanced British access to high-growth emerging markets around the world. As former British MEP Daniel Hannan famously phrased it, ‘Britain is shackled to a corpse’. Rather than seeing the 47 per cent of British exports going to the EU as a reason to preserve privileged access to the EU market, advocates of Global Britain see this figure as one to be overcome and reduced.

The second animating factor for Global Britain is the idea that the country can be more influential internationally outside the EU than in it. This instinct harks back to the Churchillian idea that Britain’s natural place is at the intersection of three circles: Europe, the United States and the rest of the world (or Empire, in Churchill’s day). Most continental EU member states gain foreign policy influence by band­ing together under the EU banner. But, for Britain, the process of agreeing common foreign policy posi­tions among twenty-eight states with distinct his­tories, cultures, national interests and capabilities is not only time-consuming and distracting, but dis­empowering. A country like Britain should have a clearer voice on its own, thanks to its economic size, foreign policy and security assets and its privileged position in the current international system.

In this sense, the phrase Global Britain serves as a reminder to the British people and other countries that the UK has the potential to be a more powerful force internationally after Brexit than before. Britain will continue to have a seat in all the world’s major multilateral organisations, from the IMF to the G7 and G20. It will remain a permanent, veto-owning member of the UN Security Council. Not only is Britain a recognised nuclear power, it possesses a globally-present diplomatic corps supported by world-leading intelligence services in MI6 and, equally im­portantly in today’s digital world, GCHQ. And, even after recent cuts and reductions in size, it has a full spectrum of military capabilities that enable the UK to contribute to coalition operations around the world.

Global Britain is also a reminder of the country’s soft power – its ability to engage internationally and influence global outcomes irrespective of the govern­ment’s diplomatic efforts at persuasion or coercion. Native command of the world’s ‘lingua franca’ gives British voices outsized influence in international debates and negotiations; London’s role as one of the world’s global financial centres, which is unlikely to decline much in the near future, puts it at the heart of new developments in financial technology, prod­ucts, regulation and flows, whether into major new infrastructure projects or emerging markets. The high quality of its universities puts Britain at the forefront of scientific breakthroughs, whether in medicine or high technology, helping attract foreign investment and human talent. And the plethora of international NGOs clustered in London can leverage Britain’s posi­tion as one of the world’s highest spenders of official development assistance (0.7 per cent of GDP). This engages Britain in bottom-up responses to the chal­lenges of resilience and growth in Africa and South Asia, regions with the world’s fastest-growing popu­lations. What former Foreign Secretary David Mili­band described as Britain’s role as a global ‘hub’ is supported by its geographic location and time zone, between the American and Asian continents, which will be of equal value in the new Zoom world as it has been in the era of the telephone, email and air travel.

Global Britain is a rallying cry to British citizens and a commitment to its international partners that leaving the EU does not mean the UK will close in on itself. To the contrary, it plans to go from being obsessed with Europe to opening itself to the oppor­tunities offered by the world as a whole.

Problems with Global Britain

A rallying cry does not constitute a strategy. Advocates of Global Britain have never realised or accepted – to this day – that it was not the EU that held the UK back from achieving its full global potential; it was the UK that held itself back, in its international eco­nomic relations and its diplomacy.

The fact that the EU contains some of the most com­petitive economies in the world proves that far from being a drag, EU membership can serve as the base for economic success. Britain’s economic under­performance in the last decade, which is most visible in its poor productivity growth as well as its high levels of socio-economic inequality, has nothing to do with the EU. It reflects the failure of successive governments to invest in the country’s success, wheth­er in primary and secondary education, incen­tives for basic research and development, or physical and digital infrastructure. Brexit was a classic case of dis­placement activity – channelling popular anger at a target that was blameless for the problem. Britain may prove to be more successful economically after leav­ing the EU. But, if it is, it will not be because it left.

Just as the view that it was the EU that held Britain back domestically is misguided, so is the idea that there is a world beyond the EU waiting to welcome the newly liberated UK with open arms. Global Brit­ain is meant to slot into a dynamic, open global economy that is the antithesis of the EU. The biggest problem with the concept of Global Britain is that the international context no longer corresponds, if it ever did, to its proponents’ vision.

To start with, America’s loss of confidence in the multilateral trading system has ushered in a more protectionist, nation-first approach to international trade. Even when President Trump vacates the White House, it is hard to imagine future US presidents piv­oting back to a mantra of free trade, especially after the costs of the Covid-19 pandemic are added to the structural inequalities that have caused such deep divisions in American society. If the US remains un­convinced of the domestic benefits of leading the international trading system, few others will step up to take its place. This means that the WTO, the very institution on which the UK will have to rely after leaving the EU to uphold the rules governing its terms of trade, may remain obstructed, even if it overcomes the Trump administration’s decision to block new appointments to its Appellate Court.

Given the competition between the US and China, Global Britain is forced to choose between the world’s two largest markets.

Furthermore, the Covid-19 crisis may heighten countries’ reticence to open their domestic markets to freer trade. Policymakers around the world are looking to shorten supply-chains, bring more manu­facturing onshore and place new checks on foreign investment. They are less willing to depend on the ‘just-in-time’ means of production and import and export that were the hallmark of the pre-Covid hyper-globalisation. Such a retreat from the idea of ever-more integrating global markets – on which the idea of Global Britain relies – will be accelerated if the EU succeeds in establishing a border carbon adjustment mechanism as part of its commitment to the Paris Climate Agreement goals. This mechanism would enable EU companies to compete on a level playing field with imports from countries with lower or no restrictions on the carbon-intensity of their manufactures. Global Britain will have to follow the EU lead on this new trade measure or be left to negotiate its way through a complex new thicket of obstacles to its international trade.

Economic globalisation is being further weakened by growing geopolitical competition between the United States and China. Global Britain is now being forced to choose between the world’s two largest markets rather than engaging with both, as it had intended. And, if it has to choose, the inescapable choice will be in favour of the US, given not only Britain’s dependence on the US for its security, but, equally importantly, the close political, economic and cultural ties between the two countries. The growing estrangement between an ever more authoritarian and globally assertive China and much of the rest of the world has exposed the awkward, transactional basis of the current UK-China bilateral relationship, despite Prime Minister David Cameron’s and Presi­dent Xi Jinping’s rhetoric in 2015 about establishing a ‘golden era’ between the two countries.

However, a British choice in favour of the US will have its own challenges. The UK already has a large, mature trading relationship with the US – representing some 20 per cent of British exports – with low tariffs and strong inter-penetration of bilateral invest­ment. The net benefits of a US-UK trade deal would be marginal at best. Nevertheless, President Trump is seeking to leverage the UK’s vaunted desire to strike a bilateral deal as soon as possible in order to force Britain to open its markets to US agricultural prod­ucts that cause great public and political anxiety. The US also wants to use such a trade deal to prevent the UK from striking any future deal with a non-market economy like China, thereby building up, alongside Canada and Mexico, a network of countries committed to resisting China’s growing penetration of global markets.

Setting China and the US to one side, there are still several emerging markets with which Global Britain could try to strike new trade deals. The problem is that the UK needs first to replicate the existing terms of market access from which it has benefited as an EU member. The UK already has deals through the EU with countries like Japan, Mexico, Singapore and, as of 8 June 2020, Vietnam. Unfortunately, the UK’s determination to strike new bilateral deals with these and other countries simultaneously has made it the ‘demandeur’ in its trade negotiations. This is not a comfortable position, even for a country of the UK’s size, as revealed by Japan’s decision in mid-June to prioritise the completion of a quick bilateral deal with the UK – excluding British desires to open up Japanese agricultural markets to British exports.

Global Britain also casually assumes that future British governments will have the domestic political latitude to strike its many trade deals. But, as the heated debate over the terms of the proposed US-UK free trade agreement has revealed, British consumers are much more closely aligned to their EU neighbours on issues like environmental protections, animal welfare and food safety than with the US. EU mem­bership has allowed British governments to conceal the lack of domestic consensus on trade policy. In the future, British politicians will discover how parochial the interests of British citizens and interest groups can be.

The same can be said for the process of deciding future British foreign policy. Far from having a permissive environment in which to design a new diplomatic strategy for Global Britain, the government is discovering that fault lines exist even within its own Conservative Party on foreign policy. The recent establishment of a ‘China Research Group’, chaired and backed by an influential group of Con­servative MPs, is a warning shot to the Johnson govern­ment. The prime minister’s efforts to thread a prag­matic, middle road on the future of Chinese inward investment, whether on the deployment of Huawei technology as part of its 5G network or the develop­ment of new nuclear power plants, are failing. And no prime minister can afford to forget the deep humiliation suffered by David Cameron when Parlia­ment voted down his request on 29 August 2013 to use military force to punish Bashar Al-Assad for attacking Syrian civilians with chemical weapons.

Rethinking Global Britain

The idea of Global Britain will not live up to its hype. It reflects the optimistic hubris that was a hallmark of the Brexit campaign and of the Johnson government’s approach to much of its early policymaking, includ­ing the Covid-19 pandemic. But taking ‘pot shots’ at the concept of Global Britain can blind its critics to the ways in which Brexit may have positive effects on Britain’s role in the world.

To start with, national success in any venture depends not just on the size of national assets and the quality of policymaking, but also on intangibles. High on this list is a national sense of agency – the idea that a country and its citizens carry a shared respon­sibility for their future. For all of its economic illogic, and for all of the international hurdles facing Global Britain, it is a fact that, by being more alone in the world, British citizens and politicians will have a greater incentive to come together to try to fix their problems. In a way, British membership of the EU disconnected the country from its traditional prag­matism. It gave it the luxury to indulge in an endless debate about its role in the future of EU integration rather than a dispassionate analysis of the long-term risks and opportunities facing the country.

Outside the EU, British policymakers will not be able to blame the EU for the country’s ills or hide the failures of policymaking in Westminster behind the façade of ‘bureaucratic Brussels’. There is no guaran­tee that this will bring pragmatism back into British policymaking, but it is a plausible outcome. British attitudes to European defence integration are a good example. Ever since Brexit, Conservative policymakers have been able to ditch their paranoia about the idea of Britain’s armed forces being absorbed into a ‘Euro­pean army’ and start to think of the benefits of cooperation with a more capable EU defence force. And rather than fear that each EU decision on foreign policy might be a precursor to an expansion of quali­fied majority voting that would circumscribe British sovereignty, British politicians can re-engage with their EU neighbours to manage the dangers around their shared periphery, from Syria and North Africa to the Balkans.

Focusing on the flaws of Global Britain also dis­regards the limitations of the previous alternative, which was British participation in a process of joint decision-making on foreign policy among twenty-seven diverse member states. It is true that the EU kept up the momentum on international trade agree­ments during President Trump’s first term. But, after Covid-19 and with populist parties still strong if not dominant across continental Europe, there is a ques­tion whether the EU can remain a trading trailblazer or will become more defensive, focused on instituting investment screening mechanisms and processes for supporting new EU national champions.

In contrast, the UK could prove an attractive part­ner to countries and regions around the world inter­ested in engaging with a large, mature market, espe­cially if they believe they can open opportunities with the UK that were not available when it was inside the EU. Mid-sized countries like Australia, Turkey and Mexico might be willing to go beyond mere repli­ca­tions of the current arrangements with the EU. For its part, the UK has made it a priority to try to join the Comprehensive and Progressive Trans-Pacific Partner­ship, with Japan’s encouragement.

Furthermore, an increasingly splintered world, in which multilateral institutions continue to struggle and great powers face off bilaterally, may not be so hostile for the UK. Offers of British diplomatic and military support, whether to the EU, the US or to ‘like-minded’ counterparts around the world that feel under threat, such as Japan and Australia, may be rewarded by reciprocal support, including by un­locking concessions in the UK’s future bilateral eco­nomic negotiations. Greater diplomatic freedom and agility may be of equal or greater value to the UK than shelter within a defensive, slow-moving EU, as the balance of power between the US, China, Russia and India continues to evolve.

Conversely, a victory for Joe Biden in November 2020 and a return to a more conventional US inter­national role would present an important challenge to Global Britain. On the surface, it could create a more benign environment: a more functional US voice in multilateral institutions and a more stable and predictable US foreign policy would free the UK to focus on its trade diplomacy. On the other hand, a Biden White House would place greater emphasis on strong US relations with the EU and expect the UK to be a loyal ally alongside the EU in a renewed trans­atlantic relationship.

While those British politicians who still dream of a pure Brexit would resent such an outcome, there is a more objective view. If Britain is motivated to mend fences with the EU, it is also likely to be a more in­fluential and successful international actor than if it persists in denying its geographic reality and shared national interests with its European neighbours. A strategic relationship as well as close tactical relations with the EU are likely to be prerequisites for a suc­cessful, as opposed to rhetorical Global Britain.

The main problem with Global Britain is that its exponents developed it principally as a tool to argue the case for Brexit.

Just as the UK’s partnership with Italy and the rest of the EU on the COP26 summit in November 2021 is going to be fundamental to its role as a leader on global climate policy, so the success of British policy towards Russia, Israel and China will depend on these third countries being unable to drive a wedge be­tween the UK and its continental European neighbours. For­tu­nately, EU member states appear to appreciate the mutual interest that they have in such a future. The E3 format continues to offer a vehicle for en­gaging Britain in shared foreign policy chal­lenges, even if there is more suspicion of this format since it left the EU, and the European Intervention Initiative serves as a potential bridge to British in­volvement in future EU military operations.

Conclusion

Global Britain remains a highly flawed concept, partly because it misconstrues the EU’s role in Britain’s rela­tive economic underperformance and partly be­cause it misinterprets the international context Britain will need to navigate after leaving the EU. Nevertheless, while the international climate is quite hostile today to the idea of Global Britain, there are still opportu­nities for the UK to pursue its national interests inter­nationally by leveraging its many unique attributes alongside its relative economic size and political-military assets.

The main problem with Global Britain, however, is that its exponents developed it principally as a tool to argue the case for Brexit. They were so fixated on the process and prospects of leaving the EU that they in­vested little effort in thinking through a coherent vision about the alternative.

Brendan Simms was correct when he wrote in his 2016 book, Britain’s Europe: A Thousand Years of Conflict and Cooperation, that Britain’s long history of interlocking relations with continental Europe will define the future of its foreign policy, just as it defined its past. Even if Britain has given up trying to resist the process of deeper European political integration from inside the EU, its future prosperity and security will still depend fundamentally on how it manages its relations with the EU and inside Europe.

Ohne Leitbild? Perspektiven deutscher Europapolitik

Barbara Lippert

Die deutsche Europapolitik wird von konkreten Inter­essen der handelnden Akteure bestimmt, die ihrer­seits von Vorstellungen darüber beeinflusst oder an­geleitet werden, wie die Europäische Union verfasst und wozu sie gut sein sollte.1 Europapolitische Leit­bilder aus der Zeit der Bonner Republik – wie der europäische Bundestaat bzw. die Vereinigten Staaten von Europa – haben schon lange ihren Impetus und ihre Unterstützer in den politischen Parteien verlo­ren.2 Auch die Leitidee des Maastrichter Vertrags, »eine immer engere Union der Völker Europas«,3 wurde nicht nur von dem inzwischen aus der EU aus­ge­tretenen Vereinigten Königreich abgelehnt. Sie verschwindet auch in Deutschland allmählich aus der politischen Kommunikation. Schon in der Spätphase der Regierung Kohl wurde registriert, dass die deut­sche Europapolitik »britischer« wird, sprich: aus einem wirtschaftlichen Nutzenkalkül heraus handelt und weniger bereit ist, in supranationale Projekte und modes of governance zu investieren.4

In der Europapolitik waren die letzten 15 Jahre unter Kanzlerin Angela Merkel pragmatisch und visionsfrei. Jenseits des Krisenmanagements – von der Rettung der Vertragsreformen durch den Lissa­bonner Vertrag bis zur Covid-19-Pandemie – wird mit ihrer europapolitischen Programmatik vor allem die »Unions­methode« in Verbindung gebracht.5 Merkel schloss in vielem direkt an ihren Vorgänger Schröder an, der ein utilitaristisches Verständnis der EU an den Tag legte und es seinem Außenminister überließ, grundsätzlicher über Wege vom Staaten­verbund zur Europäischen Föderation nachzudenken.6 Sind neue europapolitische Leitbilder in Sicht? Wie wichtig oder problematisch ist ihr Vorhandensein oder Fehlen?

Was Leitbilder sind und wozu sie gut sind

Unter europapolitischen Leitbildern sind interessengetriebene und in spezifischen Kontexten entwickelte »grundlegende Zielperspektiven«7 zu verstehen, also die strategische Vision der Europapolitik eines Akteurs, vor allem eines Mitgliedstaates. Die Auseinanderset­zung mit Leitbildern bildet einen Teil der Überlegun­gen zur Rolle von Weltbildern und Ideen in Gesell­schaft und Politik.8 Drei Dimensionen sind hier rele­vant: Leitbilder sind normativ und enthalten Ziele, die als erstrebenswert angesehen werden. Sie sind Zeich­nungen eines Ideals, in dessen Lichte auch die Gegen­wart wahrgenommen, gedeutet und kritisiert wird. Leitbilder sind somit prospektiv ausgerichtet, das unter­scheidet sie von Narrativen. Sie sind auf das Handeln und die politische Praxis bezogen. Der deutsche Politikwissenschaftler Heinrich Schneider spricht darüber hinaus von »Leitbildern des ›faktischen‹ Geschehens«, zum Beispiel von Strategien »als Entwürfe einer Abfolge von Maßnahmen«.9

Leitbilder helfen, aktuelle Entscheidungen und Forderungen zu legitimieren, weil sie Sinn vermitteln.

Europapolitische Leitbilder reduzieren das komplexe Integrationsgeschehen auf eine fassliche Weise. Für die politischen Akteure haben europapolitische Leitbilder eine kommunikative Funktion untereinander und in der Interaktion mit der Bevölkerung. Sie helfen, aktuelle Entscheidungen und Forderungen zu legitimieren, weil sie Sinn vermitteln. Auch gegenüber anderen Partnern in und außerhalb der EU erfüllen europapolitische Leitbilder den Zweck, das Handeln und die Präferenzen einer Regierung bere­chenbarer zu machen. Stabile Leitbilder können so Vertrauen schaffen, zumal wenn sie zu Normen und Regeln etwa in Institutionen oder Entscheidungs­verfahren geronnen sind. Abweichungen von Leit­bildern können jedoch Irritation und Verunsicherung hervorrufen.

