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Flucht aus der Ukraine: Mobilität erhalten und langfristig denken!

Vom temporären Schutz zu Integrationsperspektiven

SWP-Aktuell 2022/A 24, 25.03.2022, 8 Seiten

doi:10.18449/2022A24

Forschungsgebiete

Europa erlebt derzeit die größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Die EU hat erstmals die Richtlinie zum vorübergehenden Schutz aktiviert. Demnach können die Geflüchteten aus der Ukraine ihr Aufnahmeland selbst wählen, dort arbeiten und Leistungen erhalten. Auch wenn die Zahl der Flüchtenden Sorgen bereitet, soll­te die EU an diesem offenen Ansatz festhalten und auf die Vorteile zurückgreifen, die die sozialen Bindungen der Geflüchteten und das große zivilgesellschaftliche Engagement bieten. EU-weite Verteilungsquoten wären im Vergleich zur selbstbestimmten Mobili­tät die schlechtere Lösung: Die Fluchtbewegung kann bewältigt werden, wenn die Potentiale der Selbst­verteilung in der EU und in den Mitgliedsländern genutzt werden, sich alle EU-Mitgliedstaaten finanziell an der Aufnahme beteiligen und die Aufnahme­länder jetzt schon die Voraussetzungen für einen längerfristigen Aufenthalt schaffen.

Die humanitäre Notlage der Zivilbevölkerung in der Ukraine spitzt sich unablässig zu. Die russischen Streitkräfte gehen wie befürchtet immer stärker dazu über, zivile Ziele zu beschießen und große Städte, ein­schließlich Kiew, zu belagern. Infrastrukturen (Wasser, Strom, Heizung) werden zer­stört und die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten geht zur Neige. Die Schaf­fung humanitärer Korridore erweist sich als schwierig, Fluchtwege wurden wiederholt beschossen. Die Situation der Binnen­vertriebenen und der Menschen, die nicht fliehen können oder wollen, wird immer prekärer. Bereits vor der Militäroffensive waren nach Aus­kunft des Amtes des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Natio­nen (UNHCR) in der Ukraine 1,46 Millionen Binnenvertriebene registriert, davon 854.000 im Donbas. UNHCR schätzt, dass mittlerweile 6,5 Millionen Menschen innerhalb des Landes auf der Flucht sind. Die Zahl der Menschen, die in der Ukraine in den kom­menden Wochen hilfsbedürftig wer­den, dürfte noch deutlich höher sein. Und schließlich sind bis zum 24. März 2022 bereits 3,6 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen, etwa 3 Millionen davon in die EU. Ein großer Bedarf an Unterstützung für Geflüchtete aus der Ukraine be­steht zudem in der Republik Moldau, die als ärmstes Land Europas und mit dem ungelösten Konflikt um den abtrünnigen Landesteil Transnistrien besonders fragil ist.

Die Aktivierung der EU-Richtlinie: Signal der Aufnahmebereitschaft

Als wichtigste Reaktion auf die außer­gewöhnlich große Fluchtbewegung aus der Ukraine haben die EU-Staaten am 4. März 2022 erstmals die vor zwei Jahrzehnten be­schlossene EU-Richtlinie zum vorübergehen­den Schutz aktiviert. Demnach wird allen Ukrainerinnen und Ukrainern und ihren Familienangehörigen, die nach der mili­tärischen Invasion russischer Streitkräfte am 24. Februar 2022 in die EU eingereist sind, ein zeitweiser Schutz und Aufenthalts­titel zugesprochen – ähnlich dem gruppen­bezogenen Schutzstatus (prima facie), den Aufnahmeländer auch schon in anderen Fluchtsituationen gewährt haben. Dieser gilt zunächst für ein Jahr, und wird – ohne gegenteilige Entscheidung des Rates – zwei­mal automatisch um ein halbes Jahr ver­längert. Falls eine sichere Rückkehr auch dann noch nicht möglich ist, ist ein weite­rer Aufschub um ein Jahr möglich.

