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Deutschlands Wertepartnerschaften im Indo‑Pazifik

SWP-Studie 2024/S 02, 02.02.2024, 26 Seiten

doi:10.18449/2024S02

Forschungsgebiete

Dr. Felix Heiduk ist Leiter der Forschungsgruppe Asien.

Der Autor dankt Simona Beckemeier für ihre Unterstützung bei der Literaturrecherche sowie der Umsetzung der Daten­analyse mit MAXQDA.

  • Deutschlands bilaterale Partnerschaften im Indo-Pazifik zu diversifizieren ist eines der zentralen Ziele deutscher Politik. Diese Diversifizierung soll zum einen die wirtschaftliche Abhängigkeit von China reduzieren, zum anderen – im Kontext systemischer Rivalität mit autoritären Staaten – eine Kooperation mit solchen Staaten herbeiführen, mit denen Deutschland gemeinsame Werte teilt: mit sogenannten Wertepartnern.

  • Dabei wird jedoch nicht klar benannt, welche Werte grundlegend für Werte­partnerschaften sind. Auch bleibt unklar, welche Staaten im Indo-Pazifik zur Gruppe der Wertepartner gezählt werden und wie die Wertepartnerschaften sich von »normalen« bilateralen Beziehungen zu anderen Staaten in der Region unterscheiden.

  • Die Studie zeigt vielmehr, dass die Bedeutsamkeit, die der Kooperation mit Wertepartnern rhetorisch beigemessen wird, im Widerspruch steht zu dem vagen Konzept »Wertepartnerschaft« und seiner geringen Aussage­kraft für die Grundlagen bilateraler Kooperation.

  • Der Vergleich von Wertepartnern mit einer Kontrollgruppe von Nicht-Wertepartnern für unterschiedliche Politikbereiche ergibt einen gemischten Befund. Die angenommene Korrelation zwischen einer Zuschreibung als Wertepartner und engerer internationaler Kooperation auf der Basis gemeinsamer Normen und Werte ist empirisch kaum darstellbar.

  • Es empfiehlt sich eine umfassende Revision des bislang diffusen Konzepts der Wertepartnerschaften – entweder durch eine normative Schärfung, verbunden mit einer Einengung des Kreises der als Wertepartner bezeich­neten Staaten, oder durch Tilgung des Begriffs aus dem politischen Vokabular.

Problemstellung und Empfehlungen

Der Indo-Pazifik zwischen der Ostküste Afrikas und der amerikanischen Pazifikküste ist die wirtschaftlich dynamischste Region der Welt und zudem zentraler Austragungsraum der sino-amerikanischen Großmächte­rivalität. Eine Destabilisierung selbst von Teilen der Region infolge einer weiteren Verschlechterung der sino-amerikanischen Beziehungen hätte massive negative Auswirkungen auf die vor allem wirtschaftlichen Interessen Deutschlands im Indo-Pazifik. Denn über Jahrzehnte hat Deutschland hauptsächlich auf einen regionalen Partner gesetzt: die Volksrepublik China. Die entsprechend über Jahrzehnte aufgebaute Abhängigkeit von der VR China soll nun durch eine gezielte Politik der Diversifizierung der Partnerschaften reduziert werden. Dies soll jedoch nicht nur die wirt­schaftliche Abhängigkeit Deutschlands von China verringern. Vielmehr wird die Debatte um eine Diver­si­fizierung der regionalen Partner eingebettet in einen breiteren internationalen Kontext, in dem man Deutsch­land in einem globalen System­wettbewerb mit autoritär verfassten Staaten sieht, allen voran mit China. Deutschland ist daher seit einiger Zeit ver­stärkt auf Partnersuche im Indo-Pazifik.

In diesem Zusammenhang kommt den sogenannten Werte­partnerschaften besondere Bedeutung zu – also Partnern, die als gleichgesinnt wahr­genommen werden und mit denen Deutschland, im Kontext eines systemischen Wettbewerbs zwischen liberalen Demo­kratien und autoritär ver­fassten, illiberalen Staaten, gemeinsame Werte teilt. Über derartige Allgemein­plätze hinaus bleibt das Konzept der Wertepartner­(schaft) indes weitgehend nebulös. Weder benennen Ent­scheidungsträgerinnen und ‑träger klar, welche Werte konstitutiv für Wertepartnerschaften sind, noch welche Staaten der Region zur Gruppe der Werte­part­ner gezählt werden und wie die Wertepartnerschaften sich von »normalen« bilateralen Beziehungen zu ande­ren Staaten in der Region unterscheiden. Hier setzt die vorliegende Studie an.

Die Analyse macht deutlich, dass die Bedeutsamkeit, die der Kooperation mit sogenannten Wertepartnern rhetorisch zugestanden wird, nicht nur im Widerspruch zu dem vagen Konzept von Wertepartnerschaften steht, sondern auch zu seiner äußerst geringen Bedeutung in der politischen Praxis. Erkenn­bar ist dies erstens daran, dass der Begriff »Wertepartner« auf eine durchaus heterogene Gruppe von Staaten angewendet wird, deren Mitglieder sehr unter­schiedliche Qualitäten in puncto demokratischer Regierungsführung aufweisen. Zweitens zeigt die Analyse der im Zusammenhang mit Wertepartner­schaften verwendeten Attribute, dass diese mehr­heitlich gar nicht so sehr auf normative Governance-Aspekte fokussieren, sondern vielmehr auf das er­wart­bare internationale Verhalten der Wertepartner – beispielsweise hinsichtlich des Erhalts der regelbasierten internationalen Ordnung. Ein drittes Ergebnis der Untersuchung ist, dass kein beobachtbarer Zusam­men­hang besteht zwischen der Zuschreibung als Wertepartner und der internationalen Kooperation mit einem so charakterisierten Staat auf der Grund­lage geteilter Normen und Werte. Ganz im Gegenteil: Der Vergleich von Wertepartnern mit einer Kontrollgruppe von Nicht-Wertepartnern für unterschiedliche Politik­bereiche (u. a. internationale Menschenrechtspolitik oder Schutz der Rechtsstaatlichkeit) ergibt der­art gemischte Befunde, dass die angenommene Kor­rela­tion zwischen einer Zuschreibung als Werte­part­ner und engerer internationaler Kooperation auf der Basis gemeinsamer Normen und Werte empirisch kaum darstellbar ist.