Europapolitische Leitbilder von gestern stoßen auf neue Kontexte

Europäische Integration und Multilateralismus be­stimmten die Staatsraison der Bundesrepublik Deutschland seit 1949. Im Hintergrund steht der Imperativ »Niemals allein« als Konsequenz der beiden Weltkriege. Bis zum Vertrag von Maastricht galten Föderalismus und Ordoliberalismus als die Leitbilder deutscher Europapolitik.10 Sie waren zugleich auf nationaler Ebene fest verankert, nämlich in der föde­rativen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland und der sozialen Marktwirtschaft. Aus dem Geist des Föderalismus und dem Prinzip der Subsidiarität ent­springt das Verständnis, dass staatliche Souveränität teilbar ist, und zu den politischen Realitäten der Bon­ner Republik zählte, dass sie unter alliiertem Vor­be­halt stand und der Staat mithin nur »semi-souve­rän«11 war. In der deutschen Europa­politik hat sich diese Disposition, die von großen Teilen der Bevölkerung und von zivilgesellschaftlichen Organisationen getra­gen wurde, in einer Präferenz für supranationale Ansätze niedergeschlagen. Damit verknüpft war die Bereitschaft zur Selbst­bindung angesichts der wach­senden Gestaltungsmacht »Brüssels«. All das galt auch für die Außen- und Sicherheitspolitik, die erst in den 1970er Jahren in Gestalt der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) in die Europäischen Gemeinschaften Eingang fand und von der Bundesrepublik als Vehikel für die eigene internationale Profilierung genutzt wurde.

Die EPZ entsprach der bundesdeutschen Präferenz für ein regelgebundenes multilaterales, das heißt unter mehreren Akteuren in Organisationen oder Gruppierungen vereinbartes Vorgehen, das auf ge­meinsame Lösungen für europäische und internationale Probleme setzt. Konkret entwickelte die Bundes­republik ein besonderes Interesse daran, den konsti­tutionellen Rahmen der Europäischen Gemeinschaf­ten, deren Institutionen, Regeln und Entscheidungs­verfahren zu gestalten und rechtlich zu kodifizieren. In der Forschung ist von »Milieuzielen« (gegenüber »Habenzielen«) die Rede, was bei den Verhandlungen über die Änderung der europäischen Verträge von Maastricht bis Lissabon besonders zum Ausdruck kam.12 Der deutsche Politikwissenschaftler Martin Große Hüttmann hat herausgearbeitet: »Das Denken in den Kategorien von Recht und Rechtsstaatlichkeit, von Ordnung und Sicherheit prägt seit jeher den europapolitischen Diskurs in Deutschland.«13 Die damit korrespondierenden Leitbilder, zum Beispiel europäischer Bundesstaat und Politische Union, sind im Zuge der deutschen Einheit seit 1990 sowie der Machtverschiebungen in der EU und auf dem Konti­nent nicht zwingend obsolet geworden, wie es in einer Analyse aus Sicht der realistischen Schule zu erwarten gewesen wäre. Jedoch wich die deutsche Politik seit den 2000er Jahren auf mehreren Politikfeldern und auch in konstitutionellen Fragen von diesen Leitbildern in einem Maße ab, dass es Partner irritierte. Deutschlands europapolitische Präferenzen wur­den weniger berechenbar, so beim Zickzackkurs zwischen Vergemeinschaftung, unilateralem und intergouvernementalem Handeln bei Fragen des Euro­krisen­managements und in der Flüchtlingspolitik seit 2015.14

Die funktionalistische Logik zerrinnt

Der Wandel deutscher Europapolitik wird in der Forschung unter dem Gesichtspunkt des Rollen­konzepts eines »Hegemons« kritisiert und mit dem Auslaufen des funktionalistischen Langzeittrends in der europäischen Integration erklärt. Deutschlands relativer Machtzuwachs wird für die EU problematisch, weil Berlin entweder den Anforderungen an die Rolle eines (wohlwollenden) Hegemons mangels Res­sourcen und Führungsqualitäten nicht gewachsen ist oder aber diese ohne Rücksicht auf andere EU-Partner ausspielt.15 Außerdem wird Deutschlands veränderte Europapolitik – im allgemeinen EU-Trend liegend – auf eine postfunktionalistische Konstellation zurück­geführt. Es schwindet also der permissive Konsens in der Bevölkerung, mit dem vor allem die schrittweise erfolgende Integrationsvertiefung akzeptiert wurde; zugleich wachsen spezifische Vorbehalte und auch generelle Gegnerschaft.16 So wird die zögerliche und eigensinnige Politik Deutschlands in der Euroraum-Krise mit dem innenpolitischen Kontext erklärt: Die öffentliche Meinung, parteipolitische Rücksichten und die Rolle etwa des Bundesverfassungsgerichts engten den Manövrierraum der deutschen Europa­politik ein.17 Deutschland, als Land in der Mitte der EU mit Verbindungen und Interessen in alle Richtun­gen und über alle Politikfelder hinweg, hatte sich auf dieser Basis traditionell als Mittler und Konsenssucher profiliert. Integraler Bestandteil dieser Rolle war die Bereitschaft, politische Kompromisse finanziell zu unterfüttern.18 In der Finanz- und Schuldenkrise war davon aus Sicht der Süd­länder, aber auch vieler Inte­grationsforscher nicht viel übriggeblieben. In ihren Augen war Deutschland völlig auf seine ordoliberalen Prinzipien zurückgefallen, wie Preisstabilität, fis­kali­scher Konservatismus, internationale Wettbewerbs­fähigkeit und Exportorientierung. Damit schlage die deutsche Europapolitik eine Richtung ein, in der das prinzipielle Engagement für die europäische Integra­tion als ein »freistehendes Ziel« schwinde.19

Deutsche Europapolitik im Zwielicht

Eine solche Diagnose läuft darauf hinaus, dass die deutsche Europapolitik zu einem von neuen und enger definierten Interessen geleiteten Pragmatismus übergegangen ist und sich damit faktisch ein Leitbild­wechsel vollzieht. Europa als politisches Projekt – also das transnationale politische (Mehrebenen-)Sys­tem im Spannungsfeld von Legitimität und Effekti­vität weiter vornehmlich supranational auszugestalten – wäre demnach für Berlin passé. Ein neues Leit­bild bildet sich um einen ordoliberalen und gege­benenfalls geoökonomischen Kern,20 von dem aus wesentliche europapolitische Ableitungen fallweise vorgenommen werden, etwa die außerhalb der EU-Verträge vereinbarte Schuldenbremse und die Politik gegenüber China. Wie sich Deutschland in nicht primär wirtschaftlichen Politikfeldern verhält, zum Beispiel in der Asyl- und Flüchtlingspolitik, lässt sich von daher schwer kalkulieren. Aber auch die deut­sche Haltung bei der Sanktionspolitik etwa gegenüber Russland oder Iran passt nicht eindeutig zu diesem ordoliberal-geoökonomisch bestimmten Leitbild und lässt Zweifel an dieser Lesart aufkommen. Nicht zu übersehen bleibt jedoch, dass Deutschland eine irri­tierende Ambivalenz bei konkreten Entscheidungen und konstitutionellen Fragen zeigt. Ohne gefestigtes altes oder neues Leitbild gerät die deutsche Europa­politik ins Zwielicht.

Unter den EU-Staaten sind Misstrauen und Enttäuschung gegenüber Berlin im Laufe der Polykrise gewachsen.

In den Jahren der Polykrise stand die deutsche Europapolitik mal mehr, mal weniger in der Kritik. Sie sei zu passiv oder reaktiv, sei nicht ambitioniert, technokratisch, höchstens um Schadensbegrenzung im Modus des Durchwurstelns bemüht und habe keine Vorstellung von der Zukunft.21 Das Nichthandeln Berlins in kritischen Situationen,22 der Attentismus gegenüber den europapolitischen Initiativen und Forderungen des französischen Präsidenten Macron, all das kann daran liegen, dass grundlegende Ziel­perspektiven in der Europapolitik fehlen. Freilich hangeln sich politische Entscheidungsträger weiterhin rhetorisch oder reflexhaft am Geländer der inte­grationsfreundlichen Grundorientierung entlang, der immer engeren Union. Sie wollen keinen bewussten Bruch, keine Kehrtwende in der Europapolitik dekla­rieren. Aber eine Politik, die sich darin erschöpft, den Integrationsstand gegen jene politischen Kräfte zu verteidigen, die ihn abbauen wollen, ist zumindest im Lichte der traditionellen Leitbilder fragwürdig und unzureichend, sowohl in normativer als auch in handlungspraktischer Hinsicht.23

In den Jahren der Polykrise sind unter den Mitgliedstaaten Misstrauen und Enttäuschung gewachsen, die in Stresssituationen wie der Pandemie leicht wieder aufflammen. Berlins ablehnende Reaktion im März 2020 auf die erneute Forderung, Schulden durch EU/Corona-Anleihen zu vergemeinschaften, war hinsichtlich der politischen Kommunikation katastrophal. Sie löste eine Reihe von offenen Briefen, Interviews und Pamphleten aus, in denen Deutschland im Namen der Solidarität zum Kurswechsel und zur Besinnung aufgerufen wurde.24 Coronabonds wurden von ihren lautstärksten Befürwortern in Italien und Spanien zum Supersymbol der Solidarität stilisiert. Ein Befreiungsschlag, nämlich weitere wirt­schaftspolitische und fiskalische Kompetenzen auf die EU zu übertragen, kommt für Berlin offenbar nicht in Betracht. Dass eine Bundesregierung sich wieder auf­rafft, auf eine solche Politische Union im Kreis von 19 oder 27 Staaten strategisch hinzuarbeiten, ist nicht auszuschließen, wenn aus Sympathiefloskeln ein politisches Programm werden würde.25 Allerdings sind die Befürchtungen in Berlin nicht ausgeräumt, dass Deutschland die Architektur einer solchen Poli­tischen Union nicht ausreichend bestimmen könne und deren Regelwerke den wirtschaftlichen und politischen Dynamiken in der heterogenen EU nicht gewachsen sein könnten.

Um deutsche Europapolitik aus dem Zwielicht her­auszuführen und wieder berechenbarer zu machen, müssten Politik und Wissenschaft die Spannungs­felder auch policyorientiert, etwa im Hinblick auf den Green Deal, thematisieren und Positionen entwickeln. Gemeint sind hier die Spannungsverhältnisse zwi­schen Autonomie und Selbstbindung, zwischenstaatlicher Kooperation und supranationaler Entscheidung, Kerneuropa und EU27+, zwischen Integrationsabbau und Integrationsaufbau, Zentralisierung und Dezentralisierung, Politisierung/Demokratie und Entpolitisierung/Technokratie, Entstaatlichung und Staatswerdung. Der Bezug auf Leitbilder könnte dabei nützlich sein.

»Zusammenhalt der EU27« – ein neues Leitbild

Ein Mitgliedstaat von der Systemrelevanz Deutschlands muss eine Europapolitik entwickeln, die über konkrete Eigeninteressen hinausweist und Güter für die Gemeinschaft hervorbringt.26 Insofern wäre die oft wiederholte Behauptung der Bun­desregierung, der Zusammenhalt der EU27 sei das oberste Ziel ihrer Euro­papolitik, beim Wort zu nehmen.27 In der um­fassenderen Ausarbeitung dieser Zielvorstellung läge eine Chance, ein zeitgemäßes Leitbild zu entwerfen, das nicht bloß »aufgewärmte Ewigkeitswerte«28 bietet. Dann könnten aktuelle Schlagworte und Chiffren wie die »Stabilitätsunion«,29 die Gemeinschaft, die schützt und nützt30 (also die amalgamierte oder pluralisti­sche Sicherheitsgemeinschaft im Sinne von Karl W. Deutsch31), und nicht zuletzt die Selbstbehauptung Europas32 in ein stimmiges und sinngebendes Ver­hältnis zueinander gebracht werden. Dafür gibt es durchaus Ansatzpunkte.

Erstens schränkt der europapolitische Dissens in Deutschland das parlamentarisch gesicherte Regierungshandeln nicht so systematisch ein, wie es post­funktionalistische Annahmen vermuten lassen. Zwar werden EU-Themen immer stärker politisiert, abzu­lesen an hoher Aufmerksamkeit, Mobilisierung einer breiteren Öffentlichkeit und Polarisierung innerhalb und zwischen den Parteien und der Gesellschaft. Dennoch zeigt die Bevölkerung eine ziemlich starke Bindung an die EU und deren politische Dimension.33 Vor Ausbruch der Corona-Pandemie erwartete eine knappe Mehrheit, dass sich der Zusammenhalt der EU weiter schwächen werde und Mitgliedstaaten immer häufiger eigene Wege gehen werden. Doch »ein deut­scher Weg« ist nicht das, was sich die deutsche Bevöl­kerung von der Regierung wünscht. Vielmehr sprach sich im März 2020 eine deutliche Mehrheit für noch engere Zusammenarbeit innerhalb der EU als Folge der Corona-Pandemie aus.34 Zudem möchten die Bür­ger, dass Deutschland eine kooperative statt dominante und eine aktive statt passive Rolle innerhalb der EU spielt. Insofern hat die deutsche Politik Spiel­raum, um in die Rolle eines Hüters des Zusammenhalts der EU zu investieren.35 Allerdings reagiert die öffentliche Meinung sensibel auf wirtschaftliche Un­sicherheit, so dass die Rezession infolge der Pandemie hier durchschlagen könnte.

Mit dem Leitbild des Zusammenhalts wäre auch eine weitere fiskalische Integration zu rechtfertigen.

Zweitens teilt Deutschland die allgemeine Forderung nach stärkerer Handlungsfähigkeit auf EU-Ebene, versehen mit ausreichender Legitimität. Erfolgreiches und wirksames gemeinsames Handeln erzeugt Zu­sammenhalt, wobei das Handeln durch gemeinschaftliche Rechtsetzung und Solidarität in der Erwartung von Reziprozität bestimmt ist.36 Dem Leitbild des Zu­sammenhalts folgend, wäre die weitere, schrittweise zu verwirklichende fiskalische Integration innerhalb einer EU zu rechtfertigen. Zudem könnte Deutschland auf die in den Jahren neoliberalen Denkens ver­schütteten Aspekte des ordoliberalen Denkens zurück­greifen, das heißt auf einen aktiven und starken Staat, der sich für das öffentliche euro­päische Wohl einsetzt. Neben Verteilungsfragen rücken auch die der inneren und äußeren Sicherheit, der staatlichen (Vorsorge-)Kapazitäten und der Identität in den Blick.

Drittens: Angesichts fortdauernder Kritik – etwa an Deutschlands Positionen zur Reform der Wirtschafts- und Währungsunion und zum Pipeline­projekt Nord Stream 2 – fällt es Deutschland schwer, die zentrifugalen Kräfte auszugleichen oder zu trans­formieren, zum Beispiel die Divergenzen zwischen Nord und Süd in wirtschaftlichen sowie West und Ost in politischen und normativen Fragen. Um die EU zusammenzuhalten, müsste Deutschland seine dis­kursive Kraft stärken, damit seine Beziehungen zu Mitgliedstaaten nicht nur auf seiner wirtschaftlichen und fiskalischen Macht beruhen. Das Fehlen einer »hegemonialen Idee«,37 also weder Ordoliberalismus noch zivile Macht, oder zumindest eines erkennbaren Leitbilds schwächte Deutschlands Position und Ein­fluss in der EU während der Merkel-Zeit. Es ist noch zu früh, um zu sagen, wie sich die Pandemie und deren politische und wirtschaftliche Weiterungen auf Trennlinien (Ost/West, Nord/Süd) zwischen den Mit­gliedstaaten und Akteursgruppen und die institutionellen Kräfteverhältnisse auswirken werden. Bei der Gestaltung der Post-Corona-EU hat Deutschland großes Interesse an einem umfassenden Ansatz. Aus deutscher Sicht müsste er Fragen der Governance – wie etwa qualifizierte Mehrheitsentscheidungen auch in der GASP, Rechtsstaatlichkeit und Rolle des Euro­päischen Gerichtshofs – ebenso einschließen wie Aspekte der Größe und Struktur des siebenjährigen EU-Haushalts. Zudem müsste dieser Ansatz dazu taugen, die künftige politische Agenda zu konturieren. Das beträfe zum Beispiel offene Handelsregime, den Green Deal und eine selbstbewusste EU, die kein Spielball der sino-amerikanischen Rivalität ist, son­dern die multilaterale Ordnung und ihre Institutionen unterstützt.

Bundeskanzlerin Merkel sieht die EU als Parade­beispiel für Multilateralismus und als »Deutschlands Lebensversicherung«,38 wenn auch meist in einem geoökonomischen Kontext. Deutschland wäre gut beraten, eine produktive und enge Zusammenarbeit mit der EU-Kommission anzustreben, zumal seine Rolle im Europäischen Rat in der Nachfolge von Bundeskanzlerin Merkel zumindest vorübergehend geschmälert wird. Auf den ersten Blick ist das Leitbild »Zusammenhalt« schwach auf »Zukunft« oder eine positive Vision ausgerichtet. Es scheint am Status quo und am Durchwursteln orientiert zu sein. Hilfreich wäre, Schlüsselprojekte zu identifizieren, die zeigen, wozu das Zusammenhalten gut und besser ist, worin der europäische Mehrwert besteht und wie man ihn schmieden kann. Eine EU, die weiß, warum sie zusammenhält, könnte über die Ratspräsidentschaft 2020 hinaus ein Leitbild für die deutsche EU-Politik sein.

Europa und der Nahostkonflikt: Wie weiter nach dem Ende der Oslo-Ära?