Die Aktivierung dieses gruppenbasierten Schutzverfahrens ist eine richtige Entscheidung, trotz begründeter Einwände, dass den einzelnen Betroffenen über individuelle Ver­fahren in gut ausgestatteten Asylsystemen noch weiterreichende Rechte zugestanden würden. Die Vorteile der EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz liegen auf der Hand: Ihre Anwendung verschafft den Ver­waltungen Effizienzgewinne und verhindert eine Über­lastung der Asylsysteme. Alle Ukrainerinnen und Ukrainer, die aus ihrem Land geflohen sind, erhalten eine klare, wenn auch zeitlich begrenzte Perspektive. Sie haben zudem die Möglichkeit, zu einem späteren Zeitpunkt einen Asylantrag zu stel­len. Auch schutzbedürftige Drittstaatsangehörige aus der Ukraine und langfristig dort aufenthaltsberechtigte Personen kön­nen nach Ermessen der jeweiligen EU-Staa­ten, in denen sie sich aufhalten, einen be­fristeten Schutz erhalten – sofern sie nicht sicher und dauerhaft in ihr Herkunfts­land oder ihre Herkunftsregion zurückkehren können.

Die Rechte, die mit der Aktivierung der Richtlinie verbunden sind, müssen jeweils national ausgestaltet werden; ihre Beachtung wird von der EU-Kom­mission über­wacht. Sie sind aber als Mindeststandard positiv zu bewerten. Die Geflüchteten er­halten unter anderem Zugang zu Schulbildung, zum Arbeitsmarkt, zur Gesundheitsversorgung und zu Sozial­leistungen.

Eine Besonderheit der Richtlinie ist die den Geflüchteten zugestandene freie Wahl des EU-Mitgliedstaats, in dem sie sich vor­läufig niederlassen wollen. Im Gegensatz zum klassischen Asylverfahren gemäß den Dublin-Regeln liegt die Verantwortung für die Betroffenen nicht bei den Erstaufnahme­ländern. Vielmehr können Geflüchtete ihren Antrag auf zeitweisen Schutz in einem EU-Mitgliedstaat ihrer Wahl stellen, in dem sie dann in der Regel ansässig bleiben sollen. Zusätzlich haben die EU-Mit­gliedstaaten er­klärt, keine Rücküberstellung von Schutzsuchenden vornehmen zu wollen, die bereits in einem anderen Land registriert sind – eine entsprechende Bestimmung der EU-Rückführungsrichtlinie (Art. 11) soll nicht zur Anwendung kommen. Einer staat­lich organisierten Verteilung in andere EU‑Mitgliedstaaten müssen die Betroffenen derweil gemäß der geltenden Richtlinie (Art. 26) zustimmen. Derzeit ist unklar, wie die Mitgliedstaaten mit diesem Recht in der Praxis umgehen werden und welche Folgen es hat, wenn die Geflüchteten mit einer Weiterleitung in andere EU-Länder nicht einverstanden sind. Eine wort­getreue Auslegung der Richtlinie würde jedenfalls gegen feste Verteilungsquoten sprechen.

Das aktuell geltende Prinzip der freien Wahl des Aufenthaltslands wird gestützt und bestärkt durch das schon seit Mitte 2017 bestehende Recht ukrainischer Staats­angehöriger, visa­frei in den Schengenraum einzureisen. Angesichts der anhaltend hohen Zahl von Personen, die die Grenzen der Ukraine in Richtung EU überschreiten – derzeit im Schnitt mehr als 100.000 pro Tag – können Kontrollen ohnehin nur ein­geschränkt erfolgen. Vorrangiges Ziel ist, allen schutzbedürftigen Menschen ohne unverhältnismäßig lange Wartezeiten den Zutritt zur EU zu ermöglichen. Nachgelager­te Personenüberprüfungen im Grenzraum können noch ausgeweitet werden, im Fall der Weiterreise auch von Seiten anderer Schengen-Staaten. Solche Maßnahmen soll­ten aber das prinzipielle Recht auf Mobilität nicht in Frage stellen. Um den Sicherheits­interessen der Mitgliedstaaten, zum Beispiel im Bereich der organisierten Kriminalität oder politischer Straftaten, entgegen­zukom­men, sollte sichergestellt werden, dass der Abgleich der Daten von registrierten Schutz­suchenden im Nach­gang zur Registrierung auch grenzüber­schreitend möglich ist.

Der bisherige Konsens der EU-Mitglied­staaten, im Umgang mit den Schutzsuchen­den aus der Ukraine dem Primat der schnel­len Unterstützung, Flexibilität und Offen­heit zu folgen, ist präzedenzlos. Die Mit­wirkung und Hilfe privater und zivil­gesell­schaftlicher Netzwerke und Organisationen ist politisch erwünscht. Schätzungen der EU-Kommis­sion zufolge kann die Hälfte aller Geflüchteten aus der Ukraine zunächst eigenständig an schon bestehende soziale Verbindungen anknüpfen. Diese Menschen wählen ihren Wohn­ort danach aus, wo Familienmitglieder, Freunde oder Bekannte bereits in der EU ansässig sind. Dieses Potential für die Aufnahme und länger­fristige Integration gilt es zu nutzen.

Das Problem mit der Verteilung

Frühere Erfahrungen mit der Aufnahme großer Gruppen Geflüchteter – sei es wäh­rend des Bosnienkriegs oder im Zuge der starken Zuwanderungen von 2015 und 2016 – zeigen, dass eine anfänglich posi­tive Haltung gegenüber Schutzsuchenden schnell in Ablehnung umschlagen kann, wenn der Eindruck einer Überforderung staatlicher Strukturen entsteht und mittel­fristig keine tragfähige Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Akteuren gelingt.

Gerade in Polen als primärem Erst­ankunfts­land, das inzwischen etwa zwei Millionen Geflüchtete aus der Ukraine be­herbergt, ist diese Gefahr gegeben. Bisher wird der allergrößte Teil der polnischen Hilfsleistungen für ukrainische Staatsangehörige von kirchlichen und privaten Orga­nisationen sowie Einzelpersonen erbracht, obwohl die PiS-Regierung zivilgesellschaftliche Initiativen zur Unterstützung von Flüchtlingen bis vor kurzem noch aktiv an ihrer Arbeit gehin­dert hat. Auch wenn die gesellschaftliche Stimmung dort bisher nicht umgeschlagen ist, sind die Kapazitäts­grenzen großer polnischer Städte wie War­schau oder Krakau bereits jetzt erreicht; Geflüchtete machen dort mittlerweile einen Bevölkerungsanteil von bis zu 15 Prozent aus. Die von Polen ausgehende Selbstverteilung findet zwar insbesondere in Richtung Deutschland statt. In der Summe reicht die Zahl dieser eigenständigen Weiterreisen jedoch nicht aus, um die polnischen Städte spürbar zu entlasten. Auch die Aufnahmekapazitäten der deutschen Großstädte dürf­ten im Übrigen bald erschöpft sein.

Deshalb werden Rufe laut, die Verteilung der Geflüchteten aus den Anrainerstaaten in andere Mitgliedstaaten aktiver zu gestal­ten, unter anderem durch eine »Luftbrücke«. Bisher konzentriert sich die EU-Kom­mission auf finanzielle, humanitäre und adminis­tra­tive Unterstützung. Der Rat der Europäischen Union hat am 16. März 2022 den Vorschlag der Kommission gebilligt, Mittel aus dem EU-Kohäsionsfonds zugunsten von Flüchtlingen in Europa (CARE) einzusetzen. Nach Zustimmung des Europaparlaments werden die betroffenen Mitgliedstaaten ab April 2022 auf nicht abgerufene Mittel aus dem Zeitraum 2014–2020 ohne eigene finanzielle Betei­ligung zugreifen können und zudem auch jene 10 Milliarden Euro für die neuen Anforderungen verwenden dürfen, die eigentlich für den Umgang mit der Corona-Pandemie vorgesehen waren.

Die Richtlinie zum temporären Schutz sieht eine »Solidaritätsplattform« vor, auf der Mitgliedstaaten Aufnahmekapazitäten an­geben können. Diese Plattform sollte schnell funktionsfähig gemacht werden, so dass Angebote zur Übernahme von Geflüch­teten aus zentral- und osteuropäischen Staaten, wie aus der Republik Moldau, über die Plattform laufen können. Der Ortswechsel sollte auf freiwilliger Basis erfolgen und die Geflüchteten sollten durch Anreize und eine entsprechende Informationspolitik zur Mitwirkung bewogen werden. Verteilungs­regeln mit festen Quoten sind derzeit in der EU nicht mehrheitsfähig und auch nicht sinn­voll.

Erschwert wird eine Fest­legung der Ver­antwortungsteilung »von oben« dadurch, dass die reale Belastung einzelner Staaten wegen der fehlenden Verpflichtung zur Registrierung aktuell unklar ist. Trotz der Zählungen von UNHCR ist unbekannt, wie viele Schutzsuchende genau sich wo inner­halb der EU aufhalten und wer davon schon den gewünschten Zielort erreicht hat. Und es liegen auch keine belastbaren Schätzungen vor, welche Weiterwanderungen noch zu erwarten sind.

Eine dreiphasige Strategie

Der Streit über die Verteilung und über das angemessene Ver­ständnis von Solidarität ist bereits wieder aufgeflammt. Langfristig werden diese Debatten entscheidend für die Zukunft der gesamten EU-Asylpolitik sein. Erst einmal stellen sich aber andere Priori­täten. Die strategische Planung sollte drei Phasen umfassen.

Phase 1: Registrierung und Erstversorgung

In den kommenden Wochen bleibt die tem­poräre Unterbringung und Erstversorgung der geflüchteten Menschen vordring­liche Aufgabe. Die Möglichkeiten des visafreien Aufenthalts und der Weiterreise im Schen­genraum für ukrainische Staats­angehörige können den Mitgliedstaaten mehr Zeit ver­schaffen, um entsprechende Kapazitäten aufzubauen. Die Registrierung der Geflüch­teten und ihrer Bedarfe ist an­gesichts der schieren Zahl der ankommenden Menschen eine gewaltige Herausforderung. In Polen wurden erst am 16. März, also nachdem schon über 1,8 Mil­lionen Ukrainerinnen und Ukrainer die Grenze überquert hatten, ein entsprechendes Verfahren und die dazu nötige Infrastruktur eingerichtet. Der Rück­stau bei der Registrierung ist immens. Bisher werden staatliche Unterstützungsleistungen in der Regel erst nach diesem Verwaltungsakt ausgezahlt werden. In Deutschland wie­derum wurde ukrainischen Staatsangehöri­gen zusätzlich zum regulären Recht auf visafreien Aufent­halt für 90 Tage die Mög­lichkeit eingeräumt, auf Antrag für weitere 3 Monate legal im Land zu bleiben. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass Betroffe­ne so lange ohne staatliche Dienstleistungen auskommen können. Auch Deutschland muss aktuell unter großem Druck technische Mittel und personelle Ressourcen mobilisieren, um eine Registrierung schutzbedürftiger Personen ordnungsgemäß und zeitnah sicherzustellen. Die Schwierigkeiten dabei werden insbesondere in Berlin sichtbar, wo bislang in Deutschland die größte Zahl von Menschen ankam.

Allgemein stellt die demographische Zusammensetzung der aktuellen Zuwanderung aus der Ukraine eine besondere Her­aus­forderung dar. Inoffiziellen Schätzungen von Hilfsorganisationen zufolge waren bislang 90 Prozent der Geflüchteten Frauen und Kinder, wovon Letztere bis zu 50 Pro­zent ausmachten. Dies kann sich, wenn die Fluchtbewegung anhält, noch ändern. Im Laufe der Zeit werden noch mehr vulne­rable Personen Schutz suchen – etwa alte Menschen oder unbegleitete Minderjährige – oder Men­schen, die durch die brutale russische Kriegsführung und die zunehmen­den Zer­störungen verletzt und trau­matisiert sind. Diese Personengruppen sollten mög­lichst schon in den Anrainerstaaten identi­fiziert und bei der Auswahl von Zielorten in der EU und dem Transport dorthin in beson­derer Weise unterstützt werden. Dank der Ak­tivierung der Richtlinie gibt es hinreichend Flexibilität, auf diese spezifischen Anforderungen zu reagie­ren: Menschen ohne große Unterstützungsbedarfe werden nicht un­nötigerweise in Asylverfahren gelenkt, die sie weitgehend zur Untätigkeit verpflichten, während vulnerable Personen durch den temporären Schutzstatus die staatlichen Leistungen erhalten, die sie be­nötigen.

Der Schutzstatus sieht eine Grundversorgung und den Zugang zu Bildung und zu Gesundheitsdienstleistungen vor, was auch psychosoziale Unterstützung beinhalten sollte. Um die psychische Belastung speziell auch für Kinder und Jugendliche zumindest teilweise aufzufangen, sollte so bald wie möglich gewährleistet werden, dass diese re­guläre Schulen und Regelklassen besuchen können. Angesichts der vergleichsweise niedrigen Impfquote in der Ukraine und der noch nicht ausgestandenen Covid-19-Pandemie sollten zudem schnell niedrig­schwellige Angebote zur Impfung (einschließlich Masern) gemacht werden. Diese Maßnahme mag aus Sicht der Geflüchteten in der ersten Ankunftsphase nicht prioritär sein. Die öffentlichen Stellen sollten aber intensiv dafür werben.