In Anbetracht dieser Befunde empfiehlt sich eine umfassende Revision des bislang diffusen Konzepts der Wertepartnerschaften. Mindestens zwei Vor­gehens­weisen sind hier denkbar: Zum einen wäre eine Nachschärfung des Konzepts im Sinne eines engen, auf liberalen Werten fußenden Normengerüsts mög­lich. In deren Folge würden einige der derzeitigen Wertepartner nicht mehr als solche bezeichnet. Der Kreis der Wertepartner im Indo-Pazifik würde somit auf einige wenige Staaten begrenzt, mit denen eine weitgehende Normenkonvergenz besteht und mit denen internationale Kooperation in den jewei­ligen Politikfeldern eng abgestimmt werden könnte. Die andere Option wäre, den vagen, inkohärenten Begriff »Wertepartnerschaft« stillschweigend aus dem politi­schen Vokabular zu tilgen. Statt durch dieses Label eine allgemeine Sonderbeziehung zu bestimmten Staaten zu signalisieren, würden dann bei der Part­ner­suche im Indo-Pazifik spezifische gemeinsame Inter­essen in den Mittelpunkt gerückt. Dies würde der bislang zu beob­achtenden Praxis deutscher Außen­politik in der Region mehr entsprechen.

Partnersuche im Indo-Pazifik: Diversifizierung statt Konzentration auf China

Der Indo-Pazifik ist wegen seiner starken wirtschaft­lichen Dynamiken von steigender geoökonomischer Bedeutung für Deutschland. Im indopazifischen Raum liegen nicht nur wichtige Handels- und Inves­titionspartner Deutsch­lands wie China, Japan, Süd­korea, Indien oder die südostasiatische Staaten­gemein­schaft Association of Southeast Asian Nations (ASEAN),1 sondern er beherbergt zudem einige der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt. Der Indo-Pazifik ist allerdings weit mehr als ein geo­graphischer oder wirtschaftlicher Raum. Er ist auch eine ordnungspolitische Antwort auf den Auf­stieg Chinas und die damit zusammenhängenden Macht­ansprüche Pekings in der Region. Denn Pekings Macht­ansprüche werden mittlerweile nicht mehr nur von den USA, sondern auch von immer mehr Anrai­ner­staaten als strategische Herausforderung angesehen. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass genau in dieser Region die amerikanisch-chinesische Rivalität primär ausgetragen wird, deren Verlauf wiederum die Entwicklung der regionalen wie internationalen Ordnung maßgeblich beeinflussen wird, ist »Indo-Pazifik« ebenso ein dezidiert geopolitischer Begriff.2

Diesen Entwicklungen hat die Bundesregierung 2020 unter Kanzlerin Angela Merkel mit ihren Leit­linien zum Indo-Pazifik versucht, Rechnung zu tragen. In den Leitlinien hat die damalige Bundes­regierung nicht nur die Interessen Deutschlands im Indo-Pazifik definiert, sondern auch eine Reihe außen­politischer Ziele dargelegt. Eine der zentralen Zielsetzungen – auch der aktuellen Bundesregierung – besteht darin, die in erster Linie wirtschaft­liche Abhängigkeit Deutschlands von China zu verringern, einem China, das unter der Führung Xi Jinpings in Berlin längst nicht mehr nur als Wirt­schaftspartner betrachtet wird, sondern gleicher­maßen als Konkurrent und systemischer Rivale. Die Reduzierung der Abhängigkeit von China, in Berlin oft »De-risking« genannt, soll vornehmlich durch eine Diversifizierung der Beziehungen Berlins erreicht werden, das heißt durch eine Hinwendung zu ande­ren Partnern in der Region.3

Jahrzehntelang konzent­rierte sich deutsche Asienpolitik auf die bilaterale Kooperation mit der VR China. Andere Staaten Asiens, selbst regionale Schwergewichte wie Japan oder Indien, spielten über Jahrzehnte weder in den strate­gischen Debatten noch im beobachtbaren außen- und sicher­heitspolitischen Agieren Deutschlands eine nennenswerte Rolle. Ebenso wenig bei Han­del und Investi­tionen.

Die Diversifizierung erfolgt aus Sicht Berlins jedoch nicht allein aufgrund wirt­schaftlicher Abhängigkeiten. Vielmehr wird die Debatte um eine Diver­sifizierung der regionalen Partner in einen breiteren internatio­nalen Kontext eingebettet, in dem man Deutschland in einem globalen Systemwettbewerb sieht.4 In diesem stehen autoritär verfasste Staaten, allen voran China und Russland, liberalen Demokratien wie Deutschland gegenüber und setzen, so die dominierende Sicht­weise in Berlin, nicht nur die regelbasierte Ord­nung, das Völkerrecht und die universellen Menschen­rechte unter Druck, sondern versuchen darüber hin­aus durch hybride Bedrohungen, Des­information und Manipulation liberale Gesellschaften zu schwächen.

Im Prozess der Diversi­fi­zierung erfahren jene Partner besondere Aufmerksamkeit, mit denen Deutschland gemeinsame Werte teilt.

Daher geht es mit Blick auf die Diversifizierung der Partner Deutschlands im Indo-Pazifik immer auch um die »Stärkung der politischen Dimension der Bezie­hungen«, weswegen »dem Schulterschluss mit den Demokratien und Wertepartnern der Region beson­dere Bedeutung« zukommt.5 Im Prozess der Diversi­fi­zierung gilt somit jenen Partnern besonderes Augen­merk, die als »gleichgesinnt«6 wahrgenommen wer­den und mit denen Deutschland gemeinsame Werte teilt.

So sieht es auch die amtierende Bundesregierung, die im Koalitionsvertrag von einer »wertebasierten«7 Aufstellung der deutschen Außenpolitik spricht und auf eine Intensivierung der Beziehungen zu Wertepartnern in der Region Indo-Pazifik abzielt.8 Erste Anzeichen hierfür gibt es bereits, zum Beispiel in der Sicherheitspolitik: Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland nahmen 2022 zum ersten Mal als Gäste an einem Nato-Gipfel teil. Und Staaten aus Europa, unter anderem Deutschland mit der Entsendung der Fregatte »Bayern«, engagieren sich wiederum ver­stärkt sicherheitspolitisch im Indo-Pazifik.