Muriel Asseburg

Im Januar 2020 legte die US-Administration den »Jahr­hundertdeal« zur Regelung des israelisch-palästi­nen­sischen Konflikts vor, im April des Jahres wurde die Koalitionsvereinbarung zwischen den israelischen Parteien Likud und Kachol-Lavan abgeschlossen. Die beiden Schritte bereiteten den Boden für eine Anne­xion der israelischen Siedlungen und des Jordantals durch Israel, was rund 30 Prozent des Westjordanlandes entspricht. Nicht nur, dass eine solche unilaterale Annexion ein gravierender Völkerrechtsbruch wäre und im Widerspruch zu den Osloer Vereinbarungen zwischen Israel und der PLO stünde.1 Sie würde auch eine Zweistaatenregelung unmöglich machen und das zionistische Verständnis eines jüdischen und demo­kratischen Staates Israel konterkarieren. Und sie würde nicht Israels Sicherheit dienen, sondern das gemeinsame Konfliktmanagement mit den Palästinensern und die Friedensabkommen mit Israels Nach­barn – insbesondere Jordanien – unterminieren. Mit der von den USA vermittelten Einigung zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) auf eine Normalisierung der bilateralen Beziehungen (»Abraham-Abkommen«) im August 2020 ist eine formale Annexion zunächst ausgesetzt worden.2 Defi­nitiv vom Tisch sind die Pläne jedoch nicht.

Durch die Annexionspläne wurden im Sommer 2020 auch die Dilem­mata europäischer Nahost­politik akzentuiert. Zwar waren die Europäer mit ihrer Erklä­rung von Venedig (1980) Vorreiter einer Zweistaatenregelung, und es ist ihnen gelungen, dieses Paradigma sowie entsprechen­de Parameter in internationalen Resolu­tionen und Ansätzen zur Konfliktregelung – etwa VN-Sicher­heitsrats­resolution 2334 (2016) – zu verankern.3 Doch konnten sie nicht verhindern, dass eine Zwei­staatenregelung durch den fortgesetzten Siedlungsbau in den 1967 besetzten Gebieten stetig unterminiert worden ist. Auch haben sie dem Ansatz der Trump-Administration außer Stellungnahmen wenig entgegengesetzt. Dabei hat die US-Regierung sich weit vom Völkerrecht und von dem internationalen Kon­sens zur Konfliktregelung ent­fernt, den bisherigen amerikanischen Anspruch eines ehrlichen Maklers zwischen beiden Seiten aufgegeben und israelische Völkerrechtsbrüche gutgeheißen (Letzteres etwa, indem Washington 2017 Jerusalem als Hauptstadt Israels und 2018 dessen Souveränität über die syri­schen Golanhöhen anerkannt hat). In ihren Positionierungen haben die EU-Mitglied­staaten in den letzten Jahren immer weniger an einem Strang gezo­gen. Nicht einmal angesichts der ange­kündigten Annexion ist es der EU-27 gelungen, zu einer starken gemeinsamen Haltung zu finden und ihr Gewicht als Block in die Waagschale zu werfen, um eine Zwei­staatenoption zu bewahren.4

Einstaatenrealität und Annexion

Längst hat sich in Israel und den palästinensischen Gebieten – auf Basis des seit 1967 ausgeformten Besatzungsregimes und der Oslo-Abkommen (1993–1995) sowie in Konsequenz des fortgesetzten Sied­lungsbaus und des Transfers von israelischer Bevöl­kerung in die besetzten Gebiete – eine komplexe Einstaatenrealität etabliert. Deren Hauptcharakteristika sind: die übergeordnete israelische Kontrolle über Territorium, Grenzen (mit Ausnahme der Gren­ze zwischen Gaza-Streifen und Ägypten), Küsten­gewässer, Luftraum, elektromagnetische Sphäre, Währungs- und Geldpolitik etc.; eine in ihrer Zu­ständigkeit stark eingeschränkte und von israelischen Genehmigungen und Transferleistungen abhängige Palästinensische Autonomiebehörde (PA); die Zer­splitterung des palästinensischen Territoriums in unverbundene Enklaven und die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit zwischen diesen sowie ein System, in dem Bewohnerinnen und Bewohnern abhängig von ihrer Staatsbürgerschaft, ihrer religiös-ethnischen Zugehörigkeit und ihrem Wohnort unterschiedliche Rechte zukommen oder verwehrt werden.5

In Israel betonen Sicherheitsexperten und ehemalige Offiziere, dass eine Annexion nicht der Sicherheit des Staates dienen würde.

Mit der Einigung zwischen Israel und den VAE ist eine formale Annexion zunächst ausgesetzt worden. In der Folge ist unklar, ob überhaupt und falls ja, wann und in welchem Umfang Israel zur Annexion schreiten wird. Sollte die Knesset beschließen, Territo­rium im Westjordanland zu annektieren (bzw. israe­lische Souveränität auszu­weiten, wie es in Artikel 29 des Koalitionsabkommens heißt), wäre dies nicht nur im Widerspruch zu den Oslo-Abkommen und völker­rechtswidrig.6 Es würde auch klar signalisieren, dass sich Israel von einer ver­handelten Konfliktregelung abwendet. Und es würde – je nach Umfang und Lage der annektierten Gebiete – auch einen lebensfähigen palästinensischen Staat und damit eine Zweistaatenregelung höchstwahrscheinlich unmöglich machen.7 Eine Annexion würde den palästinensischen Zugriff auf die Ressourcen des Westjordanlandes weiter be­schneiden. Auch wäre es für Israel als Souverän des annektierten Gebietes leichter (etwa im Rahmen des bereits in Israel und Ost-Jerusalem angewandten Absentees’ Property Law)8, palästinensisches Privatland zu enteignen und die palästinensischen Einwoh­ner aus strategisch wichtigen Gegenden zu verdrängen. Vor allem aber würde die Einstaatenrealität auch juristisch zementiert werden. Dabei sollen den Paläs­tinenserinnen und Palästinensern, die in den zur Annexion vorge­sehenen Gebieten ansässig sind, keine staatsbürger­lichen Rechte zukommen.9 Dies würde freilich Israels Selbstverständnis als Demokratie grundsätzlich in Frage stellen.

Wie israelische Sicherheitsexperten und ehemalige Offiziere betonen, würde eine entsprechende Anne­xion nicht der Sicherheit Israels dienen – im Gegen­teil.10 Nicht nur würde sie eine lange und schwer zu kontrollierende Grenze zu den palästinensischen Enklaven perpetuieren. Auch würde sie das gemeinsame Konfliktmanagement mit der PA sowie die Friedensabkommen mit Jordanien und Ägypten ernsthaft gefährden. Die palästinensische Führung hat im Mai 2020 bereits verkündet, sich angesichts der Annexionspläne ihrerseits nicht mehr an die Abkommen mit Israel gebunden zu sehen.11 Jorda­nien drohte mit der Revision seiner Abkommen mit Israel, sollte es zur Annexion kommen.12 Und Ver­treter arabischer Golfstaaten, mit denen Israel in den letzten Jahren die Kooperation ausgebaut hat, warn­ten davor, dass eine unilaterale Annexion die An­näherung beenden würde.13 Nicht zuletzt würde eine Annexion das Risiko gewaltsamer israelisch-palästi­nensischer Auseinandersetzungen, eines Kollapses der PA14 und einer Destabilisierung der jordanischen Monarchie erheblich steigern.

Trotz der absehbaren Negativfolgen für Israels Sicherheit, sein internationales Standing und seine demokratische Verfasstheit könnte es in Zukunft durchaus zu Annexionen in der einen oder anderen Form kommen. Vor allem aber dürfte Washingtons »Jahrhundertdeal«, der Israel umfangreiche Annexionen zugesteht und keinen lebensfähigen, souveränen palästinensischen Staat vorsieht,15 für israelische Regierungen künftig als Bezugspunkt dienen. Zwar haben die Palästinenser Verhandlungen abgelehnt, wenn sie (ausschließlich) auf Basis des Trump-Planes stattfinden würden.16 Prominente Siedlervertreter stellen sich ebenfalls vehement gegen den Trump-Plan, unter anderem weil dieser einen palästinensischen Staat (wenn auch ohne Souveränität) vorsieht und nicht die gesamten C‑Gebiete17 des Westjordanlandes zur Annexion oder dauerhaften Kontrolle durch Israel freigibt.18 Aber die israelische Führung sieht sich in ihrer Haltung, auf fortgesetzte Kontrolle über die palästinensischen Gebiete statt auf Ausgleich mit den Palästinensern zu setzen, durch das Abkommen mit den VAE bestätigt. Denn dieses impliziert eine Abkehr von der unter anderem in der Arabischen Friedensinitiative von 2002 verankerten »Land für Frieden«-Formel.19

Verzicht auf formale Annexion

Doch auch wenn die israelische Führung infolge der Einigung mit den VAE auf eine unilaterale Annexion verzichtet, gibt es keinen Grund für die EU und ihre Mitgliedstaaten, sich erleichtert zurück­zulehnen. Denn das bedeutet keine Abkehr vom bishe­rigen Kurs Netanjahus, einen Endstatus auf­zuschieben, den Siedlungsbau voranzutreiben und die Kontrolle über die besetzten Gebiete zu vertiefen. Es unterbleibt lediglich die recht­liche Formalisierung. Nach über einem halben Jahr­hundert aktiver Siedlungspolitik ist die Besatzung bereits jetzt als auf Dauer angelegt – und damit als völkerrechtswidrig – zu begreifen.20 Zudem ist eine Zweistaatenregelung bereits heute im Wortsinne verbaut. Und schon in den letzten Jahren hat Israel seine Gesetzgebung schrittweise auf die Siedlerbevölkerung und die Sied­lungen ausgeweitet und damit immer stärker die sogenannte Grüne Linie zu den besetzten Gebieten verwischt. Hinzu kommt: Das in Oslo zwischen Israel und der PLO vereinbarte Kon­fliktmanagement ist, selbst wenn es kurzfristig noch einmal restauriert und die PA vor dem Kollaps bewahrt werden kann, nicht länger trag­fähig. Denn es basiert für die paläs­ti­nensische Seite auf dem Ver­ständnis, dass die Koope­ration mit einer Perspektive für ein Ende der Besat­zung und für paläs­tinensische Selbstbestimmung einhergeht und nicht dazu dient, die Besatzung zu vertiefen. Entsprechend ist der Druck seitens der palästinensischen Öffentlichkeit in den letzten Jahren deutlich gestiegen, eine Koope­ra­tion zu beenden, bei der die PA – vor allem im Sicherheitsbereich – als Handlangerin der Besat­zungsmacht wahrgenommen wird.21

Zwar nähme das Ausmaß der Irreversibilität mit einer formalen Annexion noch zu. Denn die »Rück­gabe« von Territorium erfordert in der Knesset größere Mehrheiten als dessen Einverleibung.22 Ohne formale Annexion könnten Siedlungen theoretisch noch immer rückgebaut werden, wie die Evakuierung der Siedlerbevölkerung aus dem Sinai zu Beginn der 1980er Jahre und aus dem Gaza-Streifen 2005 gezeigt hat. Doch ist ein solches Szenario eher unwahrscheinlich. Denn nicht nur kommt dem Westjordanland eine herausgehobene religiös-ideologische Bedeutung zu. Auch steigen mit dem Andauern der Besatzung sowie mit jeder zusätzlichen Wohneinheit und Infra­strukturinvestition die psychologischen, materiellen und politischen Kosten eines Rückbaus. Ohne bittere innerisraelische Auseinandersetzungen, so die Argu­mentation selbst von vielen Israelis, die eine Zwei­staatenregelung befürworten, sei eine Evakuierung von Siedlungen im Westjordanland schon heute nicht mehr möglich.23

Derzeit findet die Zweistaaten­regelung weder in Israel noch in den palästinensischen Gebieten eine Mehrheit.

Insgesamt hat in beiden Gesellschaften spätestens seit Beginn der Zweiten Intifada 2000 das Vertrauen in die Friedensfähigkeit der anderen Seite und die Hoffnung, dass es eine verhandelte Konfliktregelung geben könne, deutlich abgenommen. Damit ist auch die Zustimmung zu einer Zweistaatenregelung ero­diert. Heute findet Letztere weder in Israel noch in den palästinensischen Gebieten eine Mehrheit.24 In Israel befürwortet, je nachdem wie die Frage gestellt wird, mittlerweile bis zur Hälfte der Bevölkerung unilaterale Annexionen.25 In den palästinensischen Gebieten gewinnt, während die Führung in Ramallah an einer Zweistaatenregelung festhält, die Vision eines binationalen Staates mit gleichen Rechten für alle immer stärker an Zulauf. Damit verschiebt sich – auch vor dem Hintergrund großer Unzufriedenheit mit der seit 2007 fortdauernden innerpalästinensischen Spaltung und der Regierungsführung in West­jordanland und Gaza-Streifen – der Fokus zunehmend vom Kampf gegen die Besatzung zu einem Kampf für gleiche Rechte (in der Eigenwahrnehmung: Anti-Apartheid-Kampf). Damit einher geht auch die Forderung nach einer Erneuerung der PLO hin zu einer legitimen und repräsentativen Vertretung von Palästinenserinnen und Palästinensern in den paläs­tinensischen Gebieten, Israel und der Diaspora.26

Das europäische Mantra der Zweistaatenregelung

Im Gegensatz dazu halten die EU und ihre Mitgliedstaaten nach wie vor an der Zweistaatenregelung »als einzig realistischer Lösung des Nahostkonflikts« fest.27 Freilich ist dieser Glaubenssatz längst zu einer Leer­formel verkommen, statt als Leitlinie zu fungieren, an der sich europäische Politik orientieren würde. So haben die EU und ihre Mitgliedstaaten zwar regel­mäßig in interna­tionalen Gremien die Prinzipien einer Konfliktregelung auf Grundlage von zwei souve­ränen Staaten betont. Sie haben aber ihre Ambitionen bereits heruntergeschraubt, seit die US-vermittelten israelisch-palästinensischen Verhandlungen im April 2014 abgebrochen sind und sich der Konflikt in der Folge zugespitzt hat: Die europäische Politik soll nun dazu beitragen, eine Zweistaatenoption zu erhalten, nicht eine Zweistaatenregelung zu verwirklichen.

Doch selbst dieses Ziel konnten die Europäer nicht realisieren, da sie nicht bereit waren, ihre politischen Entscheidungen konsistent an einer Zweistaatenregelung auszurichten und ihr Gewicht geeint in die Waagschale zu werfen, um die Kosten-Nutzen-Rech­nung der Konfliktparteien zu beeinflussen. Entsprechende Inkonsistenzen zeigten sich etwa darin, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten zweideutige Signale gesandt haben. Einerseits kritisierten sie die israelische Siedlungspolitik und die autoritäre Regierungsführung der PA. Andererseits führte das kritisierte Verhalten in beiden Fällen nicht zu spürbaren Kosten für die jeweiligen Verursacher. Zwar setzten die Euro­päer ein im Grundsatz bereits 2008 beschlossenes formales Upgrade der EU-Israel-Beziehungen aus. Tat­sächlich aber wurden seither die Beziehungen zwi­schen Israel und der EU sowie einzelnen Mitglied­staaten immer weiter ausgebaut und die Kooperation vertieft. Und die PA erfuhr keine signifikante Redu­zierung ihrer Unterstützung durch die Europäer.

Auch kündigten die EU und ihre Mitgliedstaaten schon 1999 in der Berliner Erklärung an, einen paläs­tinensischen Staat »zu gegebener Zeit« anerkennen zu wollen. Doch haben sie – abgesehen von Schweden – diese Anerkennung bis heute mit dem Argument verweigert, dass ein palästinensischer Staat aus bilate­ralen Verhandlungen mit Israel hervorgehen müsse. Damit haben sie Israel de facto ein Veto über die Verwirklichung des palästinensischen Selbstbestimmungsrechts eingeräumt und eine Chance versäumt, die Grenzen von 1967 zu bekräftigen. Ebenso ist die von der EU und ihren Mitgliedstaaten beschlossene Differenzierungspolitik, also die Unterscheidung im Umgang mit Israel und israelischen Einrichtungen in den besetzten Gebieten, bislang nicht konsequent umgesetzt worden, etwa durch das einheitliche An­bringen von Herkunftsbezeichnungen an Siedlungsprodukten.28

Grundsätzlich werden die Konfliktparteien fort­gesetzt mit zweierlei Maß gemessen. So hängen Kon­tak­te und Kooperation mit palästinensischen Akteu­ren (seit dem Wahlsieg der Hamas 2006) davon ab, ob sie sich zu den sogenannten Quartett-Kriterien beken­nen – also Anerkennung Israels, Verpflichtung auf bis­herige Abkommen und Gewaltverzicht.29 Der Aus­tausch und die Zusammenarbeit mit ihren israelischen Counterparts ist indes weitgehend unabhängig davon, wie diese sich zur Anerkennung der PLO, zu den Oslo-Abkommen, Gewalt und einer verhandelten Konfliktregelung verhalten. Angesichts des normativen Selbstverständnisses der EU ist besonders irritie­rend, dass einige Mitgliedstaaten auf die palästinen­sische Führung dahingehend eingewirkt haben, nicht den internationalen Rechtsweg zu suchen, um ihre Ansprüche durchzusetzen bzw. Rechtsverstöße ahn­den zu lassen. In diesem Sinne suchten sie die PA zunächst davon zu überzeugen, nicht dem Interna­tionalen Strafgerichtshof beizutreten, und machten sich dann dafür stark, dass der Gerichtshof keine Zuständigkeit für die Ermittlung von Kriegsverbrechen in den palästinensischen Gebieten erhält.30

Den Europäern sollte besonders daran liegen, das Verbot der Aneignung von Territorium durch Gewalt hochzuhalten.

In den letzten Jahren haben die Mitgliedstaaten die Position der EU zusätzlich geschwächt. Sie setzten gemeinsame Beschlüsse nicht konsistent um, unter­ließen es, ihre Politik gegenüber den Führungen und Bevölkerungen vor Ort entschlossen zu erklären und zu verteidigen, und stellten sich nicht hinter die Hohe Vertreterin der EU für Außenbeziehungen, als diese für europäische Standpunkte von der Netan­jahu-Regierung ins Abseits gerückt wurde. Das liegt daran, dass die europäischen Regierungen sich – vor dem Hintergrund unterschiedlicher historischer Er­fahrungen, Selbstverständnisse und politischer Kultu­ren – nicht darüber einig sind, welche Bedeu­tung der Nahostkonflikt in der gemeinsamen Außen­politik und in den Beziehungen zu Israel einnehmen und wie ein zielführender Umgang mit den Konflikt­parteien aussehen soll. Auch hat die israelische Regie­rung Unstimmigkeiten in der EU genutzt, um Allian­zen mit einzelnen Staats- und Regierungschefs und subregionalen Gruppen zu schmieden, die Union so zu spalten und den Einfluss Brüssels und besatzungskritischer Mitgliedstaaten zu mindern.31

Wie weiter?

