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Weltpolitische Unwägbarkeiten: Erkundungen der Zukunft

Foresight-Beiträge 2024

SWP-Studie 2024/S 14, 07.05.2024, 50 Seiten

doi:10.18449/2024S14

  • Das 21. Jahrhundert ist durch eine Vielzahl unvermuteter Ereignisse auf internationaler Ebene geprägt. Wissenschaft und Politik sind daher gut beraten, sich mit einem breiten Spektrum an vorstellbaren Zukünften auseinanderzusetzen.

  • Foresight praktizieren wir als eine wissenschaftlich angeleitete Vorausschau, die denkbare Ereignisse und Entwicklungen in der Zukunft mit Blick auf ihre strategischen Implikationen für Deutschland und Europa antizipiert und analysiert. Die strukturierte Beschäftigung mit hypo­thetischen Situationen bereitet darauf vor, mit tatsächlich eintretenden Überraschungen umzugehen.

  • In dieser Studie werden fünf Foresight-Situationen entworfen: die Herauf­kunft eines illiberalen Europas; der Sieg Chinas im Wettlauf um das All; eine bahnbrechende Reform des UN-Sicherheitsrats; ein Bruch in Washing­tons Ukraine-Politik unter dem Einfluss eines Tech-Oligarchen; die klima­wandelbedingte Freisetzung von Krankheitserregern. Dazu kommt ein Rückblick auf ein Szenario, das 2018 entworfen wurde: die Annäherung zwischen Iran und Saudi-Arabien.

  • Zentrale Anforderungen an die Situationsschilderungen bestehen darin, dass sie plausibel und in sich konsistent sind, Relevanz für deutsche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik besitzen und Handlungsimplikationen beleuchten. Nicht maßgeblich ist dagegen die Eintrittswahrscheinlichkeit des geschilderten Szenarios.

  • Angesichts vielfältiger geopolitischer Unwägbarkeiten ist es eine lohnende Aufgabe für Bundesregierung und Bundestag, die Vorausschau-Kompe­tenz auszubauen.

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung: Warum und wie Foresight?

Lars Brozus / Miranda Böttcher

1.1 Konzeptioneller Hintergrund

1.2 Methodischer Rahmen und operative Umsetzung

1.3 Übersicht der einzelnen Beiträge

2 Die Transformation zu einem illiberalen Europa

Raphael Bossong / Nicolai von Ondarza

2.1 Eine neue politische Allianz

2.1.1 Ungebrochener Zuwachs an Wählerstimmen

2.1.2 Mutmaßlich mehrheitsfähig und weniger europaskeptisch

2.1.3 Mehr Regierungsbeteiligung auch dank Öffnung der EVP-Parteien

2.2 Neue Dominanz in den Institutionen der EU

2.3 Folgen und Genese einer illiberalen EU-Politik

2.3.1 Wirtschafts- und Handelspolitik

2.3.2 Innere Sicherheit und Migration

2.3.3 Rechtsstaatlichkeit und Schwächung des Europäischen Gerichtshofs

2.4 Auswirkungen auf die Stabilität und Handlungsfähigkeit der EU

3 China gewinnt den Wettlauf zum Mond. Weltall ohne Europa: Die Verlierer einer fragmentierten Weltraumordnung

Lisa Becker / Angela Stanzel

3.1 Wie es dazu kam

3.2 Geopolitik im umkämpften Weltraum

3.3 Fragmentierung in der Gestaltung der Weltraumordnung

3.4 Der Mond: Projektionsfläche für Weltraumgroßmächte

3.5 Ausdehnung der sino-amerikanischen Rivalität im All

3.6 Europa und Deutschland – Verlierer?

3.7 Handlungsempfehlungen

4 Frischer Wind am East River. Die Erweiterung des UN-Sicherheitsrats zieht unerwartete Reformschritte nach sich

Judith Vorrath / Lars Brozus

4.1 Der lange Weg zur Erweiterung: Ende einer unendlichen Geschichte

4.2 Der neue Sicherheitsrat

4.3 Wie der »Detailteufel« bezwungen wurde

4.4 Neue Dynamik nach der Erweiterung

4.5 Die neue deutsche UN-Politik

5 Macht ohne Legitimität: Wie ein amerikanischer  Tech-Oligarch die westliche Ukraine-Politik entgleisen lässt

Sabine Fischer / Margarete Klein / Marco Overhaus / Johannes Thimm

5.1 Die Ukraine fällt der amerikanischen Innenpolitik zum Opfer

5.2 Enter Elon Musk

5.3 Eine ungewisse Zukunft für die amerika­nische Demokratie – und für Europa

5.4 Die Einhegung nicht legitimierter Macht

6 Pathogene aus dem Permafrost. Bekämpfung einer Tierseuche mit oder ohne Russland

Michael Bayerlein / Miranda Böttcher / Bettina Rudloff / Pedro A. Villarreal

6.1 Unkooperatives Verhalten von Staaten gefährdet eine globale Reaktion

6.1.1 Freisetzung von Pathogenen durch den Klimawandel

6.1.2 Zustand der globalen Gesundheitsarchitektur

6.1.3 Globale Gesundheitsgovernance mit schwierigen Partnern

6.2 Wissenschaftliche Kooperation mit Russland trotz des Ukraine-Kriegs

6.2.1 Arktischer Rat und One-Health-Ansatz

6.2.2 Zusammenarbeit mit Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft

6.2.3 Unterstützung für den globalen Süden: Impfstoffe und Nahrungsversorgung

6.2.4 Rolle von Handel und WTO

6.2.5 Handlungsoptionen für Deutschland und die EU

7 Rückschau auf ein Foresight-Szenario 2018: »Regionalarrangement am Golf – Saudi‑Arabien und Iran einigen sich auf Einflusszonen«

Interview mit Azadeh Zamirirad und Stephan Roll

8 Anhang

8.1 Abkürzungen

8.2 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

8.2.1 Frühere Foresights der SWP

Einleitung: Warum und wie Foresight?

Lars Brozus / Miranda Böttcher

Was hätte es für Konsequenzen, wenn rechtspopulistische Parteien bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2024 deutlich erstarken würden? Welchen Einfluss könnten ultrareiche Unternehmer auf die Außen- und Sicherheitspolitik der USA gewinnen, etwa hinsichtlich der Unterstützung für die Ukraine? Wie würde die EU vor dem Hintergrund des geopoli­tischen Konflikts mit Russland zusammenarbeiten, um die Ausbreitung eines neuartigen Krankheits­erregers einzudämmen, der aus dem auftauenden Permafrostboden freigesetzt wird? Was müssten die Europäer tun, damit sie im Wettlauf zwischen China und den USA um die Erschließung des Weltalls nicht abgehängt werden? Welche Dynamik könnte eine umfassende Reform und Erweiterung des Sicherheitsrats bei den Vereinten Nationen auslösen?