Dahinter steht offensichtlich die Annahme, dass die sogenannten Wertepartner aufgrund einer Werte­kongruenz enge und verlässliche Partner für die deut­sche Außenpolitik im Indo-Pazifik darstellen. Jedoch fällt auf, dass in der Debatte um die Diversifizierung von offizieller Seite weder klar benannt wird, welche Gruppe von Staaten im indopazifischen Raum zur Kategorie »Wertepartner« gehört, noch eindeutig defi­niert wird, welche Werte genau konstitutiv für Werte­partnerschaften sind. Nicht zuletzt dieser Umstand öffnet Kritikern einer stärker wertebasierten deut­schen Außenpolitik eine Angriffsfläche.9

Auch die politikwissenschaftliche Forschung zu Sonderbeziehungen, die sich mit »strategischen Part­ner­schaften«, »Wertepartnerschaften« und verwandten Formen bilateraler Beziehungen auseinandersetzt, liefert mit Blick auf Asien bzw. den Indo-Pazifik kaum Ergebnisse. Im Fokus dieser Forschungsarbeiten stan­den lange Zeit die Beziehungen Deutschlands zu ande­ren europäischen Staaten wie Frankreich oder Polen, die Beziehungen zu Israel oder aber die trans­atlantischen Beziehungen. Etwaige Sonderbeziehungen Deutschlands mit Partnern in Asien bzw. dem Indo-Pazifik sind hingegen, mit Ausnahme der deutsch-chi­nesischen strategischen Partnerschaft,10 bislang kaum erforscht. Generell bleibt so die Debatte um Wertepartner im Indo-Pazifik nebulös und schwer fassbar.

Hier setzt die vorliegende Studie an. Sie geht drei eng miteinander verbundenen Forschungsfragen nach. Erstens: Welche Staaten werden von deutscher Seite als Wertepartner bezeichnet bzw. welche bilate­ralen Beziehungen zu Staaten in der Region werden als Wertepartnerschaften verstanden? Zweitens: Wel­che Normen und Werte sind für die Wertepartner­schaf­ten im Indo-Pazifik zentral? Und drittens: Wie unterscheiden sich (konzeptionell und in der Praxis) die sogenannten Wertepartnerschaften von »normalen« bilateralen Beziehungen zu Staaten der Region? Der Untersuchungszeitraum umfasst die Jahre von 2020, dem Jahr, in dem der Begriff »Indo-Pazifik« Einzug hielt in den offiziellen Sprachgebrauch (bis dato wurde von »Asien-Pazifik« gesprochen), bis 2022.

Obwohl der Begriff »Wertepartnerschaften« mit Bezug auf den Indo-Pazifik erst seit einigen Jahren Verwendung findet, wird in der Studie davon aus­gegangen, dass die Wertepartnerschaften an sich auf einer angenommenen Wertekonvergenz beruhen, die bereits in der Vergangenheit Bestand hatte und gewissermaßen das historische Fundament bildet, auf dem nunmehr die Klassifizierung als Werte­partner erfolgt. (Andernfalls würde die Zuschreibung mit primär trans­formatorischen Annahmen verbunden; das heißt, es würde davon ausgegangen, dass die Charakterisierung als Werte­partner in der Zukunft zu liberaler Transformation beim Wertepartner führte und darüber letztlich mittel- oder langfristig eine Wertekonvergenz bewirkt würde.)

Da es sich bei dem Begriff »Wertepartner« bzw. »Wertepartnerschaft« in erster Linie um eine poli­ti­sche Zuschreibung handelt, vorgenommen von poli­ti­schen Entscheidungsträgern und ‑trägerinnen, und weniger um ein feststehendes Konzept oder um eine analytische Kategorie, geht diese Studie induktiv vor. In einem ersten Analyseschritt sollen die Werte­part­ner im Indo-Pazifik identifiziert werden. Dies ge­schieht mit Hilfe eines umfangreichen Dokumentenkorpus aus Strategiepapieren und anderen offiziellen Doku­menten, aus Transkriptionen von Parlaments­debatten und Pressekonferenzen sowie Medien­inter­views. Im zweiten Schritt werden die im Zusammenhang mit den Wertepartnern bzw. Wertepartnerschaften im Indo-Pazifik am häufigsten aufgeführten Normen und Werte ermittelt, und zwar durch eine qualitative Inhalts­analyse des Dokumentenkorpus. Weil die Werte und Normen fast nie erschöpfend auf­gelistet werden, sollen aus der Salienz bestimmter Attribute wesent­liche Rückschlüsse auf das normative Fundament von Wertepartnerschaften gezogen wer­den. Je häufiger also Attribute wie »Demokratie / demo­kratisch« oder »Rechts­staat / Rechts­staatlichkeit« im politischen Dis­kurs Erwähnung finden, desto wichtiger erscheint, ob der höheren Salienz, diese Attribution als Teil der nor­mativen Basis der Wertepartnerschaften.

Im dritten Schritt schließlich werden auf Grund­lage der identifizierten Attribute von Wertepartnerschaf­ten Politikbereiche ausgemacht, die als bedeutsam für die internationale Kooperation mit Werte­partnern gelten können. Für diese Politikfelder wird anhand eines Vergleichs zwischen acht der ge­nann­ten Werte­partner und einer gleich großen Kont­roll­gruppe von Nicht-Wertepartnern11 untersucht, ob sich die ange­nommene Wertekongruenz darstellen lässt und ob sich hinsichtlich dieser angenommenen Wertekongru­enz Unterschiede in der Kooperation Deutschlands mit Wertepartnern und Nicht-Werte­partnern nach­zeichnen lassen.

Wertepartnerschaften als eine Form von Sonderbeziehungen in der internationalen Politik

Der Begriff »Sonderbeziehung« (special relationship) wird auf diplomati­scher Ebene seit Jahrzehnten häufig gebraucht, um bilaterale Bezie­hungen in der internationalen Politik zu charakterisieren. Er geht zurück auf Winston Churchill, der die intensiven Beziehungen zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich 1946 als »special relationship« bezeichnete und dies mit ihren engen historischen, kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und insbesondere mili­tä­rischen Verbindungen begründete.12 Seitdem haben politische Entscheidungs­träger und ‑trägerinnen ebenso wie Personen aus der Wissenschaft den Begriff ver­wendet, um eine Vielzahl bilateraler Beziehungen zu beschreiben oder zu analysieren. Neben den Bezie­hungen zwischen Washington und London wurden unter anderem auch die französisch-deutschen, israe­lisch-deutschen, polnisch-deutschen sowie die ameri­ka­nisch-australischen als Son­derbeziehungen gekennzeichnet. Die Popularität dieses Konzepts steht jedoch zumindest teilweise im Widerspruch zu seiner man­geln­den analytischen und definitorischen Klarheit. Zwar ist gemeinhin festzustellen, dass Sonderbeziehungen

  • (fast) immer bilaterale Beziehungen zwischen Staaten bzw. staatlichen Entitäten umfassen,

  • einen partikularistischen und exklusiven Charakter besitzen, womit sie die formelle, qua Völkerrecht kodifizierte Gleichheit aller Staaten aufheben,

  • fast durchweg als positives Attribut verstanden werden sowie

  • oftmals als dauerhafter, stabiler Gegenpol zu temporären Ad-hoc-Partnerschaften gedeutet werden, und zwar sowohl von den Partnern selbst als auch von Dritten.13

Zudem wird argumentiert, dass Sonderbeziehungen sich von »normalen« bilateralen Beziehungen dadurch unterscheiden, dass Erstere nicht allein auf geteilten politischen und wirtschaftlichen, materiellen Interessen basieren. Sie fußten zusätzlich auf einer gemeinsamen Wertebasis.14 Weithin vorherrschend ist hierbei die Annahme, der Regimetypus (Demokratie) sei konstitutiv für die Formierung und den Fortbestand einer Sonderbeziehung. Aber auch diese Argumentation wirft mehr Fragen auf, als sie Antworten liefert: Denn eine reine, völlig utilitaris­tische Interessenpolitik kommt in der Realität selten vor. Und die Bedeutung demokratischer Governance für die Entstehung von Sonder­beziehungen ist durch vergleichende Forschungsarbeiten in Frage gestellt worden, die belegen, dass sowohl demokratische als auch autoritäre Staaten Sonderbeziehungen ein­gehen: »[…] die Etablierung und der Fortbestand von Sonderbeziehungen zwischen Staaten [kann] nicht eindeutig auf die Komplementarität des Regimetypus zurückgeführt werden«.15

Vielmehr legen systematisch erhobene Befunde nahe, dass eine Kombination von »materiellen Ziel­setzungen« und »ideellen Überzeugungen« Regierungen dazu veranlasst, Sonderbeziehungen anzustreben oder zu erhalten. Ungeklärt ist in der Forschung allerdings weiterhin,

  • welche Rolle der Regimetyp bei der Formierung von Sonderbeziehungen spielt,

  • in welchem Verhältnis materielle Zielsetzungen und ideelle Überzeugungen zueinander stehen,

  • welche Bedeutung die Anerkennung einer bilate­ralen Beziehung als »Sonderbeziehung« durch Drittstaaten hat und

  • welche Faktoren einen Wandel (bzw. gar eine Terminierung) von Sonderbeziehungen erklären können.16

Daher kommen selbst einschlägige Fachpublikatio­nen zu dem Schluss, dass das Konzept »Sonderbeziehungen« bislang in den internationalen Beziehungen in definitorischer Hinsicht sehr vage bleibt und sein analytischer Nutzen in vieler­lei Hinsicht als fragwürdig einzuschätzen ist. Wenn der Begriff als analytische Kategorie verwendet wird, dann werden Deutungs­muster und Definitionen zumeist direkt aus den Darstellungen politischer Akteure übernommen.17 Mehr noch, der Begriff wird mittlerweile für die Beschreibung einer Vielzahl sehr unterschiedlicher bilateraler Beziehungen gebraucht – von den bri­tisch-amerikanischen18 über die deutsch-chine­si­schen19 bis hin zu den chinesisch-äthiopischen.20

»Wertepartnerschaften« sind vor allem eine Kategorie der politischen Praxis und weniger eine analytische Kategorie.

Hinzu kommt, dass unter dem Oberbegriff »Sonder­beziehungen« Begriffe wie »strategische Partnerschaft«21 und »Wertepartnerschaft« subsumiert wer­den und somit als Teil einer (wachsenden) Familie an Sonderbeziehungen in der internationalen Politik verortbar sind. »Strategische Partnerschaften« und »Wertepartner­schaften« werden in der politischen Praxis zudem mit sehr ähnlichen Attributen versehen und die beiden Begriffe teils sogar synonym verwendet. Im Gegensatz zur konzeptionellen Vagheit wird in der außenpolitischen Praxis von »Sonder­beziehungen«, »strategischen Partnerschaften« und »Wertepartnerschaften« in einer Art und Weise gesprochen, die zumindest suggeriert, es handele sich hierbei um feststehende, klar defi­nierte Begriffe.

Wenn man aber alle möglichen bilateralen Beziehungen allein durch den Umstand, dass sie von offi­zieller Seite als Sonderbeziehung tituliert werden, gleichsam auch analytisch als solche betrachtet, stellt dies den Nutzen einer derartig weiten und offe­nen ana­ly­tischen Kategorie in Frage: »If special relation­ships are everywhere, then they are nowhere.«22 Einige Be­ob­achter stellen den Begriff »Sonderbeziehungen« des­halb generell als »Mythos« dar.23

All dies macht eine deduktive Annäherung an das Thema Wertepartnerschaften schwierig. Trotzdem ist der Begriff derzeit aus der politischen Praxis nicht wegzudenken, so dass eine Nichtbeschäftigung allein aufgrund konzeptioneller Unklarheiten keine Alter­native ist. »Sonderbeziehungen«, inklusive »Wertepartnerschaften«, so die Grundannahme dieser Unter­suchung, sind in erster Linie eine Kategorie der poli­ti­schen Praxis und weniger eine analytische Kategorie.

Werte und Wertepartner im Indo-Pazifik

Wertepartner

In den 2020 veröffentlichten Leitlinien für den Indo-Pazifik werden explizit Singapur, Australien, Japan und Südkorea als Wertepartner Deutschlands auf­geführt. Im Koalitionsvertrag von 2021 werden Aust­ra­lien, Japan, Neuseeland und Südkorea als Wertepartner genannt.24 Deutsche Regierungsvertreter und ‑vertreterinnen haben zudem in den letzten Jahren auch die Mongolei,25 Indien,26 Taiwan27 und Indonesien28 öffentlich als Wertepartner bezeichnet. Der Begriff wird dabei vom Kanzleramt über unter­schiedliche Ministerien bis hin zum Bundestag ver­wendet. Daraus ergibt sich eine Liste von neun Akteuren in der Region, die deutsche Offizielle seit Einzug des Begriffs »Indo-Pazifik« als Wertepartner klassifiziert haben: Australien, Indien, Indonesien, Japan, die Mongolei, Neuseeland, Singapur, Südkorea und Taiwan. Die kumulative Auflistung ist hier nötig gewesen, da es in offiziellen Strategiepapieren wie den Indo-Pazifik-Leitlinien keine erschöpfende Auf­zählung der regionalen Wertepartner gibt.