Die EU und die Mitgliedstaaten sollten wachsam blei­ben und ihr Gewicht gemeinsam in die Waagschale werfen, um eine formale Anne­xion auch künftig zu verhindern.32 Es gilt ebenso, angemessen zu reagieren, falls es tatsächlich zur Annexion kommt, selbst wenn sie vom Umfang her gering sein sollte.33 Als langjährige Hauptunterstützer eines friedlichen Aus­gleichs haben die EU und ihre Mitgliedstaaten ein herausgehobenes Interesse, dass eine Konfliktregelung in Nahost nicht verbaut wird. Darüber hinaus sollte ihnen besonders daran liegen, das Verbot der Aneignung von Territorium durch Gewalt als Grund­prinzip der regelbasierten Weltordnung hochzu­halten.

In diesem Sinne sollten die EU und ihre Mitgliedstaaten nicht nur darauf beharren, dass sie einseitige Grenzverschiebungen ablehnen, sondern vor allem auch unmissverständlich klarstellen, dass sie nicht bereit sind, einen Zustand auf Dauer angelegter Be­satzung und ungleicher Rechte mitzufinanzieren – und damit mitzutragen. Dies wird erfordern, die vertraglichen Beziehungen zu Israel und zur PLO/PA zu überprüfen, damit sicher­gestellt ist, dass sie völ­ker­rechtswidrigem Verhalten keinen Vorschub leis­ten. Und es wird zu eruieren sein, wie auch künftig Unterstützung in den palästi­nensischen Gebieten geleistet werden kann, um politisches und zivilgesellschaftliches Engagement zu stärken, die Lebenssituation zu verbessern und Verdrängung zu verhindern, ohne gleichzeitig völkerrechtswidriges Vorgehen zu legitimieren.

Alternativen ausloten, Zweistaatenansatz nicht vorschnell verwerfen

Darüber hinaus sollten die EU und ihre Mitglied­staaten die durch den Trump-Plan und die Annexions­vorhaben angestoßene Debatte über den israelisch-palästinensischen Konflikt zum Anlass nehmen, ihren Ansatz und ihre Politik gegenüber den Kon­flikt­parteien in der Nach-Oslo-Ära grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen. Dabei bestehen – entgegen dem europäischen Mantra – durchaus Alternativen zu einer Zweistaatenregelung, um den nationalen Identi­täten sowie individuellen und kollektiven Rechten ko­opera­tiv Geltung zu verschaffen.34 Angesichts der Verfestigung der Einstaatenrealität sollten die EU und ihre Mitgliedstaaten daher verstärkt auch kreative und kon­struktive Aspekte solcher Modelle – etwa eines binationalen Staates oder einer Konföderation – aus­loten, die geeignet sein könnten, zu einer Kon­flikt­regelung beizutragen. Ein Dilemma liegt freilich dar­in begründet, dass eine Zweistaatenregelung kaum mehr als realistische Lösungsoption erscheint, andere Formate aber keineswegs erfolgversprechender sind. Denn eine Konföderation würde ebenso auf geteilter Souveränität beruhen wie Zweistaatlichkeit. Eine bi­nationale Regelung hinge davon ab, dass beide Völker darauf verzichten, ihr Selbstbestimmungsrecht in einem jeweils eigenen Staat zu verwirklichen – eine Voraussetzung, die keine der beiden Gesellschaften der­zeit mehrheitlich akzeptieren würde und die von jüdi­schen Israelis überwiegend abgelehnt wird, da sie mit dem Ziel des politischen Zionismus unvereinbar ist.35

Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten daher den Zweistaatenansatz nicht vorschnell über Bord werfen. Würde die Unterstützung für palästinensische Selbst­bestimmung durch Eigenstaatlichkeit aufgegeben zugunsten der Forderung nach gleichen Rechten in einem Staat, so könnte dies zudem unbeabsichtigt gewichtige Nachteile mit sich bringen. Es nähme dem europäischen Differenzierungsansatz die politische (wenn auch nicht die juristische) Rechtfertigung. Auch würde es die Hürden für die Europäer erhöhen, sich aktiv für die Durchsetzung palästinensischer Rechte zu engagieren – denn diese träten in direkten Widerspruch zur Selbstdefinition Israels als jüdischer Staat. Nicht zuletzt ist eine Regelung des Flüchtlingsproblems ohne einen palästinensischen Staat, in den ein Großteil der Betroffenen zurückkehren könnte, kaum vorstellbar. Damit bleibt Zweistaatlichkeit ein wichtiger Anker – insbesondere beim Einsatz für jene Rechte, die über den individuellen Status der Palästinenserinnen und Palästinenser in den besetz­ten Gebieten hinausgehen.

Konsistente Orientierung europäischer Politik an Prinzipien

Gleichzeitig sollten die EU und die Mitgliedstaaten ihre Politik konsistenter als bislang an den Prinzipien ausrichten, die durch eine Zweistaatenregelung um­gesetzt werden sollen – eine Regelung des Konflikts, die auf dem Selbstbestimmungsrecht beider Völker beruht, die individuelle Menschenrechte sowie die Sicherheit aller garantiert und die die Flüchtlings­frage so regelt, dass sowohl das individuelle Recht palästinensischer Flüchtlinge auf Rückkehr als auch die Interessen von derzeitigen und potentiellen Aufnahmestaaten, inklusive Israels, berücksichtigt werden.36

Dazu würde gehören, konsequent einen rechte­basierten und rechtezentrierten Ansatz zu verfolgen. Dies würde erstens eine konsistente Differenzierung zwischen Israel und den besetzten Gebieten implizieren. In diesem Sinne wäre eine Gleichsetzung von Differenzierung mit Antisemitismus oder Boykott deutlich zurückzuweisen. Konsequenterweise würde dazu – neben entsprechenden Territorialklauseln in allen Abkommen, korrekten Herkunftsbezeichnungen und regelmäßigen freiwilligen Berichten über die Umsetzung von Differenzierungsmaßnahmen auf Basis von VN-Sicherheitsratsresolution 2334 – auch ein Importverbot für Produkte aus völkerrechts­widrigen Siedlungen gehören. Es würde zweitens be­inhalten, sich Delegitimationskampagnen gegen Menschenrechtsverteidigerinnen und ‑verteidiger klar entgegenzustellen sowie internationale Untersuchungen, etwa durch den Internationalen Strafgerichtshof, zu unterstützen statt sie verhindern zu wollen. Wenn EU und Mitgliedstaaten in ihrem Eintreten für eine regelbasierte Weltordnung ernst genommen werden wollen, sollten sie nicht den Eindruck erwecken, als ob sie Israel (oder irgendeinem anderen Akteur) einen Freifahrschein für Völkerrechtsverstöße ausstellten.

EU und Mitgliedstaaten sollten an ihre frühere Vorreiterrolle anknüpfen, um eine Regelung des Konflikts aktiv zu befördern.

Auch gegenüber der PA sollte Europa seine Erwartungen klar ausbuchstabieren und Unterstützung nicht bedingungslos gewähren. An erster Stelle ste­hen sollten dabei die Überwindung der internen Spaltung, eine demokratische Erneuerung der paläs­tinensischen Institutionen sowie ein konstruktives und friedliches Engagement für eine Konfliktregelung. Gleichzeitig müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten überprüfen, wo sie selbst einer Umsetzung dieser Forderungen im Wege stehen – etwa durch ihre »no contact policy« gegenüber der Hamas und ihre Zurückhaltung mit Druck angesichts der zuneh­mend autoritären Regierungsführung der PA.

Europäische Rolle bei der Konflikt­regelung

Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten darüber hin­aus an die Vorreiterrolle anknüpfen, die sie in der Vergangenheit – etwa mit ihrer Erklärung von Vene­dig 1980 – eingenommen haben, um aktiv eine Regelung des Konflikts zu befördern. In diesem Sinne sollte Europa, ausgehend von den bisherigen Erfah­rungen, auf einen geeigneten multilateralen Rahmen für Verhandlungen hinarbeiten – Verhandlungen, die unabhängig vom Format einer Regelung notwendig sind. Dazu würde gehö­ren, Prinzipien für eine Verhandlungsregelung vor­zugeben, eine robuste und unparteiische Vermittlung anzubieten, die Umsetzung eines Abkommens durch einen unabhängigen Überprüfungs- und Konfliktregelungsmechanismus zu begleiten und substantielle Sicherheitsgarantien anzubieten. Angewandt werden könnte dieser Rah­men erst in einer Zeit nach Trumps Präsidentschaft, damit nicht der »Jahrhundertdeal« legitimiert wird, der im Gegensatz zu Völkerrecht und europäischen Positionen steht und keine Basis für einen friedlichen Ausgleich bietet. Im Vordergrund muss allerdings auch dann die Frage stehen, wie bei den Konflikt­parteien der notwendige politische Wille zu einem trag­fähigen Ausgleich mobilisiert werden kann, statt lediglich gebetsmühlenartig auf eine Zwei­staaten­regelung und die Notwendigkeit von Verhandlungen zu verweisen. Dies dürfte ohne das Ausbuchstabieren konkreter Kosten im Falle von Nichtkooperation kaum gelingen.

Auch wenn sich unter den EU-27 kein Konsens finden lässt, sollten die EU-Institutionen und ausge­wählte Mitgliedstaaten mit ausreichend Gewicht entsprechende Positionen vertreten und Maßnahmen ergreifen. Die Alternative ist, weiterhin am Rand des Spielfelds zu stehen und als Zahlmeister ein Spiel zu finanzieren, das mit europäischen Werten und Interessen nicht in Einklang zu bringen ist.

Multilateralismus und globale Verantwortung

Arbeit am Inventar der Weltaufgaben: Deutschland, Afrika und die Nachhaltig­keitsagenda der Vereinten Nationen

Martin Jäger

Die Stimmung war professionell feierlich, als sich am letzten Septemberwochenende des Jahres 2015 mehr als 150 Präsidenten und Regierungschefs am Sitz der Vereinten Nationen in New York versammelten. Das Ziel des Gipfeltreffens war nichts Geringeres als die »Transformation unserer Welt«. Nach zwei Jahren intensiver Verhandlungen sollte ein »Aktionsplan für die Menschen, den Planeten und den Wohlstand« beschlossen werden. Papst Franziskus sprach, die Sän­gerinnen Shakira und Angélique Kidjo sangen, die Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai mahnte, auf der Tribüne hielten 193 Jugendliche aus aller Herren Länder Lichter in die Höhe. »Wir haben einen entscheidenden Augenblick in der Geschichte der Menschheit erreicht«, rief der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon, aus. Die Resolution über die Agenda 2030 für nachhaltige Ent­wicklung wurde ohne Gegenstimme angenommen.1 Ein glücklicher Tag der Völkergeschichte, in der Rück­schau vielleicht einer der letzten Momente der Ära des Multilateralismus.

Wenige Monate später, zum Jahresende 2015, ge­lang in Paris noch die Einigung auf den Klimavertrag. Seither strebt die Welt auseinander: Die Briten stimm­­ten für den Brexit, US-Amerika wählte Donald Trump, Handelskriege, Eskalationen, immer neue Antagonismen bestimmen das Geschehen. Bis zuletzt dann die Covid-19-Pandemie unsere Welt in eine Art Aus­nahmezustand versetzte. Man kann die Agenda 2030 als trotzigen Gegenentwurf zu all dem lesen, als einen Versuch der Weltgemeinschaft, sich gegen das kommende Unheil nationaler Egoismen zu stemmen.

Kein Teilnehmer des New Yorker Gipfels wird ernsthaft erwartet haben, dass sich die Probleme der Welt mit der Verabschiedung einer Resolution von selbst lösen. Zumal im September 2015 die Sturm­zeichen schon am Himmel standen. Im Vorjahr hatte Russland völkerrechtswidrig die Krim annektiert, der Arabische Frühling war blutig gescheitert, in West­afrika wütete Ebola, in Syrien und Libyen tobten Bür­gerkriege, der »Islamische Staat« erhob sein Haupt, Europa war nur knapp der Eurokrise entkommen, im Sahel stoppten französische Truppen den Vormarsch der Islamisten. Flüchtlinge und Migranten strömten binnen weniger Wochen zu Hunderttausenden nach Europa, viele davon über die deutsche Grenze. Eine Zeit der Krise und Zuspitzung. Ausgerechnet in dieser Situation verabredete sich die Staatengemeinschaft, den gemeinsamen Sprung nach vorn zu wagen.

Die Agenda zwischen Magna Charta und planetarischem Pflichtenheft

Wer sich die 37 Seiten der von der Generalversammlung verabschiedeten Resolution zur Agenda 2030 vornimmt, den erwartet keine mühelose Lektüre. Die Resolution ist weder Weltverfassungsvertrag, noch bietet sie einen simplen Plan zur Rettung der Erde. Wer es pathetisch mag, wird in ihr eine Art Magna Charta für eine nachhaltige und solidarische Globali­sierung sehen.2 In ihrem Kern ist die Agenda 2030 ein planetarisches Pflichtenheft: Sie formuliert eine Ethik ressourcenschonenden Handelns, eine neue Kreislaufwirtschaft soll lineares Wachstum ablösen. Am Ende des Weges – so die Hoffnung – warten gesell­schaftlicher Zusammenhalt, Wohlstand für alle, soziale Inklusion und ein nachhaltiger Umgang mit der Umwelt.

Dem auf einen hohen Ton gestimmten Prolog folgt die lange, fast buchhalterische Auflistung aller Felder, Faktoren und Forderungen, die in Betracht zu ziehen sind, wenn das Ziel einer gerechten und guten Welt im Jahr 2030 erreicht werden soll. Es werden 17 Nach­haltigkeitsziele definiert und damit verbunden 169 Unteraufgaben. Und weil all das ein kommunikativer Alptraum ist, haben die Verfasser der Agenda über ihr Dokument – in Anspielung auf den Sicherheitsrat und seine fünf ständigen Mitglieder (die »Permanent Five«) – das Motto der sogenannten P5 gestellt: »People, Planet, Prosperity, Peace, Partnership«.

Die Corona-Pandemie hat die Entwicklungserfolge der vergangenen sechs Jahre zunichtegemacht.

Die Agenda 2030 unterscheidet nicht länger zwischen finanzstarken Geberländern und armen Emp­fängern, jedes Land steht in eigener Verantwortung, jedes muss den ihm angemessenen Beitrag leisten. Anders als beim Pariser Klimavertrag ist aber nie­mand völkerrechtlich zur Umsetzung verpflichtet. Was tatsächlich getan wird, bleibt im Ermessen der jeweiligen Regierungen. Auch ein Mechanismus zur Finanzierung ist nicht vorgesehen. Die New Yorker Agenda setzt darauf, dass das Vernünftige sich von selbst den Weg bahnt. Ein jährlicher Bericht, verfasst von internationalen Experten, gibt Auskunft, wie die Umsetzung der Agenda vorankommt.

Auch Deutschland führt akribisch Buch. Eine Staatssekretärsrunde, angesiedelt beim Chef des Kanz­leramtes und unterstützt von einem nationalen Nach­haltigkeitsrat, soll dafür sorgen, dass die Ziele der Agenda 2030 sich im Handeln der Bundesregierung abbilden. Im globalen Vergleich zählt unser Land mit den Nordeuropäern zur Spitzengruppe derer, die auf dem Weg zu diesen Zielen am weitesten vorangeschritten sind. Wir haben die Kraft und die finanziellen Ressourcen, den Ausstieg aus der Kohle zu schaf­fen. Bei uns ist die Luft sauberer, sind die Flüsse kla­rer als andernorts. Unsere Gesellschaft ist ver­gleichs­weise egalitär, alle haben die Chance auf Bildung und Jobs.

Politische Reichweite und eingeschränkte Handlungsspielräume

Viel wurde erreicht, bei uns und anderswo auf der Welt. Dem stehen indes massive Versäumnisse gegen­über. Die Heftigkeit der Klimadebatte und die auf­flackernde #FridaysForFuture-Bewegung erinnern daran, wie weit wir von dem entfernt sind, was zu leisten wäre. Als Generalsekretär António Guterres im vergangenen Herbst eine erste Bilanz zur Umsetzung der Agenda 2030 zog, warnte er fast verzweifelt vor enormen Investitionslücken und einem weitflächigen Verfehlen der Zielvorgaben. Zuletzt hat die Covid-19-Pandemie viel von dem zunichte gemacht, was bis dahin erreicht worden ist, besonders hart betroffen sind die Entwicklungs- und Schwellenländer. Zum ersten Mal seit Beginn der Erhebung 1990 ist der Human Development Index (HDI) negativ, mehr noch: der durch die Pandemie verursachte Rückschlag hat die Entwicklungserfolge der vergangenen sechs Jahre zunichtegemacht. Selbst die globale Finanzkrise der Jahre 2008/2009 hatte keinen solchen Effekt.3 Welche Kraft kann vor diesem Hintergrund eine globale Transformationsagenda noch entfalten? Ist es an der Zeit einzugestehen, dass die Realität eine andere ist und der im September 2015 in New York eingeschlagene Kurs nicht zum Ziel führen wird?

Der Schriftsteller Jonathan Franzen hat Kritik auf sich gezogen, als er resigniert feststellte, dass globaler Temperaturanstieg und Klimawandel unabwendbar seien.4 Dieselbe Frage nach dem, was machbar und zu erreichen ist, lässt sich auch stellen mit Blick auf den umfassenderen Katalog der 17 Nachhaltigkeitsziele, von denen der Klimaschutz ja nur eines ist. Wo ver­läuft die Trennlinie zwischen einer realistischen Ethik der Schadensminderung und dem Defaitismus angesichts überwältigender Gefahren? Diese Frage sollten wir nicht moralisch oder ideologisch diskutieren. Nur durch nüchterne politische Abwägung lässt sich bestimmen, wie groß unsere tatsächlichen und finanziellen Handlungsspielräume sind. Das Erfor­derliche muss auch leistbar sein. Wo dies nicht der Fall ist, wird sich das politische Handeln der Realität anpassen müssen. Sonst laufen wir Gefahr, uns in rhetorischem Aktionismus und immer neuen symbo­lischen Initiativen zu verlieren.

Was international verabredet wird, muss national umgesetzt und in der Mehrzahl der Staaten demokratisch legitimiert werden. Die USA machten schon bei der Konferenz von Rio 1992 deutlich, dass sie nicht gewillt seien, dem Nachhaltigkeitsgedanken ihren Lebensstil zu opfern.5 Dies wird wohl auf absehbare Zeit gelten, unabhängig davon, wer in Washington regiert. Die ölproduzierenden Staaten fürchten den Abschied von der fossilen Energie, die Agrarproduzenten stemmen sich gegen den Ausstieg aus der industriellen Landwirtschaft. Die einschneidenden wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie wer­den die internationale Allianz für die Nachhaltigkeit weiter schrumpfen lassen. Viele Länder wissen nicht mehr, wie sie über den Tag kommen sollen, sie haben kaum die Kraft, sich um das Morgen zu kümmern. Wir Deutsche dürfen uns nicht in falschem Hochmut wiegen. Unser Wohlstand und unsere darauf beru­hende fiskalische Handlungsmacht verdanken sich Produktionszweigen, die im fossilen Zeitalter wur­zeln. Wie wir agieren, wenn nicht Haushaltsüberschüsse, sondern verminderte Steuereinnahmen und leere Sozialkassen unser Handeln bestimmen, wird man sehen.6

Covid-19 und die Nachhaltigkeitsagenda: Prioritäten sind gefragt

Gewiss ist nur eines: Eine von vielen ersehnte Rück­kehr zur goldenen Normalität der Nachkriegszeit ist illusorisch. Die kommenden Jahre werden die Arbeits­teilung in der Weltwirtschaft neu austarieren, mit möglicherweise dramatischen Folgen für den Handels­staat Deutschland und viele Niedriglohnländer im Süden. Weltweit wird man gewaltige Summen für den Wiederaufbau mobilisieren. Die Entscheidung, wo diese Gelder investiert werden, bestimmt mehr als alles andere darüber, ob die Ausrichtung auf nach­haltiges Wirtschaften gelingen kann.7 Der Streit dar­über ist schon entbrannt, »Green Recovery« und »Building Back Better« sind die Stichworte der Debatte. Hinter den Kulissen der internationalen Entwick­lungsbanken, allen voran der Weltbank, wird ver­bissen gerungen. Deutschland und Europa beziehen hier vernehmlich Stellung.

Damit ist es aber nicht getan. Wir brauchen einen klaren Kompass und müssen jetzt sagen, was vorran­gig ist. Es ist eine Illusion zu glauben, alle 17 Nach­haltigkeitsziele und ihre 169 Unterziele ließen sich zugleich erreichen. Also müssen wir Prioritäten set­zen. Dabei gilt es deutsche und europäische Interessen ebenso im Auge zu behalten wie unsere tatsäch­lichen Handlungsmöglichkeiten. Menschen überall auf der Welt brauchen zuallererst Schutz und ein Auskommen. Ganz oben stehen darum die Bekämpfung von Hunger und Armut; dafür bedarf es neben der direkten Nothilfe dauerhafter Jobs und Bildungs­angebote. Dies zu gewährleisten ist unsere Kernaufgabe. Dabei müssen wir im Blick haben, dass in fast allen Ländern des globalen Südens eine schnell wach­sende Bevölkerung mit dem Schrumpfen natürlicher Ressourcen wie Wasser oder Boden konfrontiert ist. Alle angestrebten Lösungen sollten deshalb soweit irgend möglich dauerhaft tragfähig sein. Das Ziel ist eine klimaneutrale, von erneuerbaren Energien an­getriebene Kreislaufwirtschaft, die flankiert wird von einer wirksamen Pandemievorsorge und Bevölkerungsplanung. Dieses konzentrierte Programm erfor­dert die Bündelung aller Mittel. Der Schlüssel zum Erfolg liegt darin, privates Kapital zur Finanzierung öffentlicher Güter zu mobilisieren, Jobs aus lokaler Wertschöpfung zu schaffen und besonders Mädchen und Frauen Bildungsangebote zu machen.

In den ersten Tagen der Corona-Krise flossen fast 100 Milliarden Dollar aus Entwicklungs- und Schwel­lenländern ab.8 Die jährlichen Entwicklungsleistungen der Industrieländer betragen rund 150 Milliarden US-Dollar. Jahr für Jahr überweisen die Gastarbeiter weltweit nahezu die vierfache Summe in ihre Hei­matländer.9 Diese Zahlen belegen: Mit öffentlichen Geldern allein ist es nicht getan. Vor der Krise schätz­ten die Vereinten Nationen den weltweiten Finanz­bedarf zur Umsetzung der Agenda 2030 schon auf jährlich 2,5 Billionen US-Dollar.10 Diese Zahl muss man nicht zum Nennwert nehmen, ihre Dimension verdeutlicht jedoch, dass eine erhebliche Finanzierungslücke besteht. Sie ist nur zu schließen mit Hilfe privaten Kapitals. Wir werden Wege aufzeigen müs­sen, wie private Investitionen in öffentliche Güter sich rechnen und absichern lassen. Dafür braucht es neue, innovative Garantieinstrumente.

Wie die KSZE-Schlussakte von 1975 könnte sich die Agenda 2030 als eine List der Geschichte erweisen.

Vorrang hat die Schaffung von Jobs. China und andere asiatische Staaten haben vorgeführt, wie über verlängerte Werkbänke und daraus erwachsend eige­ner Fertigung der Aufstieg aus der Armut gelingen kann. Schon vor der Pandemie wurde allerdings deut­lich, dass dieses Modell in Afrika nicht ohne weiteres kopierbar ist. Wenn Unternehmen in den Industrieländern nun über die Verlässlichkeit von Lieferketten nachdenken und die Politik darüber streitet, wie viel Globalisierung im Produktionsprozess wir uns künftig erlauben sollen, beschränkt dies die Chancen von Entwicklungs- und Schwellenländern, ihre komparativen Vorteile auszuspielen. Dies kann mittelfristig nur kompensiert werden durch neue Jobs in der lokalen Produktion und den Ausbau des innerafrikanischen Handels.

Schließlich die Bildung. Sie bleibt der Schlüssel zu individueller Entwicklung und zur Teilhabe an der Gesellschaft. Dies gilt besonders für Mädchen und junge Frauen, die in den Zeiten der Krise als Erste die Schulen verlassen mussten. Ihre Rückkehr ist vor­rangig. Es muss auch wirksamer gelingen, berufliche Ausbildung und anschließende Beschäftigung mit­ein­ander zu verknüpfen. Das Modell der dualen Berufs­ausbildung ist hier beispielgebend. Nicht zuletzt müs­sen wir die Chancen digitalen Lernens besser nutzen. Wer sich in der Digital-Szene Afrikas umschaut, be­merkt schnell deren Potential, das uns Anstöße geben kann, die fruchtbar zu machen sind.

Eine globale Verantwortungs­gemeinschaft

Man könnte es bei diesen eher praktischen Hinweisen belassen. Doch es lohnt, etwas tiefer zu bohren. Die Agenda 2030 lässt sich auch als ein Text lesen, in den die Welt des Jahres 2015 ein Bild von sich eingezeich­net hat, eine Art kollektives Selbstporträt. Die von den Mitgliedern der Generalversammlung einmütig verabschiedete Resolution präsentiert sich stolz als Gründungsakte einer neuen solidarischen Globalität. Die Staaten der Welt verpflichten sich zur Zusammenarbeit auf Augenhöhe und zu fairer Teilung der damit verbundenen Lasten. Die Entwicklungsländer streifen endgültig ihre Rolle als Empfänger von Leis­tungen ab. Von nun an agiert die Welt als Verantwortungsgemeinschaft. Dies markiert eine Zäsur und be­schreibt zugleich eine große Heilung. Die Charta der Vereinten Nationen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte waren verabschiedet worden, ohne dass die Mehrzahl der Länder des globalen Südens beteiligt war. Sie wurden erst in den nach­folgenden Jahrzehnten aus kolonialer Herrschaft ent­lassen. Ausgerechnet der viele Jahre später verabschiedete Text der Nachhaltigkeitsagenda beglaubigt nun auf fast altmodische Weise den souveränen Gleichrang dieser Staaten. Für manche Regierung des globalen Südens war womöglich genau dies der Grund, der Agenda-Resolution zuzustimmen. Darin liegt eine Ironie, zugleich tut sich eine reizvolle histo­rische Parallele auf.

Die Agenda 2030 ähnelt der Helsinki-Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) von 1975. Die in dieser Schlussakte niedergelegten Prinzipien galten in ihrer Zeit als weich und wenig verbindlich, niemand hatte Phanta­sie genug, sich vorzustellen, was für eine subversive Kraft die Schlussakte entfalten würde. Was die Sow­jets ersannen als Instrument zur Festschreibung der Teilung Europas, erwies sich im Nachhinein als Inku­bator des Wandels. Auch die Agenda 2030 könnte sich als eine unerwartete List der Geschichte erweisen.

Die koloniale Erfahrung Afrikas aufnehmen

In Deutschland betrachten wir die Dekolonisierung der fünfziger und sechziger Jahre fälschlich als historisches Randereignis und nicht als das, was sie tatsächlich gewesen ist: der größte internationale Umbruch seit Kriegsende, in seiner Dimension nur vergleichbar mit dem späteren Kollaps der Sowjet­union oder dem Aufstieg Chinas.11 Wir Deutsche waren in jenen Jahren mit den Folgen des Welt­krieges und der jungen Teilung unseres Landes be­schäftigt, unsere eigene Kolonialzeit lag lange zurück. So entging uns die Tragweite der damaligen Umwälzung, bis heute ist sie ein blinder Fleck unserer Welt­betrachtung. In Paris, Brüssel oder London ist die Wahrnehmung naturgemäß eine andere.

In Afrika und Asien war die Freude über die Befreiung vom Joch der Kolonialherren groß, viele der jungen Staaten waren indes von Anbeginn damit belastet, dass ihre Staatlichkeit nur auf dem Papier ihrer Unabhängigkeitserklärung existierte. In man­chen Fällen reichte die effektive Macht der frisch ein­gesetzten Regierungen kaum über die Hauptstädte hinaus. Der Abzug der vormaligen Kolonialmächte beendete auch nicht die ungleiche Verteilung von Macht und Wohlstand. Im Gegenteil, vielfach wurde mit der Unabhängigkeit die Vormacht einheimischer Eliten zementiert und sogar ausgebaut. Dennoch herrschte Optimismus vor. In jenen Jahren schien Entwicklung planbar, kraftvolles, von gewaltigen Infrastrukturprojekten angestoßenes Wachstum soll­te allgemeinen Wohlstand ermöglichen. Ingenieure und Technokraten nahmen fast überall das Heft in die Hand, der Staudamm und die mit ihm herbei­geführte Elektrifizierung avancierten zum Symbol des Fortschritts. Die Entwicklungshilfe wurde erfunden.12 Auch aus der Einsicht heraus, dass vergessen worden war, den jungen Staaten bei ihrer Entlassung in die Unabhängigkeit eine Art Lastenausgleich zuzusprechen. Bis heute dreht sich der entwicklungspolitische Diskurs um dieses Versäumnis und die Frage, wie es geheilt werden kann. Die Selbstverpflichtung der Industrieländer, möglichst 0,7 Prozent ihres Nationaleinkommens abzugeben, spiegelt dies.

In den siebziger Jahren stockte der erhoffte Aufschwung. Die Ölkrise führte zum Kollaps zahlreicher Volkswirtschaften des Südens. Hungersnöte folgten, erst im Sahel, später am Horn von Afrika. Die Aus­richtung der Entwicklungspolitik schwenkte um auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse.13 Trotzdem stagnierten in Afrika die Verhältnisse. In Asien dage­gen gelang den Tigerstaaten Singapur, Taiwan, Hong­kong und Südkorea, sich aus eigener Kraft zu ent­wickeln.14 Das eigentliche Wunder aber geschah in China. Mehr als 850 Millionen Menschen wurden dort von 1981 bis 2015 aus der Armut gehoben; die Armutsquote sank von 88 auf 0,7 Prozent.15 In der Geschichte war bis dahin nie etwas Ähnliches erreicht worden, in China allerdings um den Preis der massi­ven Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen. Welt­weit begannen die klügsten Köpfe, über die bestmögliche Verbindung von Wachstum und Nachhaltigkeit nachzudenken. Ausdruck fand dies im Rio-Prozess. Die »Millennium Development Goals« folgten. Beein­druckende Fortschritte wurden erzielt,16 Aufbruch lag in der Luft, die große Synthese schien greifbar, nichts Geringeres als ein Masterplan zur Rettung des Plane­ten und seiner Bewohner war das Ziel. Im September 2015 wurde er schließlich als Agenda 2030 in New York verabschiedet. Seither sitzen alle in einem Boot, das gesteuert werden sollte von der Vernunft und dem Bewusstsein global geteilter Verantwortung.

Das Pathos der Gipfelresolution vom Hudson River, ihr Wunsch, der Globalisierung ein menschliches Antlitz zu verleihen, klingt heute nach als das Echo einer vergangenen Zeit. Viele Länder des globalen Südens kämpfen um ihr nacktes Überleben. Die Folgen der im Frühjahr 2020 ausgebrochenen Covid-19-Pandemie trafen sie mit voller Wucht, gerade in Afrika. Millionen von Jobs gingen verloren, Schulden­berge häufen sich auf, die kaum abzutragen sind. Eine Generation junger Leute verliert die Aussicht auf Familiengründung und verlässliches Einkommen. Regierungen zeigen sich zunehmend hilflos angesichts dieser Verwerfungen, vielerorts behaupten sie sich nur mit Gewalt.17

Ein Gespenst aus den Anfangsjahren der Unabhängigkeit kehrt zurück: Der machtlose Staat. Souveränität im Sinne durchgreifender exekutiver Handlungsmacht ist für viele Länder Afrikas eine unerreichte Utopie geblieben. Nördlich wie südlich der Sahara dehnen sich herrschaftsfreie Räume aus, Staats­grenzen halten weder Schmuggler, Terroristen noch Migranten auf. Der uns aus der Schulzeit vertraute Blick auf die Karte Afrikas mit ihren bunt eingefärbten Ländern suggeriert eine Ordnung, die ins Wanken geraten ist. Weite Landstriche bleiben sich selbst überlassen, es herrschen kriminelle Gangs und kor­rupte Beamte. Wer kann, verlässt die ländlichen Regionen. Zugleich gewinnt in den Metropolen Afri­kas das Neue Gestalt. Ihre ökonomische Anziehungskraft macht sie zum Sehnsuchtsort und Fluchtpunkt für Menschen tief in die umliegenden Nachbarländer hinein.18 Während die ländlichen Regionen und die Randbezirke der großen Städte zusehends sich selbst überlassen sind, nehmen die Zentren der Metropolen stolz ihre Stellung in den globalen Netzwerken ein. Sagenhafter Reichtum und beißende Armut, ja Hun­ger stehen einander schroff gegenüber, die Zustände sind so dynamisch wie explosiv. Selbst in jenen Län­dern, wo vorgeblich noch Ordnung herrscht, leiden die Verwaltungen an Schwäche und Korruption.19 Oft behindern autoritäre Machtstrukturen den Wandel; Wachstum und Einkünfte werden ungleich verteilt, nach wie vor bestimmen die alten Eliten. Dabei be­sonders ärgerlich: Ausgerechnet einige Favoriten­länder der internationalen Entwicklungszusammenarbeit erweisen sich als besonders anfällig für diese Kalamitäten.

Doch zurück ins Helsinki des Jahres 1975. Der Ostblock war schon morsch, als er glaubte, mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte seinen größten diplomatischen Erfolg zu erringen. Die Planwirtschaft und ein ruinöser Rüstungswettlauf hatten ihren Preis gefordert. In Helsinki paradierte noch einmal die alte Siegermacht Sowjetunion. Erwartungsvoll war auch die Stimmung am Hudson River an jenem Wochenende des September 2015, als die Agenda 2030 ein­hellige Zustimmung fand. Heute wissen wir, dass die damalige Hoffnung getrogen hat.

Heterogene Realitäten in Afrika: Was wissen wir? Was können wir wissen?

Der Befund ernüchtert, doch gerade mit Blick auf Afrika müssen wir uns vor Schematismus hüten. Überschießender Optimismus, der Afrika zum Chan­cenkontinent hochjubelt, wechselt ab mit rabenschwarzem Pessimismus, der ganz Afrika in Hunger und Chaos versinken sieht. Die Wirklichkeit ist wie immer bunter. Vielleicht sollten wir – Europäer wie Afrikaner – uns erst einmal darüber verständigen, was diese Wirklichkeit ausmacht.

Dies beginnt mit der Frage, ob es das intellektuelle Vorrecht der Afrikaner ist, alleine über Zukunft und Vergangenheit ihres Kontinents zu urteilen. Wo trennt uns die Geschichte, wo verbindet sie? Welche Macht hat das Faktische? Darf man Staaten im west­fälischen Sinne noch als souverän betrachten, wenn ihnen die Kontrolle über ihr Staatsgebiet abhandengekommen ist? Oder sie völlig verschuldet sind? Welche Rolle spielt China? Was ist Europas Antwort auf die chinesische Expansion in Afrika? Werden wir demnächst wieder in Großräumen denken lernen? Wer kümmert sich um politisch verwahrloste, herr­schaftsfreie Provinzen? Dürfen Nichtregierungs­organisationen (NGOs) lokale Verwaltungen ersetzen? Gibt es ein Anrecht externer Mächte auf Intervention, wenn essentielle eigene Interessen – wie in der Migrationsfrage, beim Schutz der Regenwälder oder der Terrorbekämpfung – auf dem Spiel stehen? Wenn einheimische Bevölkerung geschützt werden muss vor Genozid, Gewalt und Hunger? Wer trägt die Verantwortung für Leid und Fehlentwicklung? Wem ist die herrschende Elite zur Rechenschaft verpflichtet? Was legitimiert eine Regierung, die aus fehler­haften Wahlen hervorgeht? Wer sorgt für eine funk­tionierende Staatsverwaltung? Sind wir mancherorts nicht längst (wieder) bei einer Art »indirect rule« angelangt? Existieren de facto Schutzgebiete? Wie stellen sich Recht, Institutionen, Identität, Ethnizität zueinander? Wie schiebt man korrumpierten Institu­tionen einen Riegel vor? Woher sollen die Mittel zur Finanzierung öffentlicher Leistungen kommen? Wer ist in der Lage, mit Sachverstand Investitionsentscheidungen zu treffen? Welche Rolle spielen regionale Einrichtungen und Entwicklungsbanken? Wer stattet sie mit Kapital aus? Wer führt Kassenbuch über die Verschuldung auf dem Kontinent? Und von rasant wachsender Bedeutung: Wer regiert und steuert die Metropolen? Wem kommt der dort erwirtschaftete Wohlstand zugute? Wer hat über diese Mega-Cities noch Kontrolle? Schließlich: Wer darf sich anmaßen, über all das zu richten?

Vor unseren Augen implodiert die Welt, wie sie aus der Dekolonisierung entstand.

Jede dieser Fragen wirft neue Fragen auf. Anerkennen wir, dass wir dazu weniger wissen, als wir glau­ben. An dieser Wegkreuzung der Ratlosigkeit begeg­nen sich Völkerrecht, soziologische Institutionenkunde, »Postcolonial Studies«, Entwicklungstheorie, Ökonomie, Politikwissenschaft und Kameralistik. 1961 schrieb Frantz Fanon: »Die Dekolonisation, die sich vornimmt, die Ordnung der Welt zu verändern, ist, wie man sieht, ein Programm absoluter Umwälzung.«20 Das gilt heute mehr als damals. Der aus der Dekolonisierung der fünfziger und sechziger Jahre geborene Nomos implodiert vor unseren Augen. Noch klammern wir uns an Debatten über weniger bedeu­tende Nebenaspekte wie zuletzt die Restitution von Kulturgütern. Es wird Zeit, dass wir uns den eigent­lichen Fragen der Neuordnung zuwenden.21 Erwarten uns bleierne Schwere oder eher Chaos, Revolution und Umbruch? Wendet sich womöglich alles zum Besseren? Keiner weiß das. Die Erfahrung von Helsin­ki lehrt, dass dort Zuversicht keimt, wo wir sie am wenigsten erwarten. Weder die kommunistischen Führungen im Osten noch die demokratischen Regie­rungen des Westens haben vorausgesehen, dass Bürgerrechtler in den Staaten des Warschauer Paktes die Schlussakte beim Wort nehmen würden. In der Tschechoslowakei gründete sich die Charta 77, ihre Galionsfigur, der Dramatiker Václav Havel, wurde verhaftet und eingesperrt.

Leave no one behind: Würde und Teilhabe für alle

Kein Resolutionstext braucht uns zu ermahnen, dass Menschheitsaufgaben wie Klimaschutz oder der Kampf gegen den Hunger bewältigt werden müssen.22 Das versteht sich von selbst. Wenn man sich in Zu­kunft einmal der Agenda 2030 erinnert, wird nicht der Katalog der 17 Nachhaltigkeitsziele die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sondern eine scheinbar beiläu­fige Passage ihres Prologs: Niemand dürfe zurück­gelassen werden, heißt es dort, »Leave no one behind« – dieser Satz ist weltweit zum Schlachtruf von Bür­gerrechtlern und zur Geschäftsgrundlage zahlreicher NGOs geworden. Damit wird kaum einer der Staats­chefs gerechnet haben, als er vor fünf Jahren der Agenda 2030 in New York seine Zustimmung gab.

Einen Anspruch auf Würde und Teilhabe haben nicht nur die Eliten, Lebenschancen müssen unter allen fair geteilt werden. Das ist die eigentliche Bot­schaft der Agenda 2030. Wie dies am besten bewerkstelligt wird, darüber muss eine Gesellschaft streiten, und dies aus eigenem Antrieb. Worüber zu streiten ist, weiß die jeweilige Gesellschaft selbst am besten. Einer, der sich an diesem Streit auch unter Inkaufnahme persönlicher Risiken beteiligt, ist der Philo­sophie-Professor Clément Dembélé aus Mali. Im Mai 2020 wurde er verhaftet und erst auf internationalen Druck wieder freigelassen. Dembélé ist ein so kluger wie sturer Kopf. Er wird Kurs halten, so viel ist sicher. Vielleicht wird er so eines Tages der Václav Havel seines Heimatlandes Mali. Das ist ihm zu wünschen. Vergessen darf er dann nicht, woher er kommt, und er wird sich zurechtfinden müssen unter scheinbar unersetzlichen Technokraten und Beamten, die bereitstehen, beim Regieren zu helfen, in Wahrheit aber die Fäden ziehen wollen. Diese frustrierende Erfahrung machte schon der Dichterpräsident Havel.

Am Ende zählen Taten, nicht Worte.

After the Pandemic – A View from the United States

James Dobbins

In the early 1990s, a group of Western officials and analysts gathered among the hills and lakes of south­ern Bavaria to try to make sense of a world without the Soviet Union. Hosted by SWP on its Ebenhausen campus, and chaired by NATO’s Secretary General, Manfred Wörner, these annual meetings sought to define a future role for an Atlantic community in the context of a unifying Europe. Today we find ourselves in a somewhat similar, if less propitious moment, as we seek to assess the longer-term impact of the most globally disruptive development since the Second World War.

Impact of Covid-19 in Geopolitical Terms

One possibility is that Covid-19 will simply intensify existing sources of entropy in the international sys­tem, accelerating populist, nationalist, anti-establish­ment, and anti-globalist (and in Europe anti-EU) trends, much as the First World War exacerbated the very pathologies that gave rise to that conflict.

Richard Haass, writing for Foreign Affairs, provides a persuasive example of this line of analysis. In an article entitled “The Pandemic Will Accelerate History Rather Than Reshape It: Not Every Crisis Is a Turning Point”,1 he writes, “The pandemic and the response to it have revealed and reinforced the fundamental characteristics of geopolitics today. As a result, this crisis promises to be less of a turning point than a way station along the road that the world has been traveling for the past few decades.”

Haass foresees a “post-American world”, noting that “long before Covid-19 ravaged the earth, there had already been a precipitous decline in the appeal of the American model. […] Thanks to persistent political gridlock, gun violence, the mismanagement that led to the 2008 global financial crisis, the opioid epidemic, and more, what America represented grew increasingly unattractive to many. The federal govern­ment’s slow, incoherent, and all too often ineffective response to the pandemic will reinforce the already widespread view that the United States has lost its way.” Haass is similarly dismissive regarding pros­pects for the European Union: “[T]he process of Euro­pean integration had run out of steam long before this crisis – as Brexit demonstrated especially clearly. The principal question in the post-pandemic world is how much the pendulum will continue to swing from Brussels to national capitals, as countries question whether control over their own borders could have slowed the virus’s spread.”

The US Response to Covid-19 and Growing Discontent

This pessimistic vision is all too plausible. The initial response to the pandemic, particularly in the United States, has already exhibited most of the flaws to which Haass refers. These include incoherent policy formulation, ineffectual execution, lack of inter­national collaboration, and blame-shifting towards China and the relevant United Nations body.

Both America’s political leadership and its federal bureaucracy bear responsibility for the slow response to the mounting threat – the former for not taking the threat seriously enough, and the latter for bungling the first efforts at diagnostic testing. As a result, America has become first in the world in the number of known Covid-19 infections and deaths. The pan­demic has also highlighted the precarious economic circumstances in which many Americans live. Most workers have no job security, and consequently no secure health care.

The American people will have their first opportunity to render judgement on their government’s performance in November 2020. It is also likely that a national commission will be formed to scrutinise the response to the pandemic and recommend longer-term responses. The lessons Americans draw from the Covid‑19 experience will also impact their future inter­national engagement. This is obviously true as it relates to planning to cope with future global epidemics. However, changes in American economic and social policies will also have international ramifications.

Income disparity is mirrored in Covid-19 death rates, as many poorer Americans live and work in crowded environments.

Many Americans have come to feel that globalisation and the liberal international order that promotes it have not been working for them, that they are not sharing in whatever progress is being registered na­tionally and globally. They have a valid point. Over the past several decades, improvements in living standards for most Americans have slowed, and for many have ceased altogether. The United States has led the industrialised world in growth for most of the past 40 years, but personal income for the great majority of Americans has not kept pace. According to one influential study, 90 per cent of Americans have had their incomes grow more slowly than the rate of the country as a whole. For the bottom half of the population, personal income has grown at only one-fifth the national rate.2 Now income disparity has been mirrored in the Covid-19 death rates, as many poorer Americans live and work in crowded environ­ments, which preclude social distancing.

Increasing inequality is not unique to the United States. This phenomenon provides one explanation for the rise in populist, anti-elitist, and anti-globalist movements in several Western societies. However, the United States leads the industrialised world in income disparity.3 Until recently, the United States had been the most important champion of the liberal international order, so its defection from this role is particularly consequential.

The Trump administration’s attitude towards America’s role as steward of the global order can be characterised as “No more Mr. Nice Guy”. This view holds that, while the United States has been busy propping up the international system and safeguarding the global commons, its friends and adversaries have been taking unfair advantage by encroaching on American markets and free-riding on American secu­rity guarantees. The time has come, therefore, to re­negotiate America’s most solemn undertakings, those underpinning both the global trading system and the Western security architecture – and to withdraw from them if better deals cannot be struck. The result of such policies is already being felt in the gradual unravelling of the normative and institutional fabric of international life.

The initial American reaction to the coronavirus pandemic has validated Richard Haass’ pessimism. American officials have sought to shift the blame to China and the World Health Organization. European governments were given no warning of the travel ban on their countries. France organised a virtual G-7 summit meeting to discuss the pandemic, although the United States is this year’s chairman. President Donald Trump announced the suspension of legal immigration to the United States. “Few governments”, the New York Times reported, “are even looking to the United States for leadership.”4

A New Era?

Yet, as of this writing, in the spring of 2020, the pan­demic may have a year or more to run. Full economic recovery is more distant still. We do not yet know which responses will be validated and which found to be wanting. Congress and the president, in a rare bi­partisan effort, have been pumping billions of dollars into an effort to provide at least a temporary social safety net under the millions of suddenly unemployed – and often therefore uninsured – Americans. One must anticipate efforts to extend these arrangements once the virus recedes. Already Demo­cratic politicians are calling for a guaranteed mini­mum income, and some Republicans have also taken up the issue of income disparity. “The pandemic crisis has laid bare the fact that while our economy was fundamentally strong before the crisis hit, we have unsustainable levels of income disparity in the United States, with too many people living paycheck to pay­check, afraid of the wolf at the door,” writes Henry Paulson, Secretary of the Treasury under George W. Bush.5 In the same vein, Marco Rubio, the Republican Senator from Florida, asserts that “[o]ver the past sev­eral decades, our political and economic leaders […] made choices about how to structure our society – choosing to prize economic efficiency over resiliency, financial gains over Main Street investment, individual enrichment over the common good.”6 Speaking about the impact of the coronavirus, Federal Reserve Bank Chairman Jerome Powell noted that “the burden of a downturn has not fallen equally on all Americans, instead those least able to withstand the down­turn have been affected most.”7

Richard Haass may well prove right that “the pan­demic will accelerate history rather than reshape it,”8 but it would be a mistake to act on such an assumption. As the Washington Post columnist Max Boot has pointed out, the United States has repeatedly shown the capacity to rise to catastrophic challenges. “The Civil War – which killed more Americans than all of our wars until Vietnam combined – led to the end of slavery. The Great Depression led to the beginnings of a welfare state to help the needy. World War II – the costliest conflict in history – led to the spread of democracy and the rise of a more liberal world order. White supremacist violence led to the passage of the 1964 Civil Rights Act and the 1965 Voting Rights Act. The humiliations of the 1970s – stagflation, Water­gate, the fall of South Vietnam, the Iranian hostage crisis – led to a national revival and victory in the Cold War. The financial collapse of 2008 led to the election of our first African American president, greater limits on Wall Street and the passage of the Affordable Care Act.”9

Back in the early 1990s, those of us who met in Ebenhausen at the invitation of SWP knew how the Cold War ended as we planned for the new era. As of this writing, we have little idea of how or when the pandemic will lift, still less about when the economy will rebound, nor can we be sure how the blame and credit will be distributed. To quote Chou En-Lie, “It’s too soon to tell” the long-term effect of Covid-19, but not too soon to work together for better outcomes.

Between Concentration and Dispersion: An Ongoing Debate on Power Relations

Thomas Gomart

Far from being an absolute, power “is a human rela­tionship”,* one that is conceivable in both theoretical and political terms. Both an analytical concept and a policy principle, power is now understood in all its different forms and is either celebrated or criticised in academic discussions on the topic.2

We must start from a distinction between power, which presupposes an accumulation of means, and the exercising of power, which demands a will of its own. The former develops – and gains or loses value – over the long term; by contrast, the latter inevitably runs up against the existing order, and consequently has a more short-term character. They must be understood on different time scales: No power is born great. To become great, it must possess a port­folio of (human, moral, and material) resources, bringing these to fruition through projects that vary, not only under the influence of internal and external forces, but in terms of the direction (i.e. the aim) given to them. Their potential is the set of virtually possible reconfigurations. Using this approach, we can define power as “the combination of potential and acting out”.3

As an analysis of the topic reminds us, “the factors of power are not the same from century to century”.4 For instance, the Defence and National Security Strategic Review presented to Emmanuel Macron in October 2017 underscored the fact that military competition has once again raised its head: “The international balance of power is changing rapidly. The uncertainty, the anxiety, or, on the contrary, the new ambitions generated by this unstable situation are all risk factors. Competition, initially economic and technological, is increasingly extending to the military realm.”5 This way of approaching the topic empha­sises an often forgotten fact: the opposition between economic and diplomatic-strategic conduct. The goal of the former is relatively limited, whereas the second develops “in the shadow of war”.6 The whole art of politics consists in knowing how to distinguish these in order to better combine them.

Any discussion of power that considers the next 10 years must raise the question of hierarchy. In the early 1980s, Fernand Braudel (1902–1985) claimed that “capitalism needs a hierarchy”, and that “capi­talism does not invent hierarchies […] it merely uses them”7 – a very useful claim, if we believe that capi­talism will continue to govern economic exchanges. Any discussion about power, then, will be based on a wager over the future course of globalisation. Rivalry between nations is one factor among others that will guide globalisation. Is it the main one? Perhaps not, given the environmental damages caused by our current modes of consumption. Still, such rivalry is the aspect closest to us, and it is this that I aim to shed light on here.

From a political point of view, the consequences of the United States and China potentially swapping places at the top of the global hierarchy must be examined. China’s rise, and American reactions to it, are the primary issues in international politics in the short, medium, and long terms. From a theoretical point of view, power is becoming increasingly dis­persed – or perhaps increasingly concentrated. The question arises because of the rapid global diffusion of information and communication technology (ICT). The last decade has been characterised by empowerment – that is, individual capacity for action that has been increased thanks to technology. This diffusion has taken place at the very heart of human activity, and even if hierarchies remain with us, we must now rethink them. It also brings with it heavy levels of concentration, particularly given the role played by a small number of digital platforms. On this dual political and theoretical approach, current dynamics will necessarily lead to major tensions and upsets for the existing order. Such an approach invites us to closely examine the intense technological and scien­tific competition that both economic domination and military superiority depend on.

China at the Top of the Global Hierarchy: What Would It Mean?

We can see the state of mind predominating among strategic elites at any particular point in time by looking at the relationship between historiography and history. Two books that were published 30 years apart can serve as reference points for debates over power. They reflect the concerns of their time – particularly in Washington, where “policy makers at the highest level often think any event more than ten years old is a matter of ancient history”.8

Paul Kennedy’s The Rise and Fall of the Great Powers, which was published in 1987, examines the gap in time between a state achieving economic power and the inevitable translation of this into the diplomatic-strategic domain. Kennedy uses examples to show that, once a power reaches the top of the hierarchy, the economic resources required for its military projects cause it to come apart under its own weight. This leads it to “strategic overstretch” and, consequently, to decline. Power is fundamentally relative, and it varies depending on the growth rates and tech­nological advances of other actors. When the book was published, America’s potential rivals were Ger­many and Japan, the two main losers of the Second World War. China was not part of the equation.

Graham Allison’s Destined for War: Can America and China Escape Thucydides’s Trap?, published in 2017, high­lights the speed of China’s rise over the last 40 years, and the high likelihood of a conflict with the United States, which is determined to defend its place at the top of the global hierarchy. The book’s success is no doubt the result of a new “Sputnik moment” in Washington. In 1957, the American authorities were caught off balance by the technological advances of the Soviets, who had successfully sent a rocket into space. They responded by putting substantial re­sources into their own mission to conquer space. With this success in mind, there is a very widespread view in Washington that the time for the United States to confront China’s rise is now or never. We will know in 10 years if – in spite of all the controversies he caused – Donald Trump’s first term was the moment for a bipartisan mobilisation of resources to counter China’s rise, whether successful or not.

It is difficult to tell precisely what are China’s and America’s positions towards each other. But it is clear that, in the near future, they will be the dominant global players by far, even if powers such as India also intend to make their way up the global hierarchy. As difficult as it may be to understand China’s position, we should recognise that it could reach the top of the hierarchy within the next two decades – a deeply contradictory rise, since the global capitalist system will be dominated by the People’s Republic of China, a party-state.

Very few in Washington would wager on any convergence between China and the United States.

We must therefore explore two hypotheses. The first is that the Chinese regime will transform as it gradually adapts to the demands of a capitalism gov­erned by shared rules. This interpretation subscribes to the myth of convergence, encouraged by China joining the World Trade Organization (WTO) in 2001, which led to the belief that the country was becoming more politically open. With 10 years of hindsight, this interpretation has run up against the financial crisis of 2008 – when China made its international ambitions clear – and the ideological hard line taken by Xi Jinping. Very few in Washington would wager on any convergence between China and the United States, in spite of the level of economic exchange between the two. A variant interpretation puts its money on internal political divisions. China is an “amnesiac superpower”, in which it is impossible to challenge Mao’s watchful presence or mention the Tiananmen Square Massacre of June 1989: Can it build a future on forced ignorance of the recent past?9 No one is safe from the violent return of the repressed.

The second hypothesis is that the current regime will remain stable, raising the prospect of a Leninist government becoming the leader of global capitalism. We may not be able to dismiss this as an irony of history: Since 1949, the Chinese Communist Party (CCP) has established a “new authoritarian equi­librium”, which experts say could allow it to main­tain power for the next three decades.10 The CCP’s foundations are Soviet, and amnesia about Tiananmen is masked by hyperamnesia about the fall of the USSR, the causes of which have been carefully analysed by Chinese leaders so that the same does not happen in their own country. Mikhail Gorbachev has been consistently criticised since 1991 as a “traitor to socialism”. In December 2012, in a speech distributed to every Party member, Xi Jinping explained that the disintegration of the USSR was caused by criticism of socialist “ideals and beliefs”, the denial of Lenin and Stalin, and the depoliticisation of the army: “Finally, Gorbachev announced in a simple declaration that it was being dismantled. A great party disappeared. Pro­portionally, the CPSU [Communist Party of the Soviet Union] had more members than our own. But there was no one man enough to stand up and resist.”11 We must understand that the CCP believes it has the right to establish a permanent state because it claims to immanently represent the Chinese people.

From this point of view, does capitalism or socialism, or some fusion of the two, have more of a future? Whatever our answer, China’s domination of the global hierarchy will be the CCP’s – “the largest secret society in the world”12 with 80 million mem­bers – which operates with its own rules and stan­dards and only allows information that legitimises its own power to filter out to the outside world. It is immediately clear that such an organisation, concen­trating so much power around itself, is incompatible with the openness demanded by the dynamics of capitalism. The “problem of problems” remains that of hierarchies.13 The issue is whether we should think in terms of a single hierarchy – of the world econ­omy as a “universal market” unified by gradual convergence – or instead conceive of multiple world economies with coexisting hierarchies. The choice of viewpoint clearly has consequences for how we understand the long-term play of power. Historically, world economies delimited concentric geographic spaces and were organised around a dominant pole. Such reasoning recalls the dialectic of decentering and recentering – comparable to the dialectic cur­rently on display between Europe and China – and acts as a reminder of a historical law that is always valid: “Those who are in the center, or near the center, can lord it over the others.”14

To think about power is, therefore, to think about the geography that it emerges from and that it proj­ects itself towards. China no longer conceals its inter­national ambitions, positioning itself as the leader in restructuring global governance by investing in multi­lateralism in all its forms, promoting an alternative model of development, diffusing a post-Western vision of the world, and proposing new international norms and standards.15 These ambitions reflect a powerful desire for international recognition, fuelled by a historical resentment towards Westerners. Chi­nese diplomacy seeks a “new type of Great Power relationship” – that is, an equal relationship with the United States. China’s change of status will cer­tainly be judged by its position relative to the United States. But not exclusively: Equilibrium in Eurasia is the result of its relationship with Russia, which has been marked by profound historical antagonisms and, over the last 20 years, by strategic convergence.16

Over the last decade, China has strengthened its ability to throw weight behind its strategy. Unless something major and unforeseen happens, it is likely that this ability will increase significantly in the next decade. The most difficult, and most sensitive, thing to establish today is the effect of the Trump adminis­tration’s strategy of opposition. Having been through historic periods of major internal division, China is developing a “Grand Strategy” across several decades, setting its sights on 2049. Among all the great powers, China’s ideology is that which has changed the least since the Cold War.17 It seems very likely that its potential will continue to grow, but we should iden­tify possible opportunities for action that will allow it to exercise its power in terms of initiative and/or coercion. Ten years from now, Taiwan could be the issue that puts Chinese and American willpower to the test.

The Chessboard and the Web: The Fusion of Power

Raymond Aron defined international relations as “relations among political units”. He then asked: “Are we to include in the relations among political units the relations among individuals belonging to those units?”18 In this age of digital networks, the answer is clearly yes – an answer that shows how profoundly the international system has been changed by techno­logical developments. These have deeply altered the concept of power. The discipline of international relations is very heavily dominated by the American academic hegemony, which has chosen to centre its output around the analysis of power relations. In a context of technological globalisation, even the most powerful states are destabilised in some of their practices by exponential flows of information that escape their initiative and their control.

Power, and therefore influence, belongs to a large degree to those able to connect different kinds of networks.

The concentration of power is visible in inter­actions between states, while its dispersal is visible within societies – on the individual and collective levels. Interactions between states are often represented by the image of a chessboard. Each piece fits into a hierarchy, with precise rules for how it is to be used. Interactions within societies are often represented by the image of a network with an infinite number of nodes. Each actor’s power depends on the nature of their connection to the network. From this point of view, the concept of network power is now central to power and demands our attention. Network power is based on the following dialectic: Standards gain value as growing numbers of people use them, but in doing so, they gradually eliminate alternatives that offer free choice.19 This creates a tension between relations of sovereignty, which allow for the construction of a public will and collective decision making, and relations of sociability, which group together individual, decentralised decisions that ultimately affect the whole group. For some, the process of glob­alisation is characterised by the increasing predominance of relations of sociability over those of sover­eignty, which are contained within the borders of nation-states.20

To see the dispersal of power as a phenomenon that produces more transformations than the con­centration of power is to claim that the points of departure for any discussion should not be competition between nations, but the well-being of citizens on a global scale.21 Instead of the verticality brought on by the idea of hierarchy, we have the laterality produced by the establishment of a network, where power shifts towards influence – that is, the ability to modify others’ judgments, and so direct their action. In the age of digital networks, the ability to influence is measured by the type and number of connections or, more precisely, by their multiplier effect. It is a matter of conceiving how objects, people, and organisations are modified – transformed – by their system of connections, and how this can be used. Power, and therefore influence, belongs to a large degree to those able to connect different kinds of networks. This leads us to a distinc­tion between power over someone and power exer­cised with someone in order to “act in concert”, as per Hannah Arendt’s famous phrase.22

Unlike China, the United States has continually encouraged the diffusion of power by promoting a particularly ambitious form of digital diplomacy. The Obama administration’s emphasis on digital diplo­macy was rooted in the concept of smart power, which was initially meant to recover the moral authority lost during the Bush years with the military intervention in Iraq. Smart power was based on the principle of connectivity: An actor’s centrality is a direct result of its ability to generate connections and thereby exercise influence, imposing its own agenda by en­couraging commitment on the part of others. For Washington, it was a matter of positioning itself as an information hub that could shape global opinion and, above all, segment it based on its own goals. American digital diplomacy claimed to support democratisation efforts around the world, with internet free­dom being a crucial part of this.

In May 2009, then-Secretary of State Hillary Clinton presented a programme, “21st Century Statecraft”,23 which emphasised the need to go beyond state-to-state diplomacy, using connectivity to estab­lish direct relations between the state and individuals, and vice versa. In January 2010, she gave a speech arguing for the abolition of digital borders, given the dangers of a digital iron curtain – a goal that still seems distant 10 years later, after the Snowden affair and Trump’s election. Snowden revealed part of the mass surveillance programmes established by the National Security Agency (NSA) in close partnership with the giants of American technology. In the public’s eye,24 Snowden’s main revelation was that this collusion between the NSA and businesses was supposedly founded on democratisation and indi­vidual emancipation. The intertwining of public and private still directly serves American interests: It has created an unparalleled concentration of global power, which allows the country to orchestrate an “imperialism of interpenetration”.25 Today, only China seems to possess the desire and ability to escape it, and there is no doubt that the battle for global leadership is now being played out in the digital sphere.

The lesson is that technology is changing the very essence of exchange, profoundly and diffusely. Such changes make any understanding of power a delicate matter, both in terms of concentration and dispersion, because of the speed with which economic actors can dismantle and reconstruct global value chains. As soon as a complex manufacturing process is overseen remotely, it is split up into simple tasks that can be carried out anywhere. Big businesses put whole territories in competition with each other. Thanks to the possibilities that technology offers, globalisation is no longer about nations or products, but about tasks. Production has historically been linked directly to consumption: A product was con­sumed close to where it was produced. Globalisation can be interpreted as a process that has led to a dis­connect between production and consumption. This has taken place across large-scale historic shifts: Around 1820, the costs associated with the circulation of goods began to fall; and around 1990, information technology meant that the costs associated with the circulation of ideas began to fall as well.

A Third Phase of Globalisation: Towards Heterogeneity

The period 1991–2008 has been presented as the rise of new economic powers, which reduced poverty through the growth of the middle class. In fact, higher levels of industrial production (at the expense of G7 countries) and lower levels of poverty have been concentrated in a few countries. These trends have mostly bypassed South America and sub-Saharan Africa, where growth remains linked to raw material cycles. The third phase has already begun: falling costs in the circulation of people and, in particular, the falling costs of personal interactions through the use of telepresence. In other words, information tech­nology means that the next phase of globalisation could enable “virtual migrations”, with workers from one country offering their services to clients in anoth­er without being physically present.26 This would go hand in hand with the increasing degree of automation and robotisation of manufacturing equipment.

In principle, this new period should open up opportunities for development – or, rather, for jobs – in developing countries that are able to manufacture parts of products, or provide some or all of the services consumed by the main world economies: the United States, Europe, Japan, and of course China. This third phase of globalisation is likely to transform the tertiary sector as deeply as the second phase trans­formed the secondary sector, leading to new distributions of wealth. It remains to be seen whether such redistribution will be limited to a small number of countries, as in the case of industrial production.

If we place our bets on continued globalisation – understood not as the convergence of political-eco­nomic systems but as an exponential intensification of data flows – we have to conceive of power simul­taneously in terms of concentration and dispersion, in a system drawn towards heterogeneity rather than homogeneity. In terms of concentration of power, the rivalry between China and the United States for the top of the international hierarchy in which capitalism resides will intensify. One fundamental question im­mediately arises. Neither China nor the United States wants a head-on confrontation: Will they have the means and desire to create a form of global co-leader­ship?

Rapid advances in artificial intelligence (AI) will alter power relations over the next decade.

This discussion of power has relied on the principle that capitalism and socialism will continue in their present forms. But global warming and the intensive exploitation of natural resources worldwide may put ecosystems at risk of collapse. Are we to wager that politicians will become increasingly ecologically aware? Or should we bet on their continued inertia? In either case, the consequences for power relations are difficult to anticipate. Note, however, that the United States will have more energy flexibility than China. As for the dispersal of power, relations be­tween individuals, digital platforms, and states all give rise to redistribution and, potentially, to major asymmetries. Such dispersal enables the creation of new cycles of innovation, consumption, and partici­pation in public life.

Rapid advances in artificial intelligence (AI) will alter power relations over the next decade: As Vladi­mir Putin declared in September 2017, “Who­ever becomes the leader in this sphere will become the ruler of the world.” AI has benefited from the con­vergence and industrial maturity of big data, machine learning, and increased computing capacity. Given the strategic, political, and economic stakes, it should be the subject of sustained attention by state actors who can build effective partnerships with private actors – something that could lead to “an overall trend toward the centralization of power in the hands of a few actors”.27 Concentration and dispersion lead to the concept of “digital power”, which demands both a definition and methodological work to be quantified and compared with other phenomena.28 With the merging of the economic and military spheres, we will observe digital power both on the chessboard and the web.

It is very often said that the Covid-19 crisis mainly accelerated existing trends. Two of them should be underlined. First, it reflects the escalation in the Sino-American rivalry. Second, it reflects the crucial inter­plays of digital platforms, and the emergence of a cognitive competition. What would be the consequences for Europe and the Middle East? It is an open question that I cordially address to Volker Perthes.

* * *

Let me conclude with a set of personal memories. I must confess that Volker Perthes was one of those who helped me, discretely but surely, when I was appointed as director of Ifri. He was simultaneously welcoming and demanding. Thanks for this! For me, he has been a highly professional colleague, and, I hope, a long-standing friend. I admire his intellectual strength as his ability to link international challenges. I learnt a lot from him, especially on transatlantic relations – crucial for a French think tanker to also read this relationship through a German point of view – and on the Middle East. I also admire how he remained objective on Syria, a country he loves. I remember very precisely our discussions on inter­national matters: The deepest were the ones we had outside Europe. We spoke much more on China, Russia, the United States, and the Middle East than on Franco-German relations. However, outside Europe, we were asked a couple of times to present jointly, or separately, the EU perspective. Final memory: I re­member his reaction when one of my books received a prize for being the “geopolitical” book of the year. It reflected the differences in strategic cultures that we have to deal with in Europe. To do so, we should continue to confront them.

Transatlantische Ungewissheiten und strategische Risikoabsicherung

Peter Rudolf

Einfach war der Umgang mit der Vormacht USA auch vor der Präsidentschaft Donald Trumps nicht immer. Doch seine Absage an die traditionelle Führungsrolle der USA und die gleichzeitige Zuspitzung der ameri­kanisch-chinesischen Rivalität haben einen gravieren­den Wandel in der internationalen Politik zur Folge, der die deutsche und europäische Politik gegenüber den USA vor neue Herausforderungen gestellt hat.

Donald Trump bricht als erster Präsident seit acht­zig Jahren mit dem lange vorherrschenden außen­politischen Konsens, nach dem die USA die Rolle eines »liberalen« oder »wohlwollenden« Hegemons spielen, der nicht nur enge natio­nale Interessen ver­folgt, sondern die Stabilität des internationalen Systems garantiert und öffentliche Güter bereitstellt. Internationale Politik ist für die USA unter Trump eine Arena ungezügelter Machtrivalitäten, in der Staaten rücksichtslos ihre Interessen verfolgen – frei von der Vorstellung, es gäbe so etwas wie eine inter­nationale Gemeinschaft. Entsprechend lässt sich auch mit Blick auf die amerikanische Außenpolitik unter Präsident Trump schwerlich noch von einer trans­atlantischen Wertegemeinschaft sprechen. Sicher war die Rede von einer solchen Wertegemeinschaft immer zu einem gewissen Grad organisierte Heuche­lei.1 Doch sie ermöglichte es so manchen harten transatlantischen Konflikten zum Trotz, einen ein­heitlichen Westen zu beschwören.

Abschied von der liberalen Hegemonie

Amerikanische Außenpolitik orientiert sich nicht länger an den drei funktionalen Vorbedingungen einer liberal-hegemonialen Rolle.2 Erstens haben die USA unter Trump Abschied genommen von einer Präferenz für multilaterale Mechanismen, die es anderen Staaten ermöglichen, ihre Interessen und Perspektiven geltend zu machen, und der damit einhergehenden Bereitschaft, sich selbst den Regeln multilateraler Institutionen zu unterwerfen und solche Institutionen konstruktiv weiterzuentwickeln. Zweitens lässt sich wenig von einer Bereitschaft er­kennen, öffentliche Güter bereitzustellen, von denen auch andere Staaten profitieren, die infolgedessen gewillt sind, die Führungsrolle der USA und die damit verbundenen Verantwortlichkeiten und Privilegien zu akzeptieren. Drittens hat die Administration das Bemühen um möglichst kooperative Beziehungen mit konkurrierenden Großmächten aufgegeben, da die Hoffnung getrogen habe, diese – also China und Russland – in die von den USA geprägte internationale Ordnung einbeziehen zu können.

Gewiss hat amerikanische Außenpolitik nie ganz diesem Idealtyp liberaler Hegemonie entsprochen. Je nach Adressat hatte die hegemonial orientierte Außenpolitik der USA unterschiedliche Gesichter: gegenüber demokratischen Verbündeten beruhte sie auf »weicher Macht« und war eher konsensorientiert, gegenüber autoritären Staaten stützte sie sich auf harte Machtressourcen und übte Zwang aus – ja sie nahm unter Umständen imperiale Formen an.3 Aber unter der Präsidentschaft Donald Trumps hat das lange dominante außenpolitische Narrativ – die USA als unabdingbare Führungsmacht, ohne die die inter­nationalen Ordnung verfällt, von deren Bestand die USA wiederum in besonderem Maße profitieren – seinen institutionellen Garanten verloren. Was unter Trump Gestalt gewonnen hat, ist eine rein an den nationalen Interessen der USA orientierte Weltmacht­politik, möglichst frei von allen Beschränkungen amerikanischen Handlungsspielraums, frei auch von allen vielfach nicht eingelösten idealistischen An­sprüchen; antiinterventionistisch zumindest, was die innere Umgestaltung anderer Staaten angeht, gewiss aber nicht antimilitaristisch und den Einsatz militä­rischer Gewalt scheuend. Die militärische Dominanz der USA soll bewahrt, ja ausgebaut werden. Die USA sind unter Trump im Grunde, mit Blick auf die über­kommene liberale Ordnung, zu einer revisionis­tischen Macht geworden.

Die neue amerikanische Vormacht und der konservative Nationalismus

Die USA unter Trump wollen Vormacht bleiben – und wegen ihrer materiellen wirtschaftlichen und militärischen Ressourcen werden sie noch auf längere Zeit der mächtigste Staat sein. Sollte sich der Trend unter Trump fortsetzen, werden sie dies jedoch eher in der Form einer »illiberalen Hegemonie« sein.4 Amerikas Attraktivität und damit die oft beschworene, aber schwer zu messende »weiche« Macht ist unter Trump geschwunden; offen ist, ob sich unter einem neuen Präsidenten die internationale Reputation der USA wieder verbessern wird. Doch die struk­turelle Macht der USA ist nach wie vor beträchtlich und ungebrochen; die Rede vom relativen Macht­verlust der USA weckt in dieser Hinsicht eine falsche Vorstellung.5 Denn auf absehbare Zeit werden die USA – gestützt auf die starke Rolle des Dollars, die zentrale Bedeutung amerikanischer Finanzinstitutionen für das globale Finanzsystem und die Attrak­ti­vität des amerikanischen Marktes – beträchtliche wirtschaftliche Zwangsmittel zur Verfügung haben, die ihnen insbesondere die Verhängung von Sekun­därsanktionen ermöglichen.6

Auf längere Sicht mag der unter Trump verstärkte Einsatz wirtschaftlicher Zwangsmittel auch den USA traditionell nahestehende Staaten dazu motivieren, Risikoabsicherung gegenüber einem unberechen­baren Amerika zu betreiben.7 Sollte Europa konkur­rierende Finanzinstitutionen aufbauen können, würde die amerikanische Fähigkeit »to weaponize key economic networks« beschnitten.8 Doch wie der Fall Iran zeigt, sind die europäischen Möglichkeiten, den amerikanischen Sanktionen etwas entgegenzusetzen, unter den gegebenen Bedingungen sehr begrenzt.9 Solange der Euro nicht als Reservewährung neben dem Dollar etabliert ist, wird es wohl keine finanzielle Souveränität geben können.10 Bleibt zudem die Prä­misse unhinterfragt, dass die USA und ihr nuklearer Schutzschirm für die europäische Sicherheit unent­behrlich sind, werden die transatlantischen Beziehun­gen schon in den Köpfen der Akteure weiterhin von einer Asymmetrie geprägt sein, die das Ziel eines »sou­veränen« Europas konterkariert.

Die Präsidentschaft Trumps mag bald Geschichte sein, vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls wird der konservative Nationalismus nicht mit ihm verschwin­den, jene außenpolitische Strömung in der Republikanischen Partei, die Trump mit populistischem Ge­spür »angezapft«, verstärkt und wirkmächtig gemacht hat.11 Verschwinden wird auch nicht die hochgradige politische Polarisierung in den USA: die ideologische Polarisierung der Eliten; die politische »Sortierung« der Wählerschaft nach ideologischen Positionen und damit die Homogenisierung der Parteien, als deren Folge es kaum noch liberale Republikaner und kon­servative Demokraten gibt; die »affektive Polarisierung«, das Misstrauen und die Antipathie zwischen liberalen Demokraten und konservativen Republi­kanern, und nicht zuletzt die Fragmentierung der Medien­landschaft entlang der ideologischen Kon­fliktlinie. Nicht nur im Inneren hat diese Polarisierung schwerwiegende Auswirkungen, auch die Außen­politik bleibt davon nicht unberührt: Im Kongress ist die »bipartisanship« zwar nicht völlig verlorengegan­gen; gerade wenn es um den Einsatz von Sanktionen geht, bildet sich immer wieder eine überparteiliche Koalition. Doch die Einbindung der USA in internatio­nale Verträge ist praktisch nicht mehr möglich, weil eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Senat einer Ratifizie­rung zustimmen muss. Und die Verlässlichkeit der USA – das haben die Jahre unter Präsident Trump bereits gezeigt – steht dauerhaft in Frage angesichts der Möglichkeit eines dramatischen Kurswechsels im Zuge der Amtsübernahme einer neuen Adminis­tra­tion.12

Herausforderung China

Einen Bereich in der Außenpolitik scheint es jedoch zu geben, in dem die polarisierten und fragmentierten USA zu einem Konsens finden: im Konflikt mit China, jenem mehrdimensionalen Konfliktsyndrom, das sich zu einem die internationalen Beziehungen strukturierenden Weltkonflikt zu entwickeln droht.13 Gegenüber China hat eine konfrontative Politik Gestalt angenommen, die auf dem problematischen Narrativ beruht, dass die Politik des »engagement« eine Selbsttäuschung und amerikanischen Interessen abträglich gewesen sei. Die Covid-Pandemie und die wechselseitigen Beschuldigungen haben den Trend zur Verschlechterung der amerikanisch-chinesischen Beziehungen verstärkt. Und Trump setzt offenbar darauf, das Thema China im Wahlkampf zu nutzen, die Wahl zu einem »Referendum« über China zu machen.14 Der Wahlkampf, so scheint es, könnte zu einem Wettbewerb zwischen Trump und Biden dar­über kommen, wer am schroffsten gegenüber Peking auftritt.15

Chinas Aufstieg berührt die USA und Europa unterschiedlich – daher fehlt eine gemeinsame Bedrohungswahrnehmung.

Die USA werden kaum darauf verzichten, ihre überlegene strukturelle Macht einzusetzen, wenn es darum gehen wird, zögernde europäische Verbündete im Konflikt mit China auf ihre Seite zu ziehen. Ge­wiss hat Europa ein Interesse daran, nicht zum Objekt chinesischer Weltmachtpolitik zu werden. Doch Chinas Aufstieg berührt die USA und Europa in unter­schiedlichem Maße, so dass auch deren Bedrohungs­wahrnehmungen weiterhin voneinander abweichen werden. Zwischen Europa und China besteht weder ein Statuskonflikt noch eine globale Einflusskonkurrenz. Außerdem prägen keine Sicherheitsdilemmata die Beziehung. Die sicherheitspolitische Perspektive ist nicht vorrangig und überschattet daher auch nicht alle Bereiche. Europäische und amerikanische Inter­essen sind daher mit Blick auf die Volksrepublik nicht deckungsgleich. Zwar hat die Covid-Pandemie auch in Europa zu einer veränderten Sicht der Ab­hängigkeiten von China geführt; jedoch nicht im Sinne einer möglichst weitgehenden Entkopplung, sondern einer Diversifizierung von Lieferketten und Produktionsstätten.16 Für Deutschland und Europa wird sich mehr denn je die Frage stellen, wie man sich im amerikanisch-chinesischen Konflikt positionieren soll, wie viel Schulterschluss mit den USA geboten, wie viel eigenständige Politik gegenüber China notwendig und möglich ist.

Mit der Intensivierung des amerikanisch-chinesi­schen Konflikts und einer Bipolarisierung des inter­nationalen Systems dürfte die Basis für einen globa­len Multilateralismus schwinden. Selbst wenn eine künftige US-Administration wieder eher multilateral orientiert wäre, dürfte dies ein Multilateralismus sein, der auf die westliche demokratische Welt konzen­triert wäre.17

In einer weltpolitischen Konstellation, in der alte Pfeiler der deutschen Außenpolitik erodieren, in der die regelbasierte multilaterale Ordnung implodiert, die weitgehende Isolierung wirtschaftlicher Beziehungen von geopolitischen Rivalitäten nicht länger gilt, der freie Handel in einer globalisierten Wirtschaft eher als Gefahr denn als Chance gesehen wird und die Zukunft der USA als Ordnungsmacht un­ge­wiss bleibt, ist es geradezu ein Gebot der strategischen Risikoabsicherung, die eigenen außenpolitischen Handlungsmöglichkeiten zu bewahren, zu erweitern und gegebenenfalls zu flexibilisieren.18

Was ist vom Aufstieg der »emerging powers« geblieben? Neue Partner und ihre Leistungsfähigkeit

Günther Maihold

In der ersten Dekade der 2000er Jahre wurde eine Debatte über die »neue Macht des Südens«1 geführt, die eng gekoppelt ist an 2001 von dem Investment-Unternehmen Goldman Sachs aufgelegte Fonds. Unter dem Kürzel BRIC2 und nachfolgend im Jahr 2005 mit der Gruppe der »Next 11« nahmen sie jeweils Staaten in den Blick, denen eine dynamische Rolle in der Weltwirtschaft zugeschrieben wurde. Mit dem im Jahr 2003 veröffentlichten Papier »Dreaming with the BRICs: The Path to 2050« aus der Feder von Jim O’Neill, dem Leiter der Abteilung für Weltwirtschaft von Goldman Sachs, setzte eine Welle weitreichender Vorhersagen über die wirtschaftliche Prosperität ein, die von dieser Staatengruppe zu erwarten sei. In deren Folge würden sie die bislang dominanten Industrieländer rasch in den Schatten stellen. Bald trat neben die wirtschaftliche Dimension auch eine politische Rolle der »BRICS-Staaten«3 und der »Next 11«.4 Als neue Akteure in der internationalen Politik erlangten sie unter dem Schlagwort der »neuen Diplo­matie des Südens« oder als »Initiative der aufkommenden neuen Ordnung« in den vergan­genen Deka­den große inter­natio­nale Aufmerksamkeit. Doch handelte es sich dabei nicht eher um »Möchtegern-Großmächte«?5 Folgen sie in ihrem Han­deln in der internationalen Politik vor allem Status­interessen? Oder sind sie auch bereit, Lasten zu übernehmen und mit anderen Staaten zu teilen (burden sharing)?6

Neue Akteure in der Weltpolitik

Am deutlichsten abzulesen war die neue Rolle dieser Länder, die in unterschiedlichen Listen mit hetero­gener Zusammensetzung geführt wurden, an einer neuen Geographie im Welthandel und am säkularen wirtschaftlichen und politischen Aufstieg Chinas. Diese Entwicklung lässt sich als Ausdruck der Tat­sache lesen, dass der »Globale Süden« mit dem Ende des Kalten Krieges in Bewegung geraten war. BRICS und später auch die Gründung des IBSA-Dialogforums – deren Mitglieder Indien, Brasilien und Südafrika sich mit ihrem Bekenntnis zu Demokratie, Frieden und Menschenrechten von Russland und China ab­grenzten7 – wurden als Formationen aufgefasst, in denen sich die »Leaders of the Global South« zusam­mengefunden hätten.

Die Thesen vom globalen Machtübergang8 und von der Bedeutung der neuen Märkte des Südens fanden besondere Aufmerksamkeit im Zuge der fortschreitenden Tendenz, die BRICS-Staaten mit den »aufsteigenden Mächten« zu identifizieren und daran die Prognose zu knüpfen, dass eine »postwestliche Welt«9 mit multipolaren Charakteristika heraufziehe. Die Debatte, ob es sich bei den damit angesprochenen Staaten um die Elite des Südens oder um dessen neuen Vormund handele, versuchten diese Staaten dadurch zu klären, dass sie keine Rolle als Sprecher für die heterogene Gruppe jener Staaten übernehmen wollten, die unter der Rubrik des »Globalen Südens« subsummiert werden.

Brasilien erlebte dank Chinas Rohstoffbedarf eine Kursrallye – und fiel dann in schwere Rezession.

Gleichwohl entkamen Staaten wie Brasilien und Südafrika nicht den Bestrebungen der westlichen Länder, sie als Repräsentanten all jener zu behandeln, die nicht dauerhaft an der G20 teilnehmen konnten oder als zeitweilige Gäste an den Tisch der G7/8 ge­laden waren. Dies stand im Zusammenhang mit der zentralen Frage nach einem Format der internationalen Politik, das der wachsenden Bedeutung der Länder des Südens in der Weltpolitik eine angemessene Repräsentanz ermöglichen würde. Dabei verstanden sich die BRICS-Staaten durchaus als eine Art De-facto-Repräsentation der aufsteigenden Mächte, nicht zuletzt angesichts des gleichzeitig sich verdichtenden Verständnisses der eigenen Rolle als »Garanten der Stabilität« der Weltwirtschaft im Kontext der Finanz­krise und angesichts des Verlusts der USA an Legiti­mität und Macht. Der anfängliche Forumscharakter der verschiedenen Gruppen, der sich stark mit ihrem informellen Agieren verband, entsprach insoweit den anderen Ausformungen von Club-Governance,10 so dass sie an der Konjunktur der unterschiedlichen G‑Formate teilhatten.

Das Aufstiegsnarrativ und der Wandel der internationalen Beziehungen durch die »emerging powers«

Das Narrativ des Aufstiegs ist eng mit dem Konzept der »Schwellenländer« verbunden, das als Kategorie zwischen jenen der armen Entwicklungs- und der reichen Industrieländer angesiedelt wurde. Doch ist die Bandbreite der in dieser Kategorie erfassten Öko­nomien sehr groß. Entsprechend uneinheitlich ist ihre wirtschaftliche Entwicklung, je nach dem Grad der Ausprägung ihrer Einbeziehung in internationale Lieferketten, der Enge der Bindung ihrer Konjunktur an den Ölpreis, der Dynamik des Wechselkurses in Abhängigkeit vom US-Dollar oder der Betroffenheit von internationalen Handelskonflikten. Das Segment der »emerging markets« ist folglich im Investment-Geschäft stark risikobehaftet. Daher entsprach die Strategie von Goldman Sachs, sich bei seinem BRIC-Fonds auf vier Länder zu konzentrieren, durchaus einer gezielten Strategie der Risikominimierung. In der Fülle der Nachfolgeprodukte, die Fondsmanager auf dem Markt platzierten, verschob sich indes still­schweigend der Schwerpunkt des wirtschaftlichen Aufstiegsnarrativs von den wirtschaftlichen Entwicklungsaussichten eines Staates zu den Möglichkeiten seines Zugangs zu den jeweiligen Kapitalmärkten. Das lockerte die Bindung der Kategorie der »emerging markets« an das Schwellenländerkonzept weiter. Die Nachfrage Chinas spielte für den Anstieg der globalen Rohstoff­preise eine wichtige Rolle und bescherte etwa Brasilien, das von der Ausfuhr von landwirtschaft­lichen Produkten, Eisenerz und Öl lebt, und seinen Exportunternehmen eine Kursrallye, die sich auch in wachsenden Staatseinnahmen niederschlug. Mit dem Verfall des Rohstoff-Booms kehrte sich jedoch die Entwicklung in ihr Gegenteil, die brasilianische Wirt­schaft stürzte in den Jahren 2013–2016 in eine schwere Rezession.11 Vergleichbares dürfte das Land im Gefolge der Covid-19-Krise erwarten.

Doch die positive Zukunftserwartung dominierte noch zu Beginn der zweiten Dekade des neuen Jahr­hunderts; das erste Jahrzehnt hatte die Investmentbank Goldman Sachs noch kurzerhand zur »BRICS-Dekade«12 erklärt. So hat sich das Versprechen, die »aufstrebenden Mächte« seien sichere Standorte für Inves­titionen, die bei geringem Risiko hohe Ren­diten abwerfen, möglicherweise nicht genau so er­füllt, wie die Befürworter das suggeriert hatten. Zumindest enttäuschte die Performance des BRIC-Investment­fonds von Goldman Sachs auf längere Sicht: 14 Jahre nachdem der BRIC-Fonds aufgelegt worden war, schloss ihn der Konzern 2015 – das verwaltete Ver­mögen des Fonds war seit 2010 um 88 Prozent ge­schrumpft.13

Ungeachtet dessen ist der Aufstieg, dem das Narrativ das Wort redete, mit dem Übergang von der Uni- zur Multipolarität als »irreversibel« eingestuft wor­den.14 Dabei wird nicht nur auf die wirtschaftliche Dimension abgehoben, sondern auch die Demokratisierung der globalen Entscheidungsprozesse unter Einbeziehung der »aufsteigenden Mächte« betont. Ob dabei heute noch wirklich alternative Weltordnungsvorstellungen artikuliert werden, muss angesichts der Sozialisation der neuen Akteure in der Weltpolitik bezweifelt werden. Dieser Prozess ist jedoch nicht als einseitig verlaufender zu verstehen, sondern bezieht sich reziprok auf die Staaten des »Westens«, folgte also einem informellen Muster gegenseitiger Anpas­sung.15 Befürchtungen, dass diese Staaten sich vor allem als »Störenfriede«16 sehen und durch Beharren auf kompensatorischen Maßnahmen und Prestige­zielen dazu neigen würden, revisionistische Positionen in der internationalen Politik zu beziehen, er­wiesen sich als un­begründet.17 Indes wurde schnell deutlich, dass sie zwar auf die Anerkennung ihres neu gewonnenen internationalen Status Wert legten, aber in keinem Fall eine »antihegemoniale Allianz« bildeten, die darauf aus ist, die »Prinzipien der schwä­chelnden gegenwärtigen globalen Ordnung« zu unter­graben.18

Außenpolitische Identität und Verhaltensmuster

Die Dynamik des Wachstums der internationalen Rolle der »aufsteigenden Mächte« machte sich ins­besondere nach der internationalen Finanzkrise im Jahr 2008 bemerkbar, in der diese Staaten zumindest vorübergehend die Rolle von »agenda setters«19 über­nahmen, um den von ihnen eingeklagten strukturellen Wandel in der Weltwirtschaft voranzubringen. In der Diskussion über die Reform des VN-Sicherheits­rats, die in der BRICS-Dekade ein zentraler Punkt auf der Agenda der »aufsteigenden Mächte« für den Wan­del in den multilateralen Organisationen (Weltwährungsfonds, Weltbank) war, agierten sowohl China als auch Russland als Status-quo-Mächte, die Indiens und Brasiliens Beteiligungswünsche ablehnten. Die innere Heterogenität der BRICS-Gruppe wurde dabei ebenso erkennbar, wie dies für das Konglomerat der »aufsteigenden Mächte« insgesamt gilt. Neben den klassischen Schwellenländern (Brasilien, Südafrika, Mexiko) waren auch jene Staaten zu berücksichtigen, die neben regionaler Ordnungsfunktion auch den Charakter eines Leitbilds für die künftige Gestaltung von Weltpolitik erlangen könnten. Allerdings verfolg­ten die aufsteigenden Mächte bei ihren Forderungen nach Regelung von Regionalkonflikten oder von Be­langen der internationalen Ordnung nationale Prio­ritäten, sie verstärkten insofern die Heterogenität in der internationalen Politik und deren zentrifugale Ten­denzen. Da vielfach die Artikulation ihrer national oder regional gebundenen Interessen im Vordergrund steht, zeichnen sich die außenpolitischen Dynamiken gerade dieser Staatengruppe durch politikfeldbezogene »engagements« oder »disengagements« ebenso aus wie durch »shifting involvements«, also die wechselnde Besetzung unterschiedlicher Arenen der internatio­nalen Politik.20 Diese Strategie des »forum shopping« trägt jedoch maßgeblich zur Frag­mentierung von Global Governance bei und befördert Kooperationsansätze, die für internationale Partner schwer nach­zuvollziehen sind.21

Die demokratische Qualität der »aufsteigenden Mächte«

Zwar haben BRICS und IBSA ebenso wie andere Zusammenschlüsse den darin aktiven Staaten schnell zu international großer Sicherbarkeit verholfen, so dass in diesen Formaten ein sehr vielversprechendes Muster für die Neuorganisa­tion multilateraler Inter­essenvertretung gesehen wurde. Ob damit jedoch eine breite Akzeptanz verbunden ist und sie ein geeignetes Instrument sind, die Interessen des Südens im globa­