Europa erlebt derzeit die größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Die EU hat erstmals die Richtlinie zum vorübergehenden Schutz aktiviert. Demnach können die Geflüchteten aus der Ukraine ihr Aufnahmeland selbst wählen, dort arbeiten und Leistungen erhalten. Auch wenn die Zahl der Flüchtenden Sorgen bereitet, sollte die EU an diesem offenen Ansatz festhalten und auf die Vorteile zurückgreifen, die die sozialen Bindungen der Geflüchteten und das große zivilgesellschaftliche Engagement bieten. EU-weite Verteilungsquoten wären im Vergleich zur selbstbestimmten Mobilität die schlechtere Lösung: Die Fluchtbewegung kann bewältigt werden, wenn die Potentiale der Selbstverteilung in der EU und in den Mitgliedsländern genutzt werden, sich alle EU-Mitgliedstaaten finanziell an der Aufnahme beteiligen und die Aufnahmeländer jetzt schon die Voraussetzungen für einen längerfristigen Aufenthalt schaffen.
Die humanitäre Notlage der Zivilbevölkerung in der Ukraine spitzt sich unablässig zu. Die russischen Streitkräfte gehen wie befürchtet immer stärker dazu über, zivile Ziele zu beschießen und große Städte, einschließlich Kiew, zu belagern. Infrastrukturen (Wasser, Strom, Heizung) werden zerstört und die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten geht zur Neige. Die Schaffung humanitärer Korridore erweist sich als schwierig, Fluchtwege wurden wiederholt beschossen. Die Situation der Binnenvertriebenen und der Menschen, die nicht fliehen können oder wollen, wird immer prekärer. Bereits vor der Militäroffensive waren nach Auskunft des Amtes des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) in der Ukraine 1,46 Millionen Binnenvertriebene registriert, davon 854.000 im Donbas. UNHCR schätzt, dass mittlerweile 6,5 Millionen Menschen innerhalb des Landes auf der Flucht sind. Die Zahl der Menschen, die in der Ukraine in den kommenden Wochen hilfsbedürftig werden, dürfte noch deutlich höher sein. Und schließlich sind bis zum 24. März 2022 bereits 3,6 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen, etwa 3 Millionen davon in die EU. Ein großer Bedarf an Unterstützung für Geflüchtete aus der Ukraine besteht zudem in der Republik Moldau, die als ärmstes Land Europas und mit dem ungelösten Konflikt um den abtrünnigen Landesteil Transnistrien besonders fragil ist.
Die Aktivierung der EU-Richtlinie: Signal der Aufnahmebereitschaft
Als wichtigste Reaktion auf die außergewöhnlich große Fluchtbewegung aus der Ukraine haben die EU-Staaten am 4. März 2022 erstmals die vor zwei Jahrzehnten beschlossene EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz aktiviert. Demnach wird allen Ukrainerinnen und Ukrainern und ihren Familienangehörigen, die nach der militärischen Invasion russischer Streitkräfte am 24. Februar 2022 in die EU eingereist sind, ein zeitweiser Schutz und Aufenthaltstitel zugesprochen – ähnlich dem gruppenbezogenen Schutzstatus (prima facie), den Aufnahmeländer auch schon in anderen Fluchtsituationen gewährt haben. Dieser gilt zunächst für ein Jahr, und wird – ohne gegenteilige Entscheidung des Rates – zweimal automatisch um ein halbes Jahr verlängert. Falls eine sichere Rückkehr auch dann noch nicht möglich ist, ist ein weiterer Aufschub um ein Jahr möglich.
Die Aktivierung dieses gruppenbasierten Schutzverfahrens ist eine richtige Entscheidung, trotz begründeter Einwände, dass den einzelnen Betroffenen über individuelle Verfahren in gut ausgestatteten Asylsystemen noch weiterreichende Rechte zugestanden würden. Die Vorteile der EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz liegen auf der Hand: Ihre Anwendung verschafft den Verwaltungen Effizienzgewinne und verhindert eine Überlastung der Asylsysteme. Alle Ukrainerinnen und Ukrainer, die aus ihrem Land geflohen sind, erhalten eine klare, wenn auch zeitlich begrenzte Perspektive. Sie haben zudem die Möglichkeit, zu einem späteren Zeitpunkt einen Asylantrag zu stellen. Auch schutzbedürftige Drittstaatsangehörige aus der Ukraine und langfristig dort aufenthaltsberechtigte Personen können nach Ermessen der jeweiligen EU-Staaten, in denen sie sich aufhalten, einen befristeten Schutz erhalten – sofern sie nicht sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zurückkehren können.