Während dem Dreiklang aus »Demokratie, Rechtsstaat und Menschen­rechten«29 als normativer Grund­lage einer »wertebasierten«30 Außenpolitik offenbar große Bedeutung beigemessen wird, sprechen die Indo-Pazifik-Leitlinien explizit von »Demokratien und Wertepartnern«.31 Daraus lässt sich im Gegenzug zunächst ableiten, dass Wertepartner nicht zwangsläufig immer Demokratien sein müssen. Allerdings werden alle neun als Wertepartner im Indo-Pazifik klassifizierten Staaten in den gängigen Indizes auch als Demokratien eingestuft (siehe Seite 18ff). Ebenso gelten alle neun als relativ liberale Volkswirtschaften. In diesem Zusammenhang darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass sich die genannten Staaten in einem äußerst weiten Spektrum bewegen, was die Qualität demokratischer Regierungsführung sowie Markt­libera­lismus angeht. Daraus wiederum kann man schließen, dass die Zuschreibung als Wertepartner einigermaßen statisch erfolgt. Mit Blick auf den offi­ziellen Diskurs ist nämlich nicht ersichtlich, dass etwa innenpolitische Veränderungen wie demokratische Regression oder die systematische Verletzung von Menschen- oder Bürgerrechten notwendigerweise eine Veränderung des Status als Wertepartner nach sich ziehen. Die Bandbreite der »Qualität« demokratischer Regime, die offiziell als Wertepartner fungieren, stützt diese Annahme.

Nichtsdestotrotz lässt die aktuelle Auswahl der Wertepartner die Schlussfolgerung zu, dass die impli­zierten fundamentalen Werte und Normen zunächst dezidiert demokratischer wie liberaler Natur sind. Äußerungen von Mitgliedern der Bundesregierung bekräftigen diese Folgerung: Beispielsweise ist Indien, als Wertepartner Deutschlands, »aufstrebende Wirt­schaftsmacht und gefestigte Demokratie«.32 Und die Partnerschaft mit Japan »trägt gerade in schwierigen Zeiten, weil sie auf gemeinsamen Werten beruht«. Dazu gehört vor allem das gemeinsame Eintreten Deutschlands und Japans »für Freiheit, Offenheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie«. »Offenheit« wird in diesem Kontext überwiegend als »offene Volks­wirtschaften« verstanden.33

Zugrunde liegende Werte

Die systematische Analyse des Inhalts offizieller Dokumente im Hin­blick auf die zentralen Attribute, die zur Beschreibung von Wertepartner­schaften be­nutzt werden, stützt die zuvor angesprochenen anek­dotischen Beobach­tungen indes nur teilweise. Denn es fällt auf, dass die am häufigsten vorge­nom­mene Attribution eines gemeinsamen bzw. geteilten Wertes im Zusammen­hang mit einer Wertepartnerschaft das gemeinsame bzw. geteilte Streben für den Erhalt oder die Verteidigung der regelbasierten internationalen Ordnung ist. In fast 80 Prozent der insgesamt 38 ana­lysierten Dokumente wird im Zusammenhang mit Werte­partnerschaften im Indo-Pazifik das Attribut »Erhalt« bzw. »Verteidigung der regelbasierten inter­nationalen Ordnung« verwendet (siehe Tabelle 1, Seite 13). Zum Beispiel verwies Bundeskanzler Scholz darauf bei einer Pressekonferenz in Tokio: »Deutschland und Japan stehen Seite an Seite bei der Vertei­digung der regelbasierten internationalen Ordnung, bei der Auf­rechterhaltung der Grundprinzipien der UN-Charta und in unserem Einsatz für die universellen Menschen­rechte.«34

* Insgesamt wurden 38 Dokumente untersucht.
 Quelle: Eigene Zusammenstellung des Autors.

Tabelle 1 Attribute (Häufigkeit der Nennung) von Wertepartnerschaften im Indo-Pazifik

Attribut

Nennung in Dokumenten*

Prozent

Ordnung

30

78,95

Sicherheit

20

52,63

Wirtschaft

18

47,37

Demokratie

17

44,74

Forschung, Bildung

10

26,32

Technologie

9

23,68

Klima, Umwelt

8

21,05

Rechtsstaatlichkeit

7

18,42

Menschenrechte

7

18,42

Diese Attribution wird in einigen Fällen zusätzlich mit dem Adjektiv »liberal« versehen, das heißt, es ist von der »liberalen regelbasierten internationalen Ord­nung« die Rede – jedoch nicht immer. Daher bleibt unklar, was genau als normatives Fundament der erwähnten regelbasierten internationalen Ordnung angesehen wird: das Völkerrecht, basierend auf der souveränen Gleichheit aller Mitgliedstaaten der Ver­ein­ten Nationen (VN), oder liberalere Interpretationen einer regelbasierten Ordnung, die den Schutz indivi­du­eller Freiheits- und Menschenrechte stärker beto­nen. Offizielle Strategiepapiere wie die Nationale Sicherheitsstrategie bieten ebenfalls keine Klärung, da hier die internationale Ordnung gleichsam als auf zweier­lei Grundlagen fußend dargestellt wird: zum einen auf dem »Völkerrecht und der Charta der Vereinten Nationen«,35 zum anderen auf »freien Entfaltungsmöglichkeiten für alle Menschen, wie in der Allge­mei­nen Erklärung der Menschenrechte beschrieben«.36 In jedem Fall aber macht die Inhaltsanalyse deutlich, dass zumindest in puncto Salienz Attribute wie »Demokratie / Regierungsform«, »Rechtsstaatlichkeit« oder »Menschenrechte« viel weniger häufig Verwendung finden als etwa der »Erhalt« bzw. die »Verteidigung der regelbasierten internationalen Ordnung«.

Am zweithäufigsten, in über 50 Prozent der untersuchten Dokumente, werden »regionale Sicherheit« bzw. »regionale Stabilität im Indo-Pazifik« attribuiert. Beispielsweise nennen die Indo-Pazifik-Leitlinien »die cybersicher­heits­politische Zusammenarbeit und den Dialog mit Wertepartnern der Region (u. a. Singapur, Australien, Japan, Südkorea)«, die unter anderem zum Ziel haben, »den Schutz der eigenen Informations- und Kommunikationssysteme, die kollektive Verteidi­gungs­fähigkeit und Resilienz gegenüber wachsenden Bedro­hungen im Cyber- und Informationsraum zu stärken«.37

Am dritthäufigsten ist das Attribut »offene Märkte« bzw. »freie Markt­wirtschaft« anzutreffen. Zum Bei­spiel bezeichnete die ehemalige Verteidigungsministe­rin Annegret Kramp-Karrenbauer die Entsendung der Fregatte »Bayern« in den Indo-Pazifik als »ein klares Zeichen für freie Handelswege« – ein Symbol, »das insbesondere von unseren Partnern im Indo-Pazifik, die die gleichen Werte teilen wie wir, sehr wohl wahr­genommen wird«.38 Dieses Attribut wird oft ver­knüpft mit der Darstellung Deutschlands als »Handels­nation«. So heißt es in den Indo-Pazifik-Leitlinien: »Als global agierende Handelsnation und Verfechter einer regel­basierten internationalen Ord­nung hat Deutschland – eingebettet in die Europäische Union – ein hohes Inter­esse, an den Wachstumsdynamiken Asiens zu partizipieren und an der Gestaltung des Indo-Pazifiks sowie der Umsetzung globaler Normen in regionalen Strukturen mitzu­wirken.«39

Erst an vierter Stelle kommt das Attribut »Demokratie« ins Spiel. »Menschenrechte« und »Rechtsstaatlichkeit« werden noch deutlich seltener ins Feld ge­führt: Sie werden in weniger als 20 Prozent der unter­suchten Dokumente thematisiert und bilden damit das Schluss­licht.

* Insgesamt wurden 38 Dokumente untersucht. Quelle: Eigene Zusammenstellung des Autors.

Tabelle 2 Attribute (gemeinsame Nennung) von Wertepartnerschaften im Indo-Pazifik*

Attribut

Ordnung

Sicherheit

Wirtschaft

Demo­kratie

Forschung, Bildung

Techno­logie

Klima,
Umwelt

Rechtsstaat­lichkeit

Menschen­rechte

Ordnung

0

18

14

14

7

8

7

7

5

Sicherheit

18

0

6

8

2

3

3

3

2

Wirtschaft

14

6

0

10

8

9

8

3

6

Demokratie

14

8

10

0

5

4

4

5

5

Forschung, Bildung

7

2

8

5

0

4

1

0

4

Technologie

8

3

9

4

4

0

6

2

2

Klima, Umwelt

7

3

8

4

1

6

0

2

2

Rechtsstaatlichkeit

7

3

3

5

0

2

2

0

0

Menschen­rechte

5

2

6

5

4

2

2

0

0

Analysiert man Mehrfachnennungen von Attributen im Zusammenhang mit Wertepartnern bzw. Wertepartnerschaften im Indo-Pazifik, zeigt sich, dass »internationale Ordnung« und »Sicherheit« am häu­figsten miteinander kombiniert werden. Am zweit­häufigsten ist die Kombination »internationale Ord­nung« und »Wirtschaft«, gleichauf mit »internationale Ordnung« und »Demokratie« (siehe Tabelle 2, Seite 14). Zent­rale Attribute, allein oder in Kombination, die im deutschen Diskurs zum Indo-Pazifik den Wertepartnern sowie der Kooperation mit diesen zugeschrieben werden, sind somit nur bedingt deckungsgleich mit dem erwartbaren Dreiklang aus Demokratie, Menschen­rechten und Rechtsstaatlichkeit. Statt dass sie auf nor­mative Governance-Aspekte abheben, handelt es sich oft um Attribute, die auf das zu erwartende inter­natio­nale Verhalten dieser Partner verweisen – bei­spiels­weise hinsichtlich des Erhalts der regelbasierten internationalen Ordnung.

Des Weiteren wird offenbar, dass im Verständnis der Mehrheit der untersuchten deutschen außenpolitischen Akteure diese Motive und Ziele auf allgemeiner Ebene vor allem defensiver Natur sind. Es geht um die Abwehr von Bedrohungen und Herausforderungen, den Schutz im Verbund mit Wertepartnern. Die Bedrohungen und Herausforderungen umfassen die Gefährdung von Frieden und internationaler Stabilität, eine drohende Fragmentierung der regel­basierten internationalen Ordnung, aber ebenso die Unsicherheit im Cyberspace (insbesondere Desinformationskampagnen im Internet), den wachsenden Einfluss autoritärer Staaten sowie den Klimawandel. All dem soll sich Deutschland, so die inhärente An­nahme, durch Wertepartnerschaften strategisch besser entge­gen­stellen können.

Internationale Kooperation und Wertepartner im Indo-Pazifik

Die Art und Weise, wie der Begriff »Wertepartnerschaft« laut vorstehender Analyse verwendet wird, wird dazu genutzt bzw. dient dazu, eine besondere Beziehung, eine besondere Verbundenheit mit einem oder mehreren Wertepartnern darzustellen, beruhend auf gemeinsamen Normen und Werten. Der Begriff wird damit ausschließlich positiv konnotiert ge­braucht. Hierbei ist implizit immer auch die Ab­gren­zung zur Gruppe der Nicht-Wertepartner relevant. Diese stehen entweder ursächlich hinter den genannten Herausforderungen (z. B. indem sie die regelbasierte inter­natio­nale Ordnung in Frage stellen) oder sie eignen sich nicht in vergleichbarem Maße wie Wertepartner für Kooperationen.

Die verwendeten Attribute sind zudem mehr als eine reine Beschreibung einer Sonderbeziehung auf Grundlage postulierter gemeinsamer Werte. In fast allen untersuchten Quellen verweisen sie überdies auf außenpolitische Motive und angenommene geteilte strategische Ziele der Wertepartner. Zumindest im­plizit kann man deshalb davon ausgehen, dass bei den handelnden Akteuren die Vorstellung präsent ist, mittels Schließung einer Wertepartnerschaft und auf der Basis einer postulierten Wertekongruenz ließen sich diese außen­politischen Motive bzw. Ziele besser verfolgen. Die Akteure nehmen also an, die spezifischen Werte, die die Grundlage der Wertepartnerschaft bilden (sollen), stünden in einem Zusammenhang mit dem, was die deutsche Außenpolitik errei­chen will. Daher sei Ziel und Zweck von Werte­part­nerschaften mindestens, die postulierten gemein­samen Werte durch die Kooperation mit Werte­part­nern international zu bewahren oder gar zu stärken.

Auf den ersten Blick entspricht diese Annahme der Realität, betrachtet man etwa den Institutionalisierungs­grad der bilateralen Beziehungen mit einigen (obgleich nicht mit allen) sogenannten Wertepartnern Deutschlands: Beispielsweise unterhält Berlin Regie­rungskonsultationen mit den USA, Frankreich, den Niederlanden und Indien. Allerdings auch mit Nicht-Wertepartnern wie China, was die Aussagekraft des Grades der Institutionalisierung bilateraler Beziehungen wiederum schmälert.

In der Folge wird anhand der fünf Interessenfelder Schutz der regelbasierten internationalen Ordnung, freier Handel / offene Märkte, demokratisches Regie­ren, Rechtsstaatlichkeit sowie internationale Menschen­rechtsnormen überprüft, inwiefern die oben genann­ten Annahmen begründet sind. Dies geschieht mit Hilfe eines Vergleichs zwischen einer acht Länder umfassenden Experimentalgruppe aus den identifizierten Wertepartnern im Indo-Pazifik und einer gleich großen Kontrollgruppe von regionalen Nicht-Werte­partnern.

Regelbasierte internationale Ordnung

Im Zusammenhang mit der Bedeutung von Wertepartner­schaften im Indo-Pazifik äußern deutsche Offizielle immer wieder das Ziel, die regelbasierte internationale Ordnung zu erhalten und die multi­laterale Kooperation zu stärken. Mit Blick auf den Stellenwert dieser Ziele war 2022 sicherlich die völkerrechtswidrige Inva­sion Russlands in die Ukra­ine das zentrale Ereignis. Als Reaktion auf den rus­sischen Angriffskrieg gegen die Ukraine unterstützte Deutschland 2022 fünf verschiedene Resolutionen, über die im Rahmen der VN-Generalversammlung in New York abgestimmt wurde. Deutschland stimmte bei allen Resolutionen mit Ja. Das Abstimmungs­verhalten der acht indopazifischen Wertepartner bei den fünf Resolutionen ist, wenngleich keines der acht Länder gegen eine der von Deutschland unterstützten Resolutionen votierte, durchaus heterogener, als das Label »Wertepartner« vermuten lässt (siehe Tabelle 3, Seite 16).

Tabelle 3 Abstimmungsverhalten in der VN-Generalversammlung zur russischen Invasion in die Ukraine, 2022

Land

Resolution
A/RES/ES-11/1,
Draft Resolution
A/ES-11/L.1
A/ES-11/L.1/Add.1,
2.3.2022

Resolution
A/RES/ES-11/2,
Draft Resolution
A/ES-11/L.2
A/ES-11/L.2/Add.1,
24.3.2022

Resolution
A/RES/ES-11/3,
Draft Resolution
A/ES-11/L.4
A/ES-11/L.4/Add.1,
7.4.2022

Resolution
A/RES/ES-11/4,
Draft Resolution
A/ES-11/L.5,
12.10.2022

Resolution
A/RES/ES-11/5,
Draft Resolution
A/ES-11/L.6,
14.11.2022

Wertepartner

Australien

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

Indien

Enthaltung

Enthaltung

Enthaltung

Enthaltung

Enthaltung

Indonesien

Ja

Ja

Enthaltung

Ja

Ja

Japan

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

Mongolei

Enthaltung

Enthaltung

Enthaltung

Enthaltung

Enthaltung

Neuseeland

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

Singapur

Ja

Ja

Enthaltung

Ja

Ja

Südkorea

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

Deutschland
(zum Vergleich)

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

Nicht-Wertepartner (Kontrollgruppe)

Bangladesch

Enthaltung

Ja

Enthaltung

Ja

Enthaltung

China

Enthaltung

Enthaltung

Nein

Enthaltung

Nein

Fidschi

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

Kambodscha

Ja

Ja

Enthaltung

Ja

Enthaltung

Malaysia

Ja

Ja

Enthaltung

Ja

Enthaltung

Sri Lanka

Enthaltung

Enthaltung

Enthaltung

Enthaltung

Enthaltung

Thailand

Ja

Ja

Enthaltung

Enthaltung

Enthaltung

Vietnam

Enthaltung

Enthaltung

Nein

Enthaltung

Enthaltung

United Nations (UN) Digital Library, »Voting Data«, <https://digitallibrary.un.org/search?cc=Voting+Data&ln=en&c=Voting+Data>.

Zunächst fällt auf, dass sich Indien und die Mongolei bei allen fünf Resolutionen enthielten. Namentlich die Weigerung Indiens, mit Ja zu stimmen, löste sowohl in deutschen diplomatischen Kreisen als auch in der deutschen Presse Verwunderung und Kritik aus, vor allem im Kontext der ersten Resolution: Ver­wunderung über die Enthaltung Neu Delhis bei einer Resolution, die von fast allen anderen Demokratien der Welt offen unterstützt wurde und die Indien als größte Demokratie der Welt doch quasi »naturgemäß« hätte mittragen müssen. Die Kritik bezog sich auf die indische Positionierung in den VN, die in der Wahr­nehmung deutscher Beobachter vornehmlich auf in­di­schen Partikular­inter­essen fußte, das heißt ins­beson­dere Waffen- und Energielieferungen aus Russ­land.40

Bei der Kontrollgruppe der Nicht-Wertepartner ist das Abstimmungsverhalten ebenfalls heterogen. Fidschi, Kambodscha oder Malaysia werden zwar nicht als Wertepartner klassifiziert, unterscheiden sich in ihrem Abstimmungsverhalten aber nicht grundlegend von dem der Wertepartner Indonesien oder Singapur. Sie liegen sogar näher an der deutschen Position als die Wertepartner Indien und Mon­go­lei. Kambodscha gehörte zusammen mit Deutschland und anderen Staaten zu den Initiatoren der VN-Resolution A/RES/ES-11/4. Andere Länder wie China oder Vietnam sind jedoch in ihrem Abstimmungs­verhalten erwartungsgemäß weit von der Positionierung Deutschlands entfernt.

Tabelle 4 EU-Freihandelsabkommen mit Wertepartnern und Nicht-Wertepartnern

Land

Abkommen

Status

Datum

Wertepartner

Australien

EU–Australia Free Trade Agreement

Verhandlungen 2023 ausgesetzt

Seit 2018

Indien

EU–India Free Trade Agreement

In Verhandlung

Seit 2022 (Wiederaufnahme)

Indonesien

EU–Indonesia Free Trade Agreement

In Verhandlung

Seit 2016

Japan

EU–Japan Economic Partnership Agreement

Ratifiziert

2019

Mongolei

Neuseeland

EU–New Zealand Trade Agreement

Unterzeichnet

2022

Singapur

EU–Singapore Free Trade Agreement

Ratifiziert

2019

Südkorea

EU–Republic of Korea Free Trade Agreement

Ratifiziert

2015

Nicht-Wertepartner (Kontrollgruppe)

Bangladesch

China

Comprehensive Agreement on Investment

Ausverhandelt, aber nicht unterzeichnet und ratifiziert

2020

Fidschi

Kambodscha

Malaysia

EU–Malaysia Free Trade Agreement

Verhandlungen 2012 ausgesetzt

Seit 2010

Sri Lanka

Thailand

EU–Thailand Free Trade Agreement

In Verhandlung

Seit 2013

Vietnam

EU–Vietnam Free Trade Agreement

Ratifiziert

2020

Quellen: European Commission, »Negotiations and Agreements«, <https://policy.trade.ec.europa.eu/eu-trade-relationships-country-and-region/negotiations-and-agreements_en>; dies., »EU Trade by Country/Region«, <https://policy.trade.ec.europa. eu/eu-trade-relationships-country-and-region/countries-and-regions_en>; dies., »Free Trade Agreements«, <https://trade.ec. europa.eu/access-to-markets/en/content/free-trade-agreements>.

Freier Handel, offene Volkswirtschaften

Um die deutsche (und europäische) wirtschaftliche Abhängigkeit von China zu reduzieren, wird regel­mäßig eine »Freihandelsinitiative« angemahnt, die »nur transatlantisch und in Kombination mit unseren Wertepartnern im [Indo-]Pazifik Sinn macht« und die dazu führen soll, dass der Handel und das Investitions­volumen mit »marktwirt­schaftlichen Demo­kratien« ausgebaut werden.41 Ein zentrales Instrument hierfür ist der Abschluss von Freihandelsabkommen zwi­schen der EU und Wertepartnern im Indo-Pazifik.42

Für diese Gruppe ergibt sich ein relativ homogenes Bild: Die Liste abgeschlossener wie geplanter EU-Frei­handelsabkommen mit Wertepartnern im Indo-Pazi­fik zeigt, dass nur mit der Mongolei bisher keins an­ge­strebt wird (siehe Tabelle 4, Seite 17). Vier Werte­part­ner haben bereits Freihandelsabkommen mit der EU unterzeichnet bzw. ratifiziert (Japan, Neuseeland,43 Singapur und Südkorea), andere befinden sich in Ver­handlungen darüber (Indien, Indonesien). Die Ver­hand­lungen mit Australien wurden allerdings im Herbst 2023 erfolglos abgebrochen und liegen seit­dem auf Eis.

Zudem gibt es mit Vietnam und der VR China auch in der Kontrollgruppe wichtige Akteure, die erfolgreich Freihandelsabkommen mit der EU ausverhandelt haben – im Falle Chinas hat jedoch von euro­päischer Seite die Ratifizierung bislang nicht statt­gefunden. Die Verhandlungen mit Thailand dauern noch an.

Demokratisches Regieren

Im Bereich demokratisches Regieren ist der Unterschied zwischen Werte­partnern und Nicht-Werte­partnern recht deutlich erkennbar. Die Übersicht in Tabelle 5 (Seite 19) zeigt, wie die Wertepartner in den gängigen Demo­kratie­indizes eingestuft werden. Zwar sind dies abstrakt vorgenommene Bewertungen, die scheinbar wenig Konkretes zur tatsächlichen Qualität der Regie­rungs­führung unter demokratischen Gesichts­punkten liefern. Diese Bewertungen decken sich jedoch weit­gehend mit den Berichten staatlicher wie nichtstaat­licher Organisationen zur Qualität demo­kratischer Regierungsführung in den einzelnen Län­dern. Im Democ­racy Index werden alle deutschen Wertepartner im Indo-Pazifik als Demo­kratien gelis­tet, keiner von ihnen wird als hybrides Regime zwischen Demo­kratie und Autokratie oder gar als autoritäres Regime ein­gestuft.

Allerdings werden vier Wertepartner als »flawed democracies« klassifiziert: Indien, Indonesien, die Mongolei und Singapur. Das heißt, in diesen Ländern werden zwar freie und faire Wahlen abgehalten, in Bezug auf die Rechte politischer Oppositioneller oder die Medienfreiheit zum Beispiel sind aber Einschränkungen demokratischer Teilhabe zu verzeichnen. Untermauert wird diese Einschätzung durch die Bewer­tung dieser vier Länder in den aufgeführten Frei­heits­indizes (Global Freedom Index, Human Freedom Index, Rangliste der Pressefreiheit), die kaum einen Unter­schied zur Bewertung von Nicht-Wertepartnern wie Bangladesch oder Malaysia aufweist.

Ein Blick auf die Kontrollgruppe wiederum zeigt, dass sich in den fünf ausgewählten Rankings für Malay­sia, Thailand und Sri Lanka kein signifikanter Unter­schied zu Wertepartnern wie Indien oder Indo­nesien feststellen lässt. Erstere werden beispielsweise ebenso als »flawed democracies« eingeordnet wie Letztere.

Im Übrigen besteht eine Korrelation zwischen der Klassifizierung von Werte­partnern wie Indien als »flawed democracy« und der internationalen Koope­ration dieser Länder im Bereich Demokratieförderung. So ist Indien seit Jahren ein eher zurückhaltender Partner, wenn es um regionale und globale Demo­kratieförderung geht. Die Gründe dafür liegen unter anderem darin, dass Neu Delhi unter der Regierung Modi nach innen ein immer stärker ethnisch definier­tes Verständnis von Demokratie vertritt44 und nach außen anderen Normen wie »staatlicher Souverä­nität« und »Nichteinmischung in die inneren Angelegen­heiten anderer Staaten« einen wesentlich höheren

Tabelle 5 Ranking der Wertepartner und Nicht-Wertepartner in Demokratie- und Freiheitsindizes, 2021–2022

Land

Democracy Index 2021
(Economist Intelligence Unit)

Democracy Index 2022
(Economist Intelligence Unit)

Global Freedom Index
2022 (Freedom House)

Human Freedom Index
2022 (Fraser Institute)

Rangliste der Pressefreiheit 2022 (Reporter ohne Grenzen)

Wertepartner

Australien

8,90, full democracy

8,71, full democracy

95, free

8,51, Rang 11

39, zufriedenstellend

Indien

6,91, flawed democracy

7,04, flawed democracy

66, partly free

6,30, Rang 112

150, schwierig

Indonesien

6,71, flawed democracy

6,71, flawed democracy

59, partly free

6,74, Rang 85

117, schwierig

Japan

8,15, full democracy

8,33, full democracy

96, free

8,39, Rang 16

71, erkennbare Probleme

Mongolei

6,42, flawed democracy

6,35, flawed democracy

84, free

7,62, Rang 51

90, erkennbare Probleme

Neuseeland

9,37, full democracy

9,61, full democracy

99, free

8,75, Rang 2

11, zufriedenstellend

Singapur

6,23, flawed democracy

6,22, flawed democracy

47, partly free

7,70, Rang 44

139, schwierig

Südkorea

8,16, full democracy

8,03, full democracy

83, free

8,11, Rang 30

43, zufriedenstellend

Deutschland
(zum Vergleich)

8,67, full democracy

8,97, full democracy

94, free

8,33, Rang 18

16, zufriedenstellend

Nicht-Wertepartner (Kontrollgruppe)

Bangladesch

5,99, hybrid regime

5,99, hybrid regime

39, partly free

5,51, Rang 139

162, sehr ernst

China

2,21, authoritarian regime

1,94, authoritarian regime

9, not free

5,22, Rang 152