Die Behörden haben diese Bedarfe grund­sätzlich erkannt. Die Planung und Umset­zung bereitet aber in Deutschland und anderen EU-Staaten noch erhebliche Schwie­rig­keiten. Die Politik wird sich jetzt auf einem schmalen Grat bewegen müssen: Sie wird einerseits genötigt sein, die staatliche Kontrolle und Koordination zu verstärken, um die Bedarfe auch mittelfristig zu decken, und ihre Aufmerksamkeit andererseits da­rauf richten müssen, die dezentrale zivil­gesellschaftliche Hilfsbereitschaft vor Ort und das Eigenengagement und die Koope­rations­willigkeit der Geflüchteten zu er­halten.

Hoffnung gibt in dieser Hinsicht, dass in Deutschland mittlerweile darauf geachtet wird, einer Ausbeutung der Geflüchteten in illegalen Beschäftigungsverhältnissen und einem Missbrauch insbesondere von Frauen etwa als Gegenleistung für Unterkunft so weit wie möglich vorzubeugen. Eine staat­liche Überprüfung privater Initiativen wird für viele Bereiche nötig sein, zum Beispiel bei Bildungs- und Weiterbildungsangeboten. Wichtig ist auch der Beschluss von Bund und Ländern vom 17. März 2022, den Ge­flüchteten den Zugang zu Integrationsleistungen, wie etwa integrations- und berufs­bezogenen Deutsch­kursen, zu eröffnen.

Insgesamt bleiben allerdings viele Fragen offen, wie etwa die nach der Auf­gaben- und finanziellen Lastenteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Letztere dringen auf eine stärkere Beteiligung des Bundes, da sie zwar für die Kosten, die nach dem Asyl­bewerberleistungsgesetz entstehen, eigent­lich zuständig wären, diese aber nicht allein werden stemmen können. Sie sind in hohem Maße auf Unterstützung durch die Länder und den Bund und die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Akteuren an­gewiesen.

In Anbetracht der hohen Zahlen hat die Bundesregierung mittlerweile entschieden, registrierte Geflüchtete gemäß § 24 Auf­enthaltsgesetz auf die Bundesländer zu ver­tei­len und dazu den Königsteiner Schlüssel anzuwenden. Nach diesem wird berechnet, wie die Bundesländer an gemeinsamen Finanzierungen zu beteiligen sind. Der An­teil, den ein Land tragen muss, richtet sich zu zwei Dritteln nach dem Steueraufkommen und zu einem Drittel nach der Bevöl­kerungszahl. Der Schlüssel wird auch zur Verteilung von Asylbewerbern herangezogen. Auch wenn im innerstaatlichen Rah­men im Gegensatz zur EU-Ebene keine Zu­stimmung der Betrof­fenen zur Verteilung erforderlich ist, erzeugt dieser Ansatz er­hebliche Spannungen. Menschen, die durch Freunde, Verwandte oder zivilgesellschaft­liche Einrichtungen unterstützt werden, sollten von einer Verteilung ausgenommen werden. Dazu gibt es Ansätze, etwa wenn eine längerfristige Unterkunftszusage oder ein Mietvertrag vorliegt, aber keine klare bundesweite Weisung für die ausführenden Behörden auf Landes- und kommunaler Ebene. Gelöst werden könnte dies durch eine Anrechnung der bereits privat unter­gekom­me­nen Personen auf den König­steiner Schlüs­sel und durch Kompensa­tions­leistungen für die zusätzliche Auf­nahme von Geflüchteten. Eine Residenzpflicht ist im Gesetz zwar vorgesehen, sollte aber nur für diejenigen gelten, die staatliche Trans­ferleistungen dauerhaft beanspruchen. Der Nachweis einer Beschäftigung von mindestens 15 Stunden pro Woche oder einer Aus­bildung befreit nach aktueller Weisung von der Zuteilung des Wohnorts.

Phase 2: Frühzeitige Arbeits- und Bildungsangebote

Noch hoffen viele Geflüchtete auf eine bal­dige Heimkehr, nicht zuletzt weil Männer im wehrfähigen Alter in der Ukraine zu­rück­bleiben mussten und Familien getrennt wurden. Aber selbst im Fall einer schnellen Waffenruhe wird ein erheblicher Anteil der Geflüchteten bleiben wollen oder müssen, nicht zuletzt weil ihre Heimatorte zerstört wurden. Deshalb ist es – wie in anderen Fluchtsituationen – von zentraler Bedeu­tung, den Menschen gesellschaftliche Teil­habe und Einkommensmöglichkeiten zu eröffnen.

In mehreren EU-Staaten, einschließlich Polen, besteht durchaus ein Interesse daran, dass ukrainische Staatsangehörige Lücken im nationalen Arbeitsmarkt schließen. Die bislang vorliegenden Einschätzungen etwa des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) zu den Arbeitsmarktperspek­tiven der ukrainischen Geflüchteten sind ermutigend. Trotzdem sollte klar sein, dass ein Großteil der Geflüchteten nicht schnell und ohne weitere Unterstützung wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen kann. Dies gilt insbesondere für Frauen mit betreuungs­pflichtigen Kindern, erwartungsgemäß aber auch für die Schutzsuchenden, die noch kommen werden. Bestehende Hürden für reguläre Beschäftigung wie fehlende Verwaltungskapazität, Verständigungsschwierigkeiten, langwierige Anerkennungs­verfahren sollten so weit wie möglich re­duziert werden, um irregulären Beschäf­tigungsverhältnissen vorzubeugen. Ebenso müssen Wege aus solchen Beschäftigungsverhältnissen aufgezeigt werden.

In Deutschland sollten Entscheidungen über die Aufnahme und Verteilung so früh und so eng wie möglich am Ziel der Integra­tionsförderung ausgerichtet sein. Zudem sollten die Erfahrungen mit der Flüchtlings­zuwanderung der Jahre 2015/16 genutzt werden. Eine davon ist, dass eine Verteilung in vorhandene, aber abseits gelegene Unter­künfte vermieden werden sollte. Statt­dessen sollte eine Unterbringung in Einrich­tungen angeboten werden, in denen eine gezielte Vorbereitung auf den Arbeits­markt und eine Vermittlung in Beschäftigungsverhältnisse für diejenigen stattfinden kann, die daran interessiert sind. Andere Mitglied­staaten könnten diesen Ansatz eben­falls verfolgen. Die hierauf verwendeten Res­sourcen wären auch dann gut inves­tiert, wenn die Betroffenen schließlich doch in die Ukraine zurückkehren würden, da die im Ausland erworbenen Fähigkeiten dann dem Wiederaufbau des Landes bzw. der ukrainischen Wirtschaft zugutekommen.

Auf EU-Ebene sollten alle Mitgliedstaaten über die Mindeststandards der Richtlinie zum temporären Schutz hinaus aktiv tätig werden. Dazu könnte die bereits im ver­gan­genen Herbst angeschobene Initiative eines »Talentpools« weiterverfolgt werden, die bis­lang allerdings darauf zielte, die Anwer­bung von Drittstaatsangehörigen außerhalb der EU zu fördern.

Angesichts der hohen Zahlen der Geflüchteten ist es zudem unerlässlich, dass die Kapazitäten bei den Sprachkursen und bei der bedarfsgerechten Aus- und Weiter­bildung stark ausgebaut werden. Auch hier liegt die Kompetenz zunächst bei den natio­nalen oder unteren Verwaltungs­ebenen. Diese sollten aber durch die EU-Kohäsions­mittel unterstützt werden. Auch die Mög­lichkeiten des Wissenstransfers im Rahmen von Städtepartnerschaften könnten hier genutzt werden. Bei der längerfristigen Be­schulung von Kindern ist eine Integration in Regelklassen spätestens ab Herbst dieses Jahres anzustreben. In jedem Fall wird die bedarfsgerechte Unterrichtung von Kindern in Ländern wie Deutschland, in denen es ohnehin an Lehrkräften mangelt, eine im­mense Herausforderung darstellen. Durch die Anstellung von geflüchteten Lehr­kräften und Pädagoginnen an Kitas und Schulen könnte der Fachkräftemangel in diesem Bereich zumindest teilweise auf­gefangen werden. Gleichzeitig würde den auf diese Weise beschäftigten Menschen eine Einkommensmöglichkeit geboten.

Je länger die Kampfhandlungen andauern, umso mehr verwundete oder verletzte Menschen sind zu erwarten. Diesen sollte schnellstmöglich die Zusammenführung mit ihren Familien ermöglicht werden. Auch der Ausbau von medizinischen und psychologischen Angeboten für die Opfer von Gewalt und Folter dürfte in der zweiten Phase noch wichtiger werden.

Dabei wird auch die Frage an Bedeutung gewinnen, wie einheitlich die Standards der Richtlinie über den vorübergehenden Schutz in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden. So ist zu erwarten, dass sich die Sozialleistungen zwischen den Mit­glied­staaten weiterhin stark unterscheiden wer­den. Mit der Zeit könnte auch der Faktor der geographischen und kulturell-sprach­lichen Nähe zur Ukraine an Relevanz ver­lieren, so dass die Wahrscheinlichkeit einer Weiterreise steigt. Deutschland und andere westeuropäische Staaten sollten sich auf eine umfangreiche Zuwanderung von Ukrai­nerinnen und Ukrainern aus den Anrainerstaaten einstellen, auch wenn die Aufnahme­kapazitäten zunehmend begrenzt sind.

Vor diesem Hintergrund sollten EU-För­dermittel so eingesetzt werden, dass den Men­schen in den Aufnahmeländern Ver­sorgung und Zukunftsperspektiven geboten werden können. Ebenso gilt es aber auch die politische Absprache einzuhalten, dass die EU-Staaten auf Rücküberstellungen von Personen mit temporärem Schutzstatus verzichten.

Insgesamt ist zudem nicht zu erwarten, dass andere Formen der sekundären Zu­wan­derung von Schutzbedürftigen, etwa von Griechenland nach Deutschland, sub­stan­ziell begrenzt werden können. Was diese Migrationsbewegungen betrifft, wer­den die Staaten, die weniger von der Aufnahme von Ukraine-Flüchtlingen betroffen sind, einen Beitrag leisten müssen. Eine Argumenta­tion, dass wegen der Belastungen durch die Beherbergung der ukrainischen Flüchtlinge nun für nicht-ukrainische Schutzsuchende in der EU kein Platz mehr sei, sollte deut­lich zurückgewiesen werden. Eine solche Haltung würde zu einer weiteren Aus­höh­lung der Prinzipien des Flüchtlingsschutzes bei­tragen und den Vorwurf nähren, hier ent­stünde ein Zwei-Klassen-Flüchtlings­schutz.

Phase 3: Flexible Beendigung des temporären Schutzstatus

Zu einem strategischen Umgang mit der Flucht aus der Ukraine gehört auch, jetzt schon über das Auslaufen des temporären Schutzstatus nachzudenken. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Teil der ge­flohenen ukrainischen Bevölkerung auch über zwei bzw. drei Jahre hinaus in der EU bleiben dürfte – je länger der Krieg dauert, umso mehr. Läuft der durch die EU-Richt­linie zum vorübergehenden Schutz gewähr­te Status aus, ohne dass frühzeitig über An­schlussoptionen nachgedacht wird, ist zu erwarten, dass viele der Betroffenen von ihrem Recht Gebrauch machen werden, einen Asylantrag zu stellen. Dann würde zu einem späteren Zeitpunkt genau der admi­nistrative Aufwand für individuelle Asyl­gesuche entstehen, der durch die Anwendung der Richtlinie für temporären Schutz vermieden werden sollte.

Aber auch für alle anderen Geflüchteten muss geklärt werden, ob der Schutzstatus individuell oder pauschal für die Gruppe verlängert werden kann oder ob er – wenn kein Spur­wechsel vollzogen wird – in einen regulären subsidiären Schutzstatus übergeht. Ein Ansatzpunkt zur Lösung er­gibt sich über eine Novellierung der EU-Richtlinie zum Status von langfristig auf­enthaltsberechtigen Drittstaatlern, die ohne­hin im April dieses Jahres auf der Agenda stand. In diesem Rahmen könnte beschlossen werden, dass ein dauerhafter Aufenthaltstitel bereits nach drei – anstatt bisher fünf – Jahren vergeben werden kann.

Den Schutzstatus für eine große Gruppe von Menschen gleichzeitig auslaufen zu lassen und diese damit zur Ausreise zu ver­pflichten, ist in jedem Fall nur bedingt rat­sam. Aus anderen Kontexten ist bekannt, dass, selbst wenn eine sichere Remigration möglich sein sollte, eine massenhafte Rück­kehr innerhalb eines kurzen Zeitraums zu Konflikten, beispielsweise um Land oder Jobs, führen kann. Post-Konflikt-Gesellschaf­ten, die ohnehin fragil sind, werden davon zusätzlich belastet.

Diese Fragen zur Statusbeendigung und Rückkehr stellen sich insbesondere vor dem Hintergrund der besonderen visarechtlichen Situation der Ukraine: Die Förderung der Rückkehr in ein Land, aus dem unter Um­ständen auch in Zukunft eine visafreie Wiedereinreise möglich ist, wäre nur dann sinnvoll, wenn sie freiwillig erfolgt. Gene­rell dürfte es in diesem Zusammenhang hilfreicher sein, Mobilität zu unterstützen als grenzüberschreitende Migration aus Nicht-EU-Staaten restriktiv zu handhaben.

Fazit

Mit der Aktivierung der Richtlinie zu tem­porärem Schutz haben sich die EU-Mitglied­staaten einen flexiblen Rahmen gegeben, der ihnen mehr Zeit verschafft, um ihre Verwaltungskapazitäten aufzubauen und komplexe Fragen wie die der EU-weiten Verteilung pragmatisch zu klären. Dies ist dem außerordentlichen Ausmaß der aktu­ellen Fluchtkrise angemessen und erlaubt es, den flüchtenden Menschen schnell und unbüro­kratisch Schutz zu gewähren. Damit diese gewonnene Zeit aber einen positiven Effekt hat, muss sie dafür genutzt werden, die Umsetzung der Richtlinie europaweit ab­zustimmen und einen klaren Fahrplan für ihre Verlängerung bzw. ihr Auslaufen zu erstellen. Dieser Fahrplan muss sowohl den betroffenen Menschen aus der Ukraine als auch der europäischen Bevölkerung trans­parent und überzeugend kommuniziert werden – schon allein, um das zivil­gesellschaftliche Engagement zu erhalten und populistischen Kampagnen vorzubeugen. Diese Botschaft ist wichtiger als symbo­lische Debatten über feste Verteilungs­quoten.

Um die Integration der Geflüchteten zu fördern und sich dabei eine größtmögliche Flexibilität für einen sich verändernden Kriegsverlauf zu bewahren, sollte an dem Grundgedanken der Selbstverteilung und Mobilität festgehalten werden, auch wenn dies für die europäische Asyl- und Migra­tionspolitik geradezu eine Kehrtwende be­deutet. So können die Potentiale der geflo­henen Menschen genutzt und die Vulne­ra­blen unter ihnen geschützt werden. Gleich­zeitig werden auf diese Weise die Belas­tun­gen und Transaktionskosten für die Auf­nahme­länder geringer gehalten als beim traditionellen Umverteilungsansatz. Eine flankierende monetäre Kompensation zu­gunsten der Zielländer und insbesondere der aufnehmenden Kommunen ist dabei unerlässlich. Letztere sollten dadurch die Möglichkeit erhalten, bessere Chancen für die Integration zu schaffen.

Ein Modell zur Unterbringung von Geflüch­teten in Städten mit großer Wohn­raumknappheit könnte eine finan­zielle Unterstützung für Privatpersonen sein, die Geflüchteten kostenlos ein Quartier zur Verfügung stellen. In Großbritannien bei­spielsweise soll denjenigen, die eine Unter­kunft für mindestens sechs Monate zu­sagen, ein staatlicher monatlicher Zuschuss in Höhe von 415 Euro geboten werden. Ähn­liche Regelungen wären auch für Deutschland und andere EU-Staaten sinn­voll, denn so kann ein fließender Übergang zwischen Selbst­hilfe und staatlicher Hilfe geschaffen werden. Um Missbrauch vorzubeugen, wären staat­liche Kontrollen hier allerdings unabdingbar.

Ein wichtiger Nebeneffekt des vorgeschla­genen dreiphasigen Vorgehens wäre, dass so das parallel bestehende EU-Asyl­system leistungsfähig und für andere Schutz­suchende offen bliebe. Schließlich bestehen auch in anderen Weltgebieten weiterhin große ungelöste Flucht- und Vertreibungsprobleme, die sich durch die wirtschaft­lichen und geopolitischen Verwerfungen des Ukraine-Krieges verschärfen könnten. Und nicht zuletzt ist potentiell mit Men­schen zu rechnen, die aus dem zu­nehmend autori­tären Russland fliehen.

Dr. Steffen Angenendt ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Globale Fragen der SWP. Nadine Biehler und Dr. Anne Koch sind Wissenschaftlerinnen, David Kipp Wissenschaftler dieser Forschungsgruppe. Dr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa. Das Aktuell wurde verfasst im Rahmen des vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geförderten Projekts »Flucht, Migration und Entwicklung – Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten für deutsche und europäische Politik«.

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