Die Rechte, die mit der Aktivierung der Richtlinie verbunden sind, müssen jeweils national ausgestaltet werden; ihre Beachtung wird von der EU-Kommission überwacht. Sie sind aber als Mindeststandard positiv zu bewerten. Die Geflüchteten erhalten unter anderem Zugang zu Schulbildung, zum Arbeitsmarkt, zur Gesundheitsversorgung und zu Sozialleistungen.
Eine Besonderheit der Richtlinie ist die den Geflüchteten zugestandene freie Wahl des EU-Mitgliedstaats, in dem sie sich vorläufig niederlassen wollen. Im Gegensatz zum klassischen Asylverfahren gemäß den Dublin-Regeln liegt die Verantwortung für die Betroffenen nicht bei den Erstaufnahmeländern. Vielmehr können Geflüchtete ihren Antrag auf zeitweisen Schutz in einem EU-Mitgliedstaat ihrer Wahl stellen, in dem sie dann in der Regel ansässig bleiben sollen. Zusätzlich haben die EU-Mitgliedstaaten erklärt, keine Rücküberstellung von Schutzsuchenden vornehmen zu wollen, die bereits in einem anderen Land registriert sind – eine entsprechende Bestimmung der EU-Rückführungsrichtlinie (Art. 11) soll nicht zur Anwendung kommen. Einer staatlich organisierten Verteilung in andere EU‑Mitgliedstaaten müssen die Betroffenen derweil gemäß der geltenden Richtlinie (Art. 26) zustimmen. Derzeit ist unklar, wie die Mitgliedstaaten mit diesem Recht in der Praxis umgehen werden und welche Folgen es hat, wenn die Geflüchteten mit einer Weiterleitung in andere EU-Länder nicht einverstanden sind. Eine wortgetreue Auslegung der Richtlinie würde jedenfalls gegen feste Verteilungsquoten sprechen.
Das aktuell geltende Prinzip der freien Wahl des Aufenthaltslands wird gestützt und bestärkt durch das schon seit Mitte 2017 bestehende Recht ukrainischer Staatsangehöriger, visafrei in den Schengenraum einzureisen. Angesichts der anhaltend hohen Zahl von Personen, die die Grenzen der Ukraine in Richtung EU überschreiten – derzeit im Schnitt mehr als 100.000 pro Tag – können Kontrollen ohnehin nur eingeschränkt erfolgen. Vorrangiges Ziel ist, allen schutzbedürftigen Menschen ohne unverhältnismäßig lange Wartezeiten den Zutritt zur EU zu ermöglichen. Nachgelagerte Personenüberprüfungen im Grenzraum können noch ausgeweitet werden, im Fall der Weiterreise auch von Seiten anderer Schengen-Staaten. Solche Maßnahmen sollten aber das prinzipielle Recht auf Mobilität nicht in Frage stellen. Um den Sicherheitsinteressen der Mitgliedstaaten, zum Beispiel im Bereich der organisierten Kriminalität oder politischer Straftaten, entgegenzukommen, sollte sichergestellt werden, dass der Abgleich der Daten von registrierten Schutzsuchenden im Nachgang zur Registrierung auch grenzüberschreitend möglich ist.
Der bisherige Konsens der EU-Mitgliedstaaten, im Umgang mit den Schutzsuchenden aus der Ukraine dem Primat der schnellen Unterstützung, Flexibilität und Offenheit zu folgen, ist präzedenzlos. Die Mitwirkung und Hilfe privater und zivilgesellschaftlicher Netzwerke und Organisationen ist politisch erwünscht. Schätzungen der EU-Kommission zufolge kann die Hälfte aller Geflüchteten aus der Ukraine zunächst eigenständig an schon bestehende soziale Verbindungen anknüpfen. Diese Menschen wählen ihren Wohnort danach aus, wo Familienmitglieder, Freunde oder Bekannte bereits in der EU ansässig sind. Dieses Potential für die Aufnahme und längerfristige Integration gilt es zu nutzen.
Das Problem mit der Verteilung
Frühere Erfahrungen mit der Aufnahme großer Gruppen Geflüchteter – sei es während des Bosnienkriegs oder im Zuge der starken Zuwanderungen von 2015 und 2016 – zeigen, dass eine anfänglich positive Haltung gegenüber Schutzsuchenden schnell in Ablehnung umschlagen kann, wenn der Eindruck einer Überforderung staatlicher Strukturen entsteht und mittelfristig keine tragfähige Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Akteuren gelingt.
Gerade in Polen als primärem Erstankunftsland, das inzwischen etwa zwei Millionen Geflüchtete aus der Ukraine beherbergt, ist diese Gefahr gegeben. Bisher wird der allergrößte Teil der polnischen Hilfsleistungen für ukrainische Staatsangehörige von kirchlichen und privaten Organisationen sowie Einzelpersonen erbracht, obwohl die PiS-Regierung zivilgesellschaftliche Initiativen zur Unterstützung von Flüchtlingen bis vor kurzem noch aktiv an ihrer Arbeit gehindert hat. Auch wenn die gesellschaftliche Stimmung dort bisher nicht umgeschlagen ist, sind die Kapazitätsgrenzen großer polnischer Städte wie Warschau oder Krakau bereits jetzt erreicht; Geflüchtete machen dort mittlerweile einen Bevölkerungsanteil von bis zu 15 Prozent aus. Die von Polen ausgehende Selbstverteilung findet zwar insbesondere in Richtung Deutschland statt. In der Summe reicht die Zahl dieser eigenständigen Weiterreisen jedoch nicht aus, um die polnischen Städte spürbar zu entlasten. Auch die Aufnahmekapazitäten der deutschen Großstädte dürften im Übrigen bald erschöpft sein.
Deshalb werden Rufe laut, die Verteilung der Geflüchteten aus den Anrainerstaaten in andere Mitgliedstaaten aktiver zu gestalten, unter anderem durch eine »Luftbrücke«. Bisher konzentriert sich die EU-Kommission auf finanzielle, humanitäre und administrative Unterstützung. Der Rat der Europäischen Union hat am 16. März 2022 den Vorschlag der Kommission gebilligt, Mittel aus dem EU-Kohäsionsfonds zugunsten von Flüchtlingen in Europa (CARE) einzusetzen. Nach Zustimmung des Europaparlaments werden die betroffenen Mitgliedstaaten ab April 2022 auf nicht abgerufene Mittel aus dem Zeitraum 2014–2020 ohne eigene finanzielle Beteiligung zugreifen können und zudem auch jene 10 Milliarden Euro für die neuen Anforderungen verwenden dürfen, die eigentlich für den Umgang mit der Corona-Pandemie vorgesehen waren.
Die Richtlinie zum temporären Schutz sieht eine »Solidaritätsplattform« vor, auf der Mitgliedstaaten Aufnahmekapazitäten angeben können. Diese Plattform sollte schnell funktionsfähig gemacht werden, so dass Angebote zur Übernahme von Geflüchteten aus zentral- und osteuropäischen Staaten, wie aus der Republik Moldau, über die Plattform laufen können. Der Ortswechsel sollte auf freiwilliger Basis erfolgen und die Geflüchteten sollten durch Anreize und eine entsprechende Informationspolitik zur Mitwirkung bewogen werden. Verteilungsregeln mit festen Quoten sind derzeit in der EU nicht mehrheitsfähig und auch nicht sinnvoll.
Erschwert wird eine Festlegung der Verantwortungsteilung »von oben« dadurch, dass die reale Belastung einzelner Staaten wegen der fehlenden Verpflichtung zur Registrierung aktuell unklar ist. Trotz der Zählungen von UNHCR ist unbekannt, wie viele Schutzsuchende genau sich wo innerhalb der EU aufhalten und wer davon schon den gewünschten Zielort erreicht hat. Und es liegen auch keine belastbaren Schätzungen vor, welche Weiterwanderungen noch zu erwarten sind.
Eine dreiphasige Strategie
Der Streit über die Verteilung und über das angemessene Verständnis von Solidarität ist bereits wieder aufgeflammt. Langfristig werden diese Debatten entscheidend für die Zukunft der gesamten EU-Asylpolitik sein. Erst einmal stellen sich aber andere Prioritäten. Die strategische Planung sollte drei Phasen umfassen.
Phase 1: Registrierung und Erstversorgung
In den kommenden Wochen bleibt die temporäre Unterbringung und Erstversorgung der geflüchteten Menschen vordringliche Aufgabe. Die Möglichkeiten des visafreien Aufenthalts und der Weiterreise im Schengenraum für ukrainische Staatsangehörige können den Mitgliedstaaten mehr Zeit verschaffen, um entsprechende Kapazitäten aufzubauen. Die Registrierung der Geflüchteten und ihrer Bedarfe ist angesichts der schieren Zahl der ankommenden Menschen eine gewaltige Herausforderung. In Polen wurden erst am 16. März, also nachdem schon über 1,8 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer die Grenze überquert hatten, ein entsprechendes Verfahren und die dazu nötige Infrastruktur eingerichtet. Der Rückstau bei der Registrierung ist immens. Bisher werden staatliche Unterstützungsleistungen in der Regel erst nach diesem Verwaltungsakt ausgezahlt werden. In Deutschland wiederum wurde ukrainischen Staatsangehörigen zusätzlich zum regulären Recht auf visafreien Aufenthalt für 90 Tage die Möglichkeit eingeräumt, auf Antrag für weitere 3 Monate legal im Land zu bleiben. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass Betroffene so lange ohne staatliche Dienstleistungen auskommen können. Auch Deutschland muss aktuell unter großem Druck technische Mittel und personelle Ressourcen mobilisieren, um eine Registrierung schutzbedürftiger Personen ordnungsgemäß und zeitnah sicherzustellen. Die Schwierigkeiten dabei werden insbesondere in Berlin sichtbar, wo bislang in Deutschland die größte Zahl von Menschen ankam.
Allgemein stellt die demographische Zusammensetzung der aktuellen Zuwanderung aus der Ukraine eine besondere Herausforderung dar. Inoffiziellen Schätzungen von Hilfsorganisationen zufolge waren bislang 90 Prozent der Geflüchteten Frauen und Kinder, wovon Letztere bis zu 50 Prozent ausmachten. Dies kann sich, wenn die Fluchtbewegung anhält, noch ändern. Im Laufe der Zeit werden noch mehr vulnerable Personen Schutz suchen – etwa alte Menschen oder unbegleitete Minderjährige – oder Menschen, die durch die brutale russische Kriegsführung und die zunehmenden Zerstörungen verletzt und traumatisiert sind. Diese Personengruppen sollten möglichst schon in den Anrainerstaaten identifiziert und bei der Auswahl von Zielorten in der EU und dem Transport dorthin in besonderer Weise unterstützt werden. Dank der Aktivierung der Richtlinie gibt es hinreichend Flexibilität, auf diese spezifischen Anforderungen zu reagieren: Menschen ohne große Unterstützungsbedarfe werden nicht unnötigerweise in Asylverfahren gelenkt, die sie weitgehend zur Untätigkeit verpflichten, während vulnerable Personen durch den temporären Schutzstatus die staatlichen Leistungen erhalten, die sie benötigen.
Der Schutzstatus sieht eine Grundversorgung und den Zugang zu Bildung und zu Gesundheitsdienstleistungen vor, was auch psychosoziale Unterstützung beinhalten sollte. Um die psychische Belastung speziell auch für Kinder und Jugendliche zumindest teilweise aufzufangen, sollte so bald wie möglich gewährleistet werden, dass diese reguläre Schulen und Regelklassen besuchen können. Angesichts der vergleichsweise niedrigen Impfquote in der Ukraine und der noch nicht ausgestandenen Covid-19-Pandemie sollten zudem schnell niedrigschwellige Angebote zur Impfung (einschließlich Masern) gemacht werden. Diese Maßnahme mag aus Sicht der Geflüchteten in der ersten Ankunftsphase nicht prioritär sein. Die öffentlichen Stellen sollten aber intensiv dafür werben.
Die Behörden haben diese Bedarfe grundsätzlich erkannt. Die Planung und Umsetzung bereitet aber in Deutschland und anderen EU-Staaten noch erhebliche Schwierigkeiten. Die Politik wird sich jetzt auf einem schmalen Grat bewegen müssen: Sie wird einerseits genötigt sein, die staatliche Kontrolle und Koordination zu verstärken, um die Bedarfe auch mittelfristig zu decken, und ihre Aufmerksamkeit andererseits darauf richten müssen, die dezentrale zivilgesellschaftliche Hilfsbereitschaft vor Ort und das Eigenengagement und die Kooperationswilligkeit der Geflüchteten zu erhalten.
Hoffnung gibt in dieser Hinsicht, dass in Deutschland mittlerweile darauf geachtet wird, einer Ausbeutung der Geflüchteten in illegalen Beschäftigungsverhältnissen und einem Missbrauch insbesondere von Frauen etwa als Gegenleistung für Unterkunft so weit wie möglich vorzubeugen. Eine staatliche Überprüfung privater Initiativen wird für viele Bereiche nötig sein, zum Beispiel bei Bildungs- und Weiterbildungsangeboten. Wichtig ist auch der Beschluss von Bund und Ländern vom 17. März 2022, den Geflüchteten den Zugang zu Integrationsleistungen, wie etwa integrations- und berufsbezogenen Deutschkursen, zu eröffnen.
Insgesamt bleiben allerdings viele Fragen offen, wie etwa die nach der Aufgaben- und finanziellen Lastenteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Letztere dringen auf eine stärkere Beteiligung des Bundes, da sie zwar für die Kosten, die nach dem Asylbewerberleistungsgesetz entstehen, eigentlich zuständig wären, diese aber nicht allein werden stemmen können. Sie sind in hohem Maße auf Unterstützung durch die Länder und den Bund und die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Akteuren angewiesen.
In Anbetracht der hohen Zahlen hat die Bundesregierung mittlerweile entschieden, registrierte Geflüchtete gemäß § 24 Aufenthaltsgesetz auf die Bundesländer zu verteilen und dazu den Königsteiner Schlüssel anzuwenden. Nach diesem wird berechnet, wie die Bundesländer an gemeinsamen Finanzierungen zu beteiligen sind. Der Anteil, den ein Land tragen muss, richtet sich zu zwei Dritteln nach dem Steueraufkommen und zu einem Drittel nach der Bevölkerungszahl. Der Schlüssel wird auch zur Verteilung von Asylbewerbern herangezogen. Auch wenn im innerstaatlichen Rahmen im Gegensatz zur EU-Ebene keine Zustimmung der Betroffenen zur Verteilung erforderlich ist, erzeugt dieser Ansatz erhebliche Spannungen. Menschen, die durch Freunde, Verwandte oder zivilgesellschaftliche Einrichtungen unterstützt werden, sollten von einer Verteilung ausgenommen werden. Dazu gibt es Ansätze, etwa wenn eine längerfristige Unterkunftszusage oder ein Mietvertrag vorliegt, aber keine klare bundesweite Weisung für die ausführenden Behörden auf Landes- und kommunaler Ebene. Gelöst werden könnte dies durch eine Anrechnung der bereits privat untergekommenen Personen auf den Königsteiner Schlüssel und durch Kompensationsleistungen für die zusätzliche Aufnahme von Geflüchteten. Eine Residenzpflicht ist im Gesetz zwar vorgesehen, sollte aber nur für diejenigen gelten, die staatliche Transferleistungen dauerhaft beanspruchen. Der Nachweis einer Beschäftigung von mindestens 15 Stunden pro Woche oder einer Ausbildung befreit nach aktueller Weisung von der Zuteilung des Wohnorts.
Phase 2: Frühzeitige Arbeits- und Bildungsangebote
Noch hoffen viele Geflüchtete auf eine baldige Heimkehr, nicht zuletzt weil Männer im wehrfähigen Alter in der Ukraine zurückbleiben mussten und Familien getrennt wurden. Aber selbst im Fall einer schnellen Waffenruhe wird ein erheblicher Anteil der Geflüchteten bleiben wollen oder müssen, nicht zuletzt weil ihre Heimatorte zerstört wurden. Deshalb ist es – wie in anderen Fluchtsituationen – von zentraler Bedeutung, den Menschen gesellschaftliche Teilhabe und Einkommensmöglichkeiten zu eröffnen.
In mehreren EU-Staaten, einschließlich Polen, besteht durchaus ein Interesse daran, dass ukrainische Staatsangehörige Lücken im nationalen Arbeitsmarkt schließen. Die bislang vorliegenden Einschätzungen etwa des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) zu den Arbeitsmarktperspektiven der ukrainischen Geflüchteten sind ermutigend. Trotzdem sollte klar sein, dass ein Großteil der Geflüchteten nicht schnell und ohne weitere Unterstützung wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen kann. Dies gilt insbesondere für Frauen mit betreuungspflichtigen Kindern, erwartungsgemäß aber auch für die Schutzsuchenden, die noch kommen werden. Bestehende Hürden für reguläre Beschäftigung wie fehlende Verwaltungskapazität, Verständigungsschwierigkeiten, langwierige Anerkennungsverfahren sollten so weit wie möglich reduziert werden, um irregulären Beschäftigungsverhältnissen vorzubeugen. Ebenso müssen Wege aus solchen Beschäftigungsverhältnissen aufgezeigt werden.
In Deutschland sollten Entscheidungen über die Aufnahme und Verteilung so früh und so eng wie möglich am Ziel der Integrationsförderung ausgerichtet sein. Zudem sollten die Erfahrungen mit der Flüchtlingszuwanderung der Jahre 2015/16 genutzt werden. Eine davon ist, dass eine Verteilung in vorhandene, aber abseits gelegene Unterkünfte vermieden werden sollte. Stattdessen sollte eine Unterbringung in Einrichtungen angeboten werden, in denen eine gezielte Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt und eine Vermittlung in Beschäftigungsverhältnisse für diejenigen stattfinden kann, die daran interessiert sind. Andere Mitgliedstaaten könnten diesen Ansatz ebenfalls verfolgen. Die hierauf verwendeten Ressourcen wären auch dann gut investiert, wenn die Betroffenen schließlich doch in die Ukraine zurückkehren würden, da die im Ausland erworbenen Fähigkeiten dann dem Wiederaufbau des Landes bzw. der ukrainischen Wirtschaft zugutekommen.
Auf EU-Ebene sollten alle Mitgliedstaaten über die Mindeststandards der Richtlinie zum temporären Schutz hinaus aktiv tätig werden. Dazu könnte die bereits im vergangenen Herbst angeschobene Initiative eines »Talentpools« weiterverfolgt werden, die bislang allerdings darauf zielte, die Anwerbung von Drittstaatsangehörigen außerhalb der EU zu fördern.
Angesichts der hohen Zahlen der Geflüchteten ist es zudem unerlässlich, dass die Kapazitäten bei den Sprachkursen und bei der bedarfsgerechten Aus- und Weiterbildung stark ausgebaut werden. Auch hier liegt die Kompetenz zunächst bei den nationalen oder unteren Verwaltungsebenen. Diese sollten aber durch die EU-Kohäsionsmittel unterstützt werden. Auch die Möglichkeiten des Wissenstransfers im Rahmen von Städtepartnerschaften könnten hier genutzt werden. Bei der längerfristigen Beschulung von Kindern ist eine Integration in Regelklassen spätestens ab Herbst dieses Jahres anzustreben. In jedem Fall wird die bedarfsgerechte Unterrichtung von Kindern in Ländern wie Deutschland, in denen es ohnehin an Lehrkräften mangelt, eine immense Herausforderung darstellen. Durch die Anstellung von geflüchteten Lehrkräften und Pädagoginnen an Kitas und Schulen könnte der Fachkräftemangel in diesem Bereich zumindest teilweise aufgefangen werden. Gleichzeitig würde den auf diese Weise beschäftigten Menschen eine Einkommensmöglichkeit geboten.
Je länger die Kampfhandlungen andauern, umso mehr verwundete oder verletzte Menschen sind zu erwarten. Diesen sollte schnellstmöglich die Zusammenführung mit ihren Familien ermöglicht werden. Auch der Ausbau von medizinischen und psychologischen Angeboten für die Opfer von Gewalt und Folter dürfte in der zweiten Phase noch wichtiger werden.
Dabei wird auch die Frage an Bedeutung gewinnen, wie einheitlich die Standards der Richtlinie über den vorübergehenden Schutz in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden. So ist zu erwarten, dass sich die Sozialleistungen zwischen den Mitgliedstaaten weiterhin stark unterscheiden werden. Mit der Zeit könnte auch der Faktor der geographischen und kulturell-sprachlichen Nähe zur Ukraine an Relevanz verlieren, so dass die Wahrscheinlichkeit einer Weiterreise steigt. Deutschland und andere westeuropäische Staaten sollten sich auf eine umfangreiche Zuwanderung von Ukrainerinnen und Ukrainern aus den Anrainerstaaten einstellen, auch wenn die Aufnahmekapazitäten zunehmend begrenzt sind.
Vor diesem Hintergrund sollten EU-Fördermittel so eingesetzt werden, dass den Menschen in den Aufnahmeländern Versorgung und Zukunftsperspektiven geboten werden können. Ebenso gilt es aber auch die politische Absprache einzuhalten, dass die EU-Staaten auf Rücküberstellungen von Personen mit temporärem Schutzstatus verzichten.
Insgesamt ist zudem nicht zu erwarten, dass andere Formen der sekundären Zuwanderung von Schutzbedürftigen, etwa von Griechenland nach Deutschland, substanziell begrenzt werden können. Was diese Migrationsbewegungen betrifft, werden die Staaten, die weniger von der Aufnahme von Ukraine-Flüchtlingen betroffen sind, einen Beitrag leisten müssen. Eine Argumentation, dass wegen der Belastungen durch die Beherbergung der ukrainischen Flüchtlinge nun für nicht-ukrainische Schutzsuchende in der EU kein Platz mehr sei, sollte deutlich zurückgewiesen werden. Eine solche Haltung würde zu einer weiteren Aushöhlung der Prinzipien des Flüchtlingsschutzes beitragen und den Vorwurf nähren, hier entstünde ein Zwei-Klassen-Flüchtlingsschutz.
Phase 3: Flexible Beendigung des temporären Schutzstatus
Zu einem strategischen Umgang mit der Flucht aus der Ukraine gehört auch, jetzt schon über das Auslaufen des temporären Schutzstatus nachzudenken. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Teil der geflohenen ukrainischen Bevölkerung auch über zwei bzw. drei Jahre hinaus in der EU bleiben dürfte – je länger der Krieg dauert, umso mehr. Läuft der durch die EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz gewährte Status aus, ohne dass frühzeitig über Anschlussoptionen nachgedacht wird, ist zu erwarten, dass viele der Betroffenen von ihrem Recht Gebrauch machen werden, einen Asylantrag zu stellen. Dann würde zu einem späteren Zeitpunkt genau der administrative Aufwand für individuelle Asylgesuche entstehen, der durch die Anwendung der Richtlinie für temporären Schutz vermieden werden sollte.
Aber auch für alle anderen Geflüchteten muss geklärt werden, ob der Schutzstatus individuell oder pauschal für die Gruppe verlängert werden kann oder ob er – wenn kein Spurwechsel vollzogen wird – in einen regulären subsidiären Schutzstatus übergeht. Ein Ansatzpunkt zur Lösung ergibt sich über eine Novellierung der EU-Richtlinie zum Status von langfristig aufenthaltsberechtigen Drittstaatlern, die ohnehin im April dieses Jahres auf der Agenda stand. In diesem Rahmen könnte beschlossen werden, dass ein dauerhafter Aufenthaltstitel bereits nach drei – anstatt bisher fünf – Jahren vergeben werden kann.
Den Schutzstatus für eine große Gruppe von Menschen gleichzeitig auslaufen zu lassen und diese damit zur Ausreise zu verpflichten, ist in jedem Fall nur bedingt ratsam. Aus anderen Kontexten ist bekannt, dass, selbst wenn eine sichere Remigration möglich sein sollte, eine massenhafte Rückkehr innerhalb eines kurzen Zeitraums zu Konflikten, beispielsweise um Land oder Jobs, führen kann. Post-Konflikt-Gesellschaften, die ohnehin fragil sind, werden davon zusätzlich belastet.
Diese Fragen zur Statusbeendigung und Rückkehr stellen sich insbesondere vor dem Hintergrund der besonderen visarechtlichen Situation der Ukraine: Die Förderung der Rückkehr in ein Land, aus dem unter Umständen auch in Zukunft eine visafreie Wiedereinreise möglich ist, wäre nur dann sinnvoll, wenn sie freiwillig erfolgt. Generell dürfte es in diesem Zusammenhang hilfreicher sein, Mobilität zu unterstützen als grenzüberschreitende Migration aus Nicht-EU-Staaten restriktiv zu handhaben.
Fazit
Mit der Aktivierung der Richtlinie zu temporärem Schutz haben sich die EU-Mitgliedstaaten einen flexiblen Rahmen gegeben, der ihnen mehr Zeit verschafft, um ihre Verwaltungskapazitäten aufzubauen und komplexe Fragen wie die der EU-weiten Verteilung pragmatisch zu klären. Dies ist dem außerordentlichen Ausmaß der aktuellen Fluchtkrise angemessen und erlaubt es, den flüchtenden Menschen schnell und unbürokratisch Schutz zu gewähren. Damit diese gewonnene Zeit aber einen positiven Effekt hat, muss sie dafür genutzt werden, die Umsetzung der Richtlinie europaweit abzustimmen und einen klaren Fahrplan für ihre Verlängerung bzw. ihr Auslaufen zu erstellen. Dieser Fahrplan muss sowohl den betroffenen Menschen aus der Ukraine als auch der europäischen Bevölkerung transparent und überzeugend kommuniziert werden – schon allein, um das zivilgesellschaftliche Engagement zu erhalten und populistischen Kampagnen vorzubeugen. Diese Botschaft ist wichtiger als symbolische Debatten über feste Verteilungsquoten.
Um die Integration der Geflüchteten zu fördern und sich dabei eine größtmögliche Flexibilität für einen sich verändernden Kriegsverlauf zu bewahren, sollte an dem Grundgedanken der Selbstverteilung und Mobilität festgehalten werden, auch wenn dies für die europäische Asyl- und Migrationspolitik geradezu eine Kehrtwende bedeutet. So können die Potentiale der geflohenen Menschen genutzt und die Vulnerablen unter ihnen geschützt werden. Gleichzeitig werden auf diese Weise die Belastungen und Transaktionskosten für die Aufnahmeländer geringer gehalten als beim traditionellen Umverteilungsansatz. Eine flankierende monetäre Kompensation zugunsten der Zielländer und insbesondere der aufnehmenden Kommunen ist dabei unerlässlich. Letztere sollten dadurch die Möglichkeit erhalten, bessere Chancen für die Integration zu schaffen.
Ein Modell zur Unterbringung von Geflüchteten in Städten mit großer Wohnraumknappheit könnte eine finanzielle Unterstützung für Privatpersonen sein, die Geflüchteten kostenlos ein Quartier zur Verfügung stellen. In Großbritannien beispielsweise soll denjenigen, die eine Unterkunft für mindestens sechs Monate zusagen, ein staatlicher monatlicher Zuschuss in Höhe von 415 Euro geboten werden. Ähnliche Regelungen wären auch für Deutschland und andere EU-Staaten sinnvoll, denn so kann ein fließender Übergang zwischen Selbsthilfe und staatlicher Hilfe geschaffen werden. Um Missbrauch vorzubeugen, wären staatliche Kontrollen hier allerdings unabdingbar.
Ein wichtiger Nebeneffekt des vorgeschlagenen dreiphasigen Vorgehens wäre, dass so das parallel bestehende EU-Asylsystem leistungsfähig und für andere Schutzsuchende offen bliebe. Schließlich bestehen auch in anderen Weltgebieten weiterhin große ungelöste Flucht- und Vertreibungsprobleme, die sich durch die wirtschaftlichen und geopolitischen Verwerfungen des Ukraine-Krieges verschärfen könnten. Und nicht zuletzt ist potentiell mit Menschen zu rechnen, die aus dem zunehmend autoritären Russland fliehen.
Dr. Steffen Angenendt ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Globale Fragen der SWP. Nadine Biehler und Dr. Anne Koch sind Wissenschaftlerinnen, David Kipp Wissenschaftler dieser Forschungsgruppe. Dr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa. Das Aktuell wurde verfasst im Rahmen des vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geförderten Projekts »Flucht, Migration und Entwicklung – Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten für deutsche und europäische Politik«.
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doi: 10.18449/2022A24