Die Situationen, die in dieser Vorausschau-Studie der SWP behandelt werden, mögen mehr oder minder hypothetisch erscheinen. Warum sich dennoch damit befassen? Die internationale Politik der letzten Jahre wurde maßgeblich durch unerwartete Entwicklungen geprägt. Die Covid-Pandemie und der russische An­griffskrieg gegen die Ukraine sind nur die gravierend­sten Fälle. Wissenschaft und Politik sind deshalb gut beraten, sich mit einem brei­ten Spektrum an vorstell­baren Zukünften auseinanderzusetzen. Mit Hilfe stra­tegischer Vorausschau kön­nen wir uns besser auf den Umgang mit ungeplanten Situationen vorbereiten.1

Konzeptioneller Hintergrund

Mit der aktuellen Foresight-Publikation nimmt die SWP einen Faden wieder auf, der vor über zehn Jahren in der Studie »Ungeplant ist der Normalfall«2 entwickelt wurde: die strukturierte Auseinander­setzung mit zukünftigen Situationen in der inter­natio­nalen Politik. Foresight verstehen wir in diesem Kontext als wissenschaftlich angeleitete Vorausschau, die denkbare Ereignisse und Entwicklungen in der Zu­kunft antizipiert und analysiert, vor allem mit Blick auf ihre strategischen Implikationen für Deutschland und Europa. Es handelt sich um die Untersuchung eines fiktiven politischen Geschehens – ein Gedanken­experiment, das sich mit alternativen Annahmen über zukünftige Begebenheiten in der internatio­nalen Politik befasst.

Eine konzeptionell wichtige Unterscheidung sepa­riert Foresight von Forecasts: Bei Foresight im Sinne von Vorausschau geht es anders als bei Forecasts, also konkreten Ereignisprognosen, nicht darum, die Ein­trittswahrscheinlichkeit eines bestimmten Geschehens präzise zu benennen, sondern dessen mögliche Effekte herauszuarbeiten. Nachfolgend werden fünf Szenarien entfaltet, die mittel- bis langfristig erheb­liche Auswirkungen auf die deutsche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik haben könnten. Bun­destag und Bundesregierung sollten ihnen daher politische Aufmerksamkeit schenken. Das lohnt sich auch dann, wenn die tatsächliche Entwicklung sich nicht wie beschrieben vollziehen wird – was die Auto­rinnen und Autoren selbst nicht unbedingt erwar­ten und was ohnehin kein Bewertungskriterium für die Relevanz strategischer Vorausschau ist. Denn wie ein kursorischer Rückblick auf die internatio­nalen Beziehungen im 21. Jahrhundert zeigt, ist die Politik immer wieder von einschneidenden Ereignissen überrumpelt worden, die als wenig wahrscheinlich galten – vom 11. September 2001 über die Volksaufstände in der arabischen Welt 2011 bis zur Wahl Donald Trumps 2016 und den Überfall von Hamas auf Israel 2023.

Zwei Effekte des Durchspielens von Szenarien gilt es besonders hervorzuheben: Zum einen ist es von Vor­teil, sich mental mit Techniken vertraut zu machen, die im Fall einer unverhofft eintretenden Entwicklung helfen, die neue Lage systematisch zu bewerten. Auf diese Weise lassen sich rasch politische Handlungsoptionen konzipieren. Zum anderen schärft die Analyse einer Vielzahl von »What ifs« in der internationalen Politik den Blick für kontingente Entwicklungen. Beides bereitet auf die Auseinandersetzung mit tatsächlich eintretenden Überraschungen vor – gewissermaßen als Training für den Umgang mit der Unsicherheit, die der Zukunft inhärent ist.

Eine methodisch angeleitete Vorausschau auf alternative Entwicklungen wird auch deswegen immer wichtiger, weil Annahmen über die Zukunft ohnehin die gegenwärtige Politik prägen. Deutlich wird dies beispielsweise an der Beschäftigung mit der Frage der strategischen Autonomie Europas. Hier wird eine Antwort auf bereits sichtbare, aber vor allem auch erwartete Veränderungen gesucht. Konkret zählen dazu etwa politische Entwicklungen wie die Abwendung der USA von Europa, der Aufstieg autoritärer Mächte wie China und die militärische Aggressivität Russlands. All dies zusammengenommen führt vor Augen, wie dringend europäische Resilienz ausgebaut werden muss. Parallel dazu dauern die innereuro­päischen Kontroversen über unterschiedliche Vorstel­lungen von Form und Reform der EU fort. Unvermeid­lich werden heutige Entscheidungen und Handlun­gen daher maßgeblich von Annahmen über die Zu­kunft beeinflusst, ganz im Sinne einer »reverse cau­sality«: nicht die Diagnose der Gegenwart bestimmt die politische Zukunft, sondern Zukunftserwartungen bestimmen die Politik der Gegenwart. Das macht Fore­sight noch relevanter, denn das Spektrum vorstell­barer Zukünfte zu erweitern kann die Fähigkeit der Politik stärken, für Kontingenz zu planen.

Annahmen über die Zukunft beeinflussen nicht nur die Politik, sondern auch die Politikberatung. Daher ist es für diejenigen, die das politische Gesche­hen mit kühlem Blick analysieren und gelegentlich mit scharfer Zunge kommentieren, ebenfalls eine fruchtbare Übung, sich mit alternativen Zukunfts­entwicklungen zu befassen. Dabei kann grundsätzlich zwischen explorativen und normativen Zugängen differenziert werden. Explorative Zugänge dienen der Erkundung dessen, was sein könnte. Die Erwartungen mögen hier durchaus unterschiedlich ausfallen. Des­halb können in den Foresight-Beiträgen auch alter­native Szenarienverläufe geschildert werden, die verschiedene Entwicklungsrichtungen der vorgestellten Situation abbilden. Normative Zugänge hingegen helfen zu bestimmen, was sein sollte. Ebenso wie für politische Akteure gilt auch für Analystinnen und Analysten, dass ihre normativen Präferenzen vari­ieren können. Folgerichtig übersetzen sich divergie­rende Annahmen über die Zukunft in voneinander abweichende Handlungsempfehlungen an die Politik. Die Kombination beider Sichtweisen – explorativ wie normativ – kann alternative Wege (oder besser: Ent­wicklungspfade) aufzeigen, die sich je nach Präferenz von politisch Verantwortlichen gezielt ansteuern oder bewusst vermeiden ließen.

Methodischer Rahmen und operative Umsetzung

Viel spricht dafür, Foresight in methodischer Hinsicht als partizipativen Prozess der Gruppenkommunika­tion anzulegen. Ein kollektives Vorgehen fördert die kritische Reflexion und ermöglicht ein geteiltes Ver­ständnis von denkbaren Faktoren und Ereignissen, die in der Zukunft wirkmächtig werden könnten. Dies kann zu größerer Intersubjektivität mit Blick auf relevante Entwicklungen beitragen und dadurch das Spektrum der plausibel vorstellbaren Zukünfte erwei­tern. Individuelle Voreingenommenheit (Bias) und lineares Denken, von denen weder wissenschaftlich Analysierende noch politisch Tätige frei sind, können in einem Gruppenprozess zu Bewusstsein gebracht und thematisiert werden. So lassen sie sich in kreati­vere und instruktivere Bahnen lenken.

Foresight an der SWP basiert daher auf einem struk­turierten Gruppenprozess. Den Auftakt bildete ein institutsoffener Workshop zur Identifizierung und Diskussion potentiell relevanter Zukunftsfaktoren, die Einfluss auf die Weiterentwicklung internationaler Politik haben könnten. So wurde ein breites Spektrum an Faktoren gesammelt, die in der Zukunft strategische Wirkmächtigkeit entfalten könnten. Die gemeinsame Clusterung der Faktoren in thematischen Gruppen durch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops verdeutlichte Zusammenhänge und half dabei, besonders wichtige Faktoren bzw. Fak­torenbündel auszuwählen. Damit wurden Themen generiert, die sich in der Ausarbeitung von Foresight-Ideen niederschlugen. Teams von mindestens zwei Autorinnen und Autoren entwarfen darauf basierend Zukunftsszenarien, die sich durch einen narrativen Einstieg auszeichnen.

In einem interaktiven Präsentationsworkshop wurden die Ideen vorgestellt und diskutiert. Ziel war es, Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Exper­tisen und Perspektiven miteinander ins Gespräch zu bringen. So konnten die Autorinnen und Autoren die in ihren Skizzen niedergelegten Annahmen über zukünftige Entwicklungen präzisieren und gemeinsam mit den Workshop-Teilnehmenden reflektieren. Drei Prüfkriterien – Konsistenz, Plausibilität und Relevanz – halfen bei der Bewertung. Erstens: Kon­sistenz bezieht sich auf den argumentativen Aufbau des Szenarios. Werden die Gedanken stringent ent­wickelt? Ist die geschilderte Situation oder Entwicklung in sich schlüssig?3 Zweitens: Plausibilität zielt auf die Überzeugungskraft der Ideenskizze. Dabei geht es um eine Einschätzung, ob die geschilderte Situation eintreten könnte – nicht darum, ob sie tat­sächlich eintreten wird. Ist die Geschichte, die erzählt wird, einleuchtend? Drittens: Relevanz hebt auf die Bedeutung des Falles ab. Warum sollte sich die Politik mit der geschilderten Situation befassen? Welche Handlungsoptionen bestehen? Hier spielt auch die Originalität des geschilderten Szenarios eine gewisse Rolle, ist allerdings kein ausschlaggebendes Kriterium für die Fallauswahl. Darauf folgte die Ausarbeitung der Ideenskizzen zu den vorliegenden Foresight-Beiträ­gen. Durchlaufen haben diese eine doppelte Begutachtung, in der die drei Prüfkriterien Konsistenz, Plausibilität und Relevanz erneut an die Bei­tragsentwürfe angelegt wurden.

Ein weiteres Element, um die epistemische Güte der wissenschaftlich angeleiteten Vorausschau zu sichern, ist die Foresight-Rückschau. Sie wird als zu­sätzliche Reflexionsschleife und Merkmal der Quali­tätssicherung in den Foresight-Prozess eingebaut. Denn auch wenn Foresight keine Vorhersagen im Sin­ne eines Ereignis-Forecasts trifft, lohnt es, die eigene zu­kunftsorientierte Analyse später Revue pas­sieren zu lassen. So lässt sich aus heutiger Perspektive ein kri­tischer Blick auf frühere Überlegungen werfen. Dabei können individuelle Voreingenommenheit und Denk­strukturen bewusst gemacht werden. Diese Aus­ein­andersetzung mit den Annahmen und Erwartungen, die frühere Analysen geprägt haben, kann künf­tige Vorausschau-Prozesse weiter verbessern helfen. Daher komplettiert ein Beitrag aus der Kategorie »Fore­sight-Rückschau« die Sammelstudie.

Übersicht der einzelnen Beiträge

In den sechs Beiträgen werden unterschiedliche Ereig­nisse und Entwicklungen der internationalen Politik thematisiert. Mit einem illiberalen Europa beschäftigen sich Raphael Bossong und Nicolai von Ondarza. Sie analysieren die Konsequenzen, die ein Erfolg rechts­populistischer Parteien bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2024 für die Politik und die Institutionen der EU haben könnte. Dabei konzentrie­ren sie sich auf Gestaltungs- und Blockademöglich­keiten. Lisa Becker und Angela Stanzel nehmen sich des Themas Weltraumpolitik an. Die USA und China befinden sich in einem Wettlauf um die Erschließung und Nutzung des Alls, bei dem die Europäer den An­schluss zu verlieren drohen. Wie eine Reform des UN-Sicherheitsrats gelingen könnte, stellen Judith Vor­rath und Lars Brozus dar. Spezifisch interessiert sie die unerwartete Dynamik, die ein Durchbruch in den seit Jahrzehnten laufenden Verhandlungen für das gesamte UN-System auslösen könnte.

Sabine Fischer, Margarete Klein, Marco Overhaus und Johannes Thimm befassen sich mit dem wach­senden Einfluss ultrareicher Unternehmer auf die Außen- und Sicherheitspolitik in entwickelten Demo­kratien. Am Beispiel Elon Musk legen sie dar, wie stark dieser Einfluss die Ukrainepolitik der USA prä­gen könnte. Die Gesundheitsgefährdungen, die aus der Freisetzung von Pathogenen aus dem klima­wandelbedingt auftauenden Permafrostboden resul­tieren, stehen im Zentrum des Beitrags von Michael Bayerlein, Miranda Böttcher, Bettina Rudloff und Pedro Villarreal. Dabei geht es auch um die Hindernisse, die der notwendigen Kooperation der Staatengemeinschaft aufgrund der russischen Aggression gegen die Ukraine entgegenstehen. Der Beitrag von Stephan Roll und Azadeh Zamirirad ist eine Rück­schau auf ihren Foresight-Beitrag von 2018, in dem sie eine Annäherung zwischen Iran und Saudi-Ara­bien thematisierten.4 In Form eines Interviews beleuch­ten sie die Entwicklung, die seither ein­getreten ist, und nehmen Stellung zu Abweichungen und Bestätigungen ihrer damaligen Annahmen und Erwartungen.

Die Transformation zu einem illiberalen Europa

Raphael Bossong / Nicolai von Ondarza

Im Morgengrauen des 25. Juni 2027, wenige Stunden nach dem Ende des Euro­päischen Rates, tritt ein un­gewöhnliches Trio vor die Presse in Brüssel. Der frisch gewählte französische Präsident, die italie­nische Ministerpräsidentin und der schwedische Ministerpräsident stehen Schulter an Schulter, ihre Gesichter zeugen von der Bedeutung des Moments. Hinter ihnen weht die Flagge der Europäischen Union – ihre Sterne leuchten sanft im ersten Licht des Tages. Der französische Präsident ergreift als Erster das Wort: »Wir stehen hier, vereint, um ein neues Kapitel für Europa zu beginnen. Die Zeit ist gekommen für eine starke EU der Werte und der starken Nationen. Der Wille des europäischen Bürgers ist wieder in Brüs­sel angekommen. Wir werden Europa wieder groß machen.« Die Worte markieren den vorläufigen Höhepunkt eines Wandels in der Union und signa­lisieren eine Abkehr von den liberalen Idealen, die die EU einst prägten.

Parteien rechts der Europäischen Volkspartei (EVP) haben in den zurückliegenden Jahren zunehmend nicht nur in ihren Herkunftsländern Regierungs­verantwortung übernommen, sondern auch auf EU-Ebene im Parlament (EP), im Rat und in der Kommission Mehrheiten gewonnen. Im Zuge einer Serie von Wahlerfolgen, beginnend mit den Europawahlen 2024, hatten sie mehr und mehr Abstand genommen von dem Ziel, die europäische Integration nach dem Muster des Brexits rückabzuwickeln; stattdessen mach­ten sie sich die europäischen Institutionen und das EU-Recht zu eigen, um ihre Politik abzusichern und europaweit durchzusetzen.

Eine neue politische Allianz

Diese Entwicklung bis 2027 ergab sich schrittweise und in Kombination aus drei ineinandergreifenden Trends: erstens das kontinuierliche Erstarken rechts­populistischer und nationalkonservativer Parteien auf einzelstaatlicher wie europäischer Ebene, zweitens eine wachsende Anbindungsfähigkeit dieser Parteien und Abkehr vom harten Euroskeptizismus und drit­tens die damit verbundene Öffnung von Mitte-rechts-Parteien für eine Zusammenarbeit bis hin zur for­malen Koalitionsbildung.

Ungebrochener Zuwachs an Wählerstimmen

Anfang der 2020er Jahre war das Rechtsaußen­spektrum1 der europäischen Parteienlandschaft noch fragmentiert. Es gliederte sich in drei unterschied­liche Gruppen bzw. Fraktionen: Am moderaten Rand sammelten sich die »Europäischen Konservativen und Reformer« (EKR), die nationalkonservative Parteien um­fassten, wie etwa die polnische »Recht und Gerechtig­keit« (PiS), die »Brüder Italiens« von Giorgia Meloni oder die spanische Vox. Deutlich rechts davon zu verorten war die hart EU-skeptische und bis ins rechtsextreme Lager hineinreichende Fraktion »Iden­tität und Demokratie« (ID), der etwa die französische »Rassemblement National« von Marine Le Pen, die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) oder die Alter­native für Deutschland (AfD) angehörten. Hinzu kamen eine Reihe von rechtspopulistischen oder dem Rechtsaußenflügel zu­zurechnenden Parteien, die aus unterschiedlichen Gründen auf EU-Ebene keiner Parteienfamilie zugehörten, zum Beispiel die unga­rische Fidesz, die sich nach den Wahlen 2024 aber der EKR anschloss und diese damit zur drittgrößten Fraktion im EP machte.

Bereits seit den 2010er Jahren konnten Parteien aus diesem Spektrum größere Stimmenzuwächse erreichen. Während etwa ihr Anteil im EP 2009 noch bei 15 Prozent gelegen hatte, war er in der Legislaturperiode 2019–2024 schon auf knapp 25 Prozent gestiegen. Bei den Europawahlen 2024 erzielten Parteien rechts der EVP noch deutlichere Zugewinne. In vielen Mitgliedstaaten wurden sie – auch weil Wahlen zum EP nach wie vor primär als Gelegen­heiten zur Protestbekundung betrachtet wurden – stärkste Kraft, darunter in den EU-Gründerstaaten Belgien, Frankreich, den Niederlanden und Italien, aber auch in mehreren Staaten Nord-, Mittel- und Osteuropas.

In den Jahren 2025–2026 konnten rechtspopulistische Parteien weitere nationale Wahlerfolge in allen geographischen Regionen der EU verbuchen, zum Bei­spiel in Österreich oder bei vorgezogenen Neuwahlen in Spanien. Eine wirkliche Zäsur als Auftakt eines tief­greifenden Politikwechsels stellten aber die Präsi­dentschaftswahlen 2027 in Frankreich dar, bei denen es dem zentristischen Lager um den ausscheidenden Amtsinhaber Emmanuel Macron nicht gelungen war, eine die Wählerschaft überzeugende Person für die Nachfolge zu finden, und ein Präsident einer Rechts­außenallianz gewählt wurde.

Mutmaßlich mehrheitsfähig und weniger europaskeptisch

Mit dem Wachstum ihrer Stimmenanteile stieg der Anreiz für rechtspopulistische Parteien, einige ihrer Positionen abzuschwächen und sich als regierungs­fähig zu inszenieren. Dieser Trend war bereits seit mehreren Jahren in nationalen Koalitionsvereinbarungen zu erkennen. Schon vor den Europawahlen 2024 waren Parteien aus diesem Spektrum in knapp einer Handvoll EU-Staaten in unterschiedlicher Form an der Regierung beteiligt – als alleinige Regierungspartei mit absoluter Mehrheit (z. B. Fidesz in Ungarn), an der Spitze einer Koalitionsregierung (z. B. die »Brü­der Italiens« von Giorgia Meloni), als Junior-Partner einer Koalition (wie etwa »Die Finnen« in Finnland) oder, mit indirektem Einfluss, als Unterstützer einer Minderheitsregierung ohne direkte Regierungsbeteiligung (z. B. die »Schwedendemokraten« in Schweden).

Vorbild für weitere Regierungsbeteiligungen waren die italienische Ministerpräsidentin Meloni, deren postfaschistische »Brüder Italiens« zwar im Inneren eine nationalkonservative Politik verfolgten, auf EU- und internationaler Ebene aber zwei wichtige poli­tische Richtungswechsel vollzogen hatten: Zum einen stellten sie – auch nach den Erfahrungen des Brexits – die europäische Integration an sich nicht mehr in Frage, in Teilen forderten sie sogar mehr Integration, wenn es ihren politischen Zielen diente. In ihrem Sinne beteiligten sie sich auch aktiv und konstruktiv an der Findung von Kompromissen im EU-Rahmen, etwa in Bezug auf die Migrationspolitik. Zum anderen unterstützten sie in ihrer Außen- und Sicherheits­politik die transatlantische Allianz und stellten sich klar hinter die Ukraine. In der EU und international wurde Meloni damit zu einer ohne Abstriche akzep­tierten Bündnispartnerin.

Eine Zäsur bilden die Präsident­schaftswahlen 2027 in Frankreich, die der Kandidat einer Rechtsaußen­allianz gewinnt.

Diese Kursänderungen gingen aber notwendigerweise mit einer Differenzierung im Rechtsaußenlager einher. Denn der Richtungswechsel hin zu mehr Mäßi­gung im Auftreten gegenüber der EU vollzog sich vor allem bei den EKR-Parteien und bei Teilen der rechten Gruppierungen ohne europäische Zugehörigkeit, aber nicht oder nur begrenzt bei der ID. Auch die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Parteien der ID blieb auf europäischer Ebene sowie in den meisten EU-Mitgliedstaaten auf Seiten der Mitte-rechts-Parteien noch sehr begrenzt. So betei­ligte sich nach der Europawahl 2024 die EKR-Fraktion zunehmend an der Kompromissbildung im EP, wäh­rend die ID-Fraktion an ihrer Rolle der strikten Opposition festhielt.

Mehr Regierungsbeteiligung auch dank Öffnung der EVP-Parteien

Spiegelbildlich zu dieser Entwicklung vertiefte und verstetigte sich die Kooperation der EVP-Parteien mit Kräften des Rechtsaußenspektrums. Unter der Bedin­gung, dass die EU und ihre außenpolitischen Grund­prinzipien nicht in Zweifel gezogen würden,2 bildeten sich zwischen 2024 bis 2027 auf nationaler Ebene immer mehr formale Bündnisse zwischen Mitte-rechts- und Rechtsaußenparteien. Eine Signalwirkung für diesen Prozess hatte die nach langen Verhandlun­gen Mitte 2024 gebildete neue niederländische Regie­rung unter Beteiligung von Geert Wilders. Unter der Auflage, die EU-Mitgliedschaft der Niederlande nicht in Frage zu stellen, gingen die EVP-Mitgliedsparteien VVD und NSC eine Koalition mit Wilders ein. Wilders wurde zwar selbst nicht Ministerpräsident, aber zur entscheidenden Figur der neuen niederländischen Re­gierung. Gleichzeitig fand auch in den europäischen Öffentlichkeiten ein Prozess der Normalisierung statt: Unter dem Druck des innenpolitischen Wettbewerbs übernahmen EVP-Parteien und andere Parteien der Mitte zunehmend Positionen der Kräfte am rechten Rand und machten deren Politik damit »hoffähig«. Im Gleichschritt mit den Zugewinnen bei nationalen Wahlen wuchs so nach und nach die Zahl der EU-Mitgliedstaaten, deren Regierungen unter Beteiligung von Rechtsaußenparteien gebildet oder sogar von diesen geführt wurden.

Neue Dominanz in den Institutionen der EU

Die neue politische Allianz zwischen der EVP und Parteien rechts von ihr entwickelte den Anspruch, die Politik der EU nachhaltig zu verändern: Europa sollte weniger liberal werden und dabei den Willen seiner Bürger stärker abbilden. Die institutionellen Voraus­setzungen waren hierfür jedoch schwieriger als auf nationaler Ebene. Als konsensorientiertes politisches System ist die EU strukturell darauf ausgerichtet, nicht von einer politischen Strömung dominiert zu werden. Wegen dieser inhärenten Notwendigkeit zur Kompromissbildung zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten, EU-Institutionen und Parteien­familien hielten die meisten Beobachter eine solch grundlegende politische Wende nicht für möglich und undenkbar.

Umso größer war die Überraschung, als der Trend zu einer illiberalen EU kritische Schwellen überschritt. Bei den Europawahlen 2024 ergab sich erst­mals eine numerische Mehrheit für das Mitte-rechts- bis Rechtsaußenlager aus EVP, EKR und (Teilen) der liberalen Renew-Fraktion. Eine regelmäßige Kooperation mit der ID-Fraktion lehnten die konservativen Parteien zwar weiterhin ab; in Einzelfällen, vor allem für Blockaden ungewollter Initiativen, war sie aber auch kein Tabu mehr.3

Anders als in nationalen Parlamenten galt im EP weiterhin keine Trennung zwischen Regierung und Opposition. Je nach der anstehenden Entscheidung bildeten sich wechselnde Mehrheiten. Bis 2019 beruh­ten diese im Kern auf einer »großen Koalition« aus EVP und europäischen Sozialdemokraten (S&D). Nach den Wahlen 2019 waren in dem daraufhin fragmentierten Parlament mindestens drei Fraktionen für eine Mehrheit notwendig. In der Regel fanden sich die EVP, die S&D und Renew zusammen. Im späteren Verlauf der Legislaturperiode 2019–2024 versuchte die EVP bereits, zu bestimmten Themen Mehrheiten rechts der Mitte mit der EKR zu organisieren, bei­spiels­weise in Opposition zum Renaturierungsgesetz.

Nach den Europawahlen 2024 ergab sich für die EVP nun eine neue strategische Option. Die »Mehrheit der Mitte« aus EVP, S&D und Renew war hauch­dünn geworden. Für eine sichere Verabschiedung von Gesetzen war häufig die Unterstützung der Grünen oder gar von Parteien des Linksaußenspektrums not­wendig. Zwar wählte die EVP die Kommissionsspitze noch gemeinsam mit den Fraktionen der Mitte, die EVP-Parteien wurden aber immer unzufriedener mit den Mitte-links-Kompromissen in Anbetracht dessen, dass auf der rechten Seite des Parlaments rechnerisch eine Majorität bestand. Um ihre eigenen politischen Inhalte durchzusetzen, brachten sie daher von Fall zu Fall immer häufiger Abstimmungsgemeinschaften mit der gewachsenen EKR-Fraktion ins Spiel. Ab 2025 wurde für die EVP ein offener Bruch mit den beiden anderen Fraktionen der Mitte im EP immer attrak­tiver. Zerstritten mit der S&D in Fragen etwa der Migrations- oder Klimapolitik, kündigte die EVP zur Mitte der Legislaturperiode an, auf eine Koalition mit den Fraktionen rechts der Mitte zu setzen. Das Euro­päische Parlament, zuvor in der Regel Garant für Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und eine auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Klima- und Wirtschaftspolitik, wurde vom Bremser zum Beschleuniger des Politikwechsels.

Ein noch bedeutsamerer Wandel vollzog sich paral­lel hierzu zwischen 2024 und 2027 im Rat der EU bzw. im Europäischen Rat. Entscheidend für die poli­ti­sche Willensbildung im Rat sind drei Schwellen: Die Einstimmigkeit, bei der alle nationalen Regierungen ihren Segen geben müssen, die qualifizierte Mehrheit, bei der 55 Prozent der Regierungen, die 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren, zustimmen müs­sen, und die Blockademinderheit, zu der sich mindes­tens vier Staaten zusammenfinden müssen, die in Summe wenigstens 35 Prozent der EU‑Bevölkerung vertreten. Eine Blockademinderheit kann Gesetze zwar nur verhindern, nicht verabschieden; sie ist aber bereits ein wichtiger Baustein, um jenseits von Veto­rechten die Verhandlungen im Rat entscheidend zu prägen.

Das »Illiberal Playbook« haben die rechtspopulistischen Kräfte den institutionellen Gegebenheiten der EU angepasst.

Im Jahr 2023 erreichten die sieben Staaten, in denen rechtspopulistische Parteien an der Regierung beteiligt waren, einen Stimmenanteil von 26,9 Pro­zent im Rat, verfehlten die Blockademinderheit also knapp. Insbesondere die Abwahl der PiS-Regierung in Polen trug dazu bei, dass diese Schwelle zunächst nicht erreicht wurde. Die folgenden nationalen Wah­len bis 2027 waren ein Beleg für die Bedeutung der großen Mitgliedstaaten im System der doppelten qua­lifizierten Mehrheit: Solange es mit Italien in nur einem der großen EU-Staaten eine rechtsaußen-geführte Regierung gab, war selbst das Erreichen einer Blockade­minderheit in weiter Ferne. Dazu hätte es einer Serie von Wahlerfolgen von Rechtsaußenparteien bei den anstehenden Wahlen in kleineren Mitgliedstaaten bedurft. Gemäß dem regulären Wahlkalender wäre dies frühestens 2026 möglich gewesen.4

Die französischen Präsidentschaftswahlen 2027 bildeten dann den entscheidenden Kipp-Punkt, da Frankreich als zweitgrößter EU-Staat allein über 15,16 Prozent der Stimmrechte verfügt. Damit war den rechtspopulistischen und nationalkonservativen Kräften in Europa eine Blockademinderheit sicher. Darüber hinaus wurde sogar eine eigene aktive qua­lifizierte Mehrheit erreicht, weil zuvor in Spanien die Regierung Sanchez II gescheitert war und eine Koalition aus rechten und Rechtsaußenparteien die vorgezogenen Neuwahlen gewonnen hatte. Die beson­ders schwierige Regierungsbildung in Deutschland nach den Wahlen 2025, die unter dem Eindruck deutlich größerer Stimmenanteile für populistische Parteien stand, trug dazu bei, dass gegen das Anwach­sen des rechten Lagers kein politisches Gegengewicht mehr gebildet werden konnte. Kurzum: Gegen Deutsch­land und Frankreich zusammen (knapp 33 Prozent der EU-Bevölkerung) war praktisch keine Rechts­außenmehrheit zu organisieren, gegen Deutschland allein indes schon. Das wurde 2027 letztlich allen Beteiligten bewusst.

Folgen und Genese einer illiberalen EU-Politik

Die Folgen der Herausbildung der neuen politischen Allianz und der neuen Mehrheitsverhältnisse ent­falteten sich schrittweise je nach Themenfeld. Das »Illiberal Playbook«, an dem sich Regierungen bereits in vielen anderen außereuropäischen Staaten sowie in einigen Mitgliedstaaten orientiert hatten, wurde den institutionellen Gegebenheiten der EU angepasst. Die nun dominierenden rechtspopulistischen Kräfte fokussierten sich dabei zunächst auf die Handels- und Wirtschaftspolitik bzw. den Binnenmarkt als Kern­bereich der EU, und dies, obwohl gerade in diesem Themenfeld eine geringe Konvergenz unter ihnen herrschte. Substantiell ergab sich vor allem in der Sicherheitspolitik und der juristischen Aufsicht, das heißt im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und Gewal­tenteilung, ein nachhaltiger Schwenk weg vom Libe­ralismus und von den Grundwerten der EU.

Wirtschafts- und Handelspolitik

Mit größerem Rückhalt der Mitgliedstaaten und im EP verstärkte die EU ab Mitte 2024 ihre bereits initiierte Neuausrichtung der Handelspolitik. Beeinflusst durch protektionistische Tendenzen in den USA, legte die neue EU-Kommission ihren Fokus noch entschiedener auf die Versorgungssicherheit und den Schutz der euro­päischen Wirtschaft. Die EU richtete ihre Bemü­hungen nun dezidiert auf bilaterale Beziehungen, ins­besondere mit afrikanischen Staaten, um Lieferketten zu diversifizieren und Infrastrukturprojekte mit poli­tischen Interessen der EU zu verbinden. Ergänzend erhöhte die Union die unilateralen Schranken für den Zugang zum Binnenmarkt weiter. In den folgenden Jahren, in denen sich die Mehrheit rechts der Mitte immer weiter vergrößerte, wendete sie sich vom Leit­bild der Nachhaltigkeit mehr und mehr ab und stellte die »Fairness« – bzw. die Ermöglichung protektionistischer Maßnahmen – ins Zentrum ihrer Außenwirtschaftspolitik.

Obwohl die EU mit dieser Handelsstrategie nur sehr bescheidene Ergebnisse erzielte, beschleunigte sie ihre Abkehr vom Multilateralismus. Die sich zusehends ausweitende Blockade der WTO nahm die EU nicht nur hin, sie selbst ging mehr und mehr dazu über, Schiedssprüche nicht umzusetzen und eigene Sicherheitsinteressen geltend zu machen. Nach der fran­zösischen Präsidentschaftswahl fiel schließlich die Grundsatzentscheidung für eine Agenda, die die euro­päische Industrie schützen und aufbauen soll. Im Mehrjährigen Finanzrahmen ab 2028 werden große Förderprogramme für »europäische Champions« aufgelegt, zu denen vermehrt auch Rüstungs­unter­nehmen zählen. Gleichzeitig lockert die Union die Klimaziele und reduziert den CO2-Preis. Nach einem umfassenden »Review des Green Deals« werden wich­tige Bestandteile der Fit-For-55-Gesetzgebung ersetzt und Mittel aus Entwicklungshilfe und dem Green Deal umgewidmet. Protektionistische Maßnahmen werden auf EU-Ebene zusehends normalisiert und auf nationaler Ebene flexibel eingesetzt, um bestimmte Interessen- und Protestgruppen zu bedienen (ins­besondere im Agrarsektor).

Zur Förderung einer EU-weiten illiberalen Allianz und zur Überbrückung der anhaltenden Spannungen im rechtskonservativen Lager über die Wirtschafts­politik und die Russland-Politik (siehe dazu SWP-Aktuell 8/2024) wird Ende 2027 eine »EU-Agentur für Demographie und resiliente Entwicklung« ins Leben gerufen. Die Agentur hat die Aufgabe, die Mitgliedstaaten bei der Entwicklung von Strategien zur Stei­gerung der Geburtenrate zu unterstützen, um so »Wettbewerbsfähigkeit« und »Wohlstand« zu wahren. Unterstützt durch weitere Förderprogramme aus den EU-Kohäsionsfonds, richtet die Agentur den Fokus auf Familienpolitik und Bevölkerungswachstum. Ein erstes Modell EU-weiter harmonisierter »Tax credits« für kinderreiche Familien wird im Rahmen des Euro­päischen Semesters auf die Agenda gesetzt.

Innere Sicherheit und Migration

In der inneren Sicherheit hatten die nationalkonser­vativen und rechtspopulistischen Parteien in der Legis­laturperiode 2019–2024 sukzessive die Mei­nungs­führerschaft übernommen. Der Wahlkampf vor den Europawahlen 2024 hatte gezeigt, dass sozial­demokratische und liberale Parteien ebenfalls auf eine härtere »Law-and-order«-Politik und Abschottungsrhetorik einschwenkten. Auch mit Blick auf die außen- und geopolitischen Herausforderungen setzte sich der Trend zur Versicherheitlichung der gesamten EU-Politik dynamisch fort. Als das neue Parlament seine Arbeit aufnahm, verloren einflussreiche links­liberale und grüne Abgeordnete ihre Positionen in den entscheidenden Ausschüssen. In der Folge ver­kündete das EP eine intensive »Sicherheitspartnerschaft« mit dem Rat. Die neue EU-Kommission unter­stützte diese Entwicklung. Die neue Kommissarin für die Sicherheitsunion, die zugleich den Rang einer Vizepräsidentin innehat, wurde mit einem neuen institutionellen Unterbau ausgestattet und in der kommissionsinternen Hierarchie deutlich über ihren Kollegen im Ressort für Justiz und Rechtsstaatlichkeit gestellt.

Im Jahr 2025 kam es dank dieses neuen Konsenses zwischen den EU-Institu­tionen zum »EU Online Safety and Security Act«, einer erweiterten Version des zuvor abgelehnten Vorstoßes für eine sogenannte »Chat­kontrolle«. Bei diesem Rechtsakt ging es in erster Linie darum, das Durchbrechen der End-to-End-Verschlüs­selung auf breiter Basis zu ermöglichen. Offiziell begründet wurde die Verabschiedung des Gesetzes mit dem Kampf gegen Terrorismus und schwere Kriminalität.5

Der nächste Schritt auf dem Weg zur »Vertiefung der EU-Sicherheitsunion« bestand in neuen Richt­linien zur Regulierung von Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Organisationen, die Finanzmittel aus dem EU-Ausland erhalten, mussten diese ab 2026 offenlegen. Diese und andere Maßnahmen sollten die Einflussnahme durch »ausländische Mächte« und »hybride Taktiken« verhindern. Die Erhöhung der Strafen für Geldwäsche und eine neue EU-Agentur zur Geld­wäschebekämpfung flankierten diese Vor­schriften. Da Spender für NGOs seitdem mit einer Erfassung durch europäische Sicherheitsbehörden rechnen, geht die Unterstützung für regierungs­kritische NGOs in der gesamten EU zurück.

Der am Ende des Frühjahrs 2024 verabschiedete »Pakt« zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems scheiterte derweil in der Umsetzung. Weitere Maßnahmen zur Verfolgung von Schleuserkriminalität und neue Rechtsakte zur europäischen Ausweisung zeitigten zwischen 2025 und 2026 keine signi­fikanten Effekte der Abschreckung irregulärer Migra­tion, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Sicher­heits­lage in der europäischen Nachbarschaft sehr prekär blieb. Vor diesem Hintergrund verstetigte sich der Trend zur Errichtung großer Grenzzäune und ge­schlossener Lager. Die Schengenzone blieb von Bin­nen­grenzkontrollen durchsetzt, trotz einer immer umfassenderen elektronischen Überwachung des Personenverkehrs. Nach der Implementierung neuer Systeme zur flächendeckenden Erfassung von Reise­daten innerhalb des Schengenraums sowie für die biometrische Ein- und Ausreisekontrolle ging die EU ab 2026 dazu über, alle persönlichen Daten von Dritt­staats­angehörigen zu zentralisieren. Parallel wurde die sogenannte Externalisierung der Asylpolitik wei­ter vorangetrieben. Die EU übernahm das Abkommen zwischen Italien und Albanien zur Auslagerung von Asylgrenzverfahren. Ähnliche Modelle mit anderen Beitrittskandidaten (Westbalkan, Ukraine) und EU-Nachbarstaaten folgten, trotz vielfacher rechtlicher Bedenken.

Schließlich löst der neue französische Präsident im Herbst 2027 sein Wahlkampfversprechen ein und lässt ein nationales Referendum über einen Zuwanderungsstopp abhalten. Die EU reagiert darauf mit der Ausrufung einer »systemischen« Krise und erlaubt nun offiziell Grenzschließungen und die Zurück­weisung von Asylsuchenden. Spätestens von diesem Punkt an beschleunigt sich die Bewegung, die auf eine faktische Abschaffung des individuellen Asyl­rechts hinausläuft. Das Argument, dass die EU »einen großen Bevölkerungsaustausch« stoppen muss, wird endgültig normalisiert und dient auch dazu, die Gründung der neuen EU-Agentur für Demographie zu rechtfertigen. Dessen ungeachtet wächst der An­teil prekär oder illegal beschäftigter Einwanderer an, ohne die die rasant wachsenden demographischen Lücken im Arbeitsmarkt nicht gefüllt werden können.

Rechtsstaatlichkeit und Schwächung des Europäischen Gerichtshofs

Neben der Asylpolitik nahmen rechtspopulistische Parteien auf EU-Ebene hauptsächlich die Rechtsstaatlichkeit ins Visier und forderten explizit Reformen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Die Umgestaltung des EuGH begann 2024 mit der Ernennung neuer Richter, die überwiegend von nationalkonserva­tiven Regierungen vorgeschlagen wurden. Eines der ersten und augenfälligsten Signale dieser neuen Ära war das Verfahren gegen den EU-Media Freedom Act, das von Ungarn angestrengt wurde. In der juris­tischen Auseinandersetzung stellte sich der EuGH gegen das EU-Gesetz, das darauf abzielte, die Kon­trolle nationaler Medien und deren Eigentümerstrukturen in europäischem Rahmen zu regulieren. Der Gerichtshof erklärte die rechtliche Basis und Reich­weite der regulativen Auflagen für nichtig. Die Ent­scheidung markierte das erste deutliche Ablassen von den Bemühungen, eine unabhängige und plura­listische Medienlandschaft in der gesamten EU zu gewährleisten.

Gegenüber Polen wurde das Artikel-7-Verfahren zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit vor dem Hintergrund des Regierungswechsels bereits 2024 beendet. Die inneren Reformen zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Justiz in Polen erzeugten aber keine transnationale Dynamik. Die EU-Kommission empfahl deshalb 2025 die Aufhebung aller verbliebenen Sperren von EU-Geldern für Ungarn, nachdem die Regierung Orbán dort kosmetische Änderungen bei der Korruptionsbekämpfung vorgenommen hatte. Auch das Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn lief 2026 aus. Im EP, das bis zu den Wahlen 2024 auf eine scharfe Haltung gegenüber der ungarischen Regierung gedrängt hatte, kam keine Mehrheit für eine Ver­urteilung der Kommission zustande. Zwischen natio­nalkonservativen und rechtspopulistischen Parteien im EP bildete sich ein neuer stillschweigender Kon­sens in der Haltung zur Rechtsstaatlichkeit heraus. Solange die EU-Ebene nicht offen angegriffen würde, sollte es weniger »Einmischung« in nationale »Ver­fassungsidentitäten« und »politische Kulturen« und mehr »Respekt« für deren Eigenständigkeit geben.

Parallel dazu wies der EuGH Klagen von NGOs, mit denen die grundrechtliche Verantwortlichkeit von Frontex im Grenzschutz durchgesetzt werden sollte, aus formalen Gründen ab. Die EU-Grundrechtecharta wurde in weiteren Verfahren auf den Rang eines nur ergänzenden Dokuments zum nationalen Grundrechtsschutz herabgestuft und damit auch in ihrer Anwendbarkeit beschränkt. Die Linie des EuGH, die unter dem Motto »weniger, aber besser« firmiert, bestärkte die rechtskonservativen Regierungen auf nationaler wie europäischer Ebene. 2027 steht tur­nusgemäß eine zweite Welle von Neubesetzungen von Richtern zum EuGH an, der in der Folge noch deutlicher zu einem Instrument der neuen politischen Programmatik im Europäischen Rat bzw. der deutlichen Mehrheit der Mitgliedstaaten wird. An den personellen Umbruch schließt sich eine Änderung der Gerichtsstatuten (gemäß Artikel 281 (2) des Ver­trags über die Arbeitsweise der Europäischen Union) an, die neuartige Einschränkungen für Klagen vor dem EuGH beinhaltet. Auch das Ausmaß der Nicht­beachtung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte durch EU-Mitgliedstaaten erreicht neue Höchststände.

Auswirkungen auf die Stabilität und Handlungsfähigkeit der EU

Gegen Ende der EU-Legislatur 2029 haben diese Ent­wicklungen weitreichende Konsequenzen für den Prozess der europäischen Integration. Die Eckpfeiler der EU, die auf demokratischen Werten und gegen­seitigem Respekt für rechtsstaatliche Prinzipien basie­ren, stehen unter Beschuss. Es stellen sich mindestens drei strategische und kritische Fragen, die auch die deutsche Europapolitik ins Wanken bringen.

Erstens ist die Funktionsfähigkeit der EU in einem illiberalen Kontext zweifelhaft. Während die EU durch ihre institutionelle Struktur und ihre recht­lichen Rahmenbedingungen eine gewisse Resilienz gegenüber illiberalen Strömungen aufweist und diese sich zugleich weniger euroskeptisch geben, könnten die Effektivität und Einheitlichkeit der Entscheidungs­findung mittelfristig doch stark abnehmen. Fraglich ist, ob und wie lange die deklaratorische Öffnung rechtspopulistischer Parteien gegenüber der EU anhält, sobald in der Praxis Konflikte zwischen den Zielen einzelner Mitgliedstaaten und der EU-Agenda entstehen oder zwischen rechtspopulistischen Parteien, die mit gegensätzlichen nationalen Inter­essen aneinandergeraten. Unklar ist auch, ob beim Ent­stehen einer großen illiberalen politischen Allianz die übrigen EP-Fraktionen und jene Mitgliedstaaten, in denen keine Rechtsaußenparteien an der Regierung beteiligt sind, den Weg der »Normalisierung« mitgehen und Kompromisse aushandeln oder ihrer­seits in umfassender Weise die Blockademöglichkei­ten in der EU nutzen. So könnte Deutschland selbst zu einem zentralen Veto-Spieler werden.

Zweitens steht die Legitimierung der EU vor komplexen Herausforderungen. Einerseits könnte eine stärkere Betonung nationaler Souveränität und Eigen­ständigkeit als Reaktion auf illiberale Strömungen die demokratische Legitimität der Union stärken, indem die EU zeigt, dass sie die Signale aufnimmt, die von Wahlentscheidungen ausgehen, und ihren Kurs deutlich ändert. Ebenso könnten gewisse Politik­ergebnisse als »Output«-Legitimation gesehen werden, etwa wenn die EU tatsächlich harte Grenzschließungen vornehmen würde und dies dem Mehrheitswillen entspräche. Andererseits könnte dies zu Lasten der supranationalen Legitimität und des Bestands der gemeinsamen europäischen Werte gehen, was Fragen nach der langfristigen Tragfähigkeit des europäischen Integrationsprojekts aufwirft. Eine »Tyrannei der Mehr­heit« hätte in der EU eine noch dünnere legitimato­rische Basis als in einer nationalen Demokratie. Sollte diese zudem noch einhergehen mit einer gesteigert permissiven Haltung gegenüber der Nichtumsetzung unerwünschter EU-Regeln auf mitgliedstaatlicher Ebene, drohen die Grundsätze der EU als Rechts­gemeinschaft zu zerbröckeln.

Mit einer illiberalen EU entfiele ein zentraler Unterstützer multilateraler Insti­tutionen und auch globaler Klimapolitik.

Facettenreich sind nicht zuletzt auch die globalen Auswirkungen. Mit einer zunehmend illiberalen EU würde ein zentraler Unterstützer multilateraler Insti­tutionen und auch globaler Klimapolitik wegfallen. Gekoppelt mit einer potentiellen Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus wäre eine Beschleunigung des Endes der Nachkriegsordnung zu erwarten. Gleich­wohl sind zumindest die EKR-Parteien – siehe Meloni in Italien – prowestlich und transatlantisch orientiert, eine Grundeinstellung, die auch die Befür­wortung großer Investitionen in die europäische Verteidigungsfähigkeit, eine enge Anbindung an die Nato, die Unterstützung der Ukraine und eine kon­fron­tative Positionierung gegenüber China einschließt. Die Frage nach der Verlässlichkeit der Part­ner Deutschlands würde sich in solch einer Konstellation nicht nur in Bezug auf die USA, sondern ebenso sehr auf Frankreich und eine potentiell illiberal domi­nierte EU stellen.

China gewinnt den Wettlauf zum Mond. Weltall ohne Europa: Die Verlierer einer fragmentierten Weltraumordnung

Lisa Becker / Angela Stanzel

Es ist der 1. Juli 2028. Die erste astronautische Mond­mission Chinas ist erfolgreich auf dem Erdtrabanten gelandet. Die Crew, bestehend aus zwei Taikonauten, einem russischen Kosmonauten, einem iranischen und einem ungarischen Astronauten, sendet Fotos zur Erde: Sie hat die Flagge der Great Wall Space Orga­nisation (GWSO) auf der Mondoberfläche auf­ge­pflanzt. Währenddessen verkündet die Regierung in Peking das neue Raumfahrtzeitalter unter chine­si­scher Ägide sowie das Ende der amerikanischen Hege­monie im Weltraum. Das westliche Bündnis unter der Führung der USA ist zerstritten, nicht zuletzt auf­grund der aggressiven »America First in Space«-Indus­triepolitik Donald Trumps, der in seiner zweiten Amts­zeit heimischen Welt­raumunternehmen mas­sive Vor­teile verschafft. Europa und Deutschland haben das Nachsehen – sie schauen von der Erde aus zu, wie die Regeln im All zunehmend von China und dessen Partnern bestimmt werden.

Wie es dazu kam

Dass nach knapp sechzig Jahren wieder Menschen auf dem Mond landen, ist ein wichtiger Schritt, sowohl praktisch als auch symbolisch. Denn in dem neuen Weltraumzeitalter hat Peking das vollbracht, was seit den amerikanischen Apollo-Missionen in den 1960er und 1970er Jahren kein anderer Staat geschafft hat. In den vorangegangenen Jahren hat China rasante technologische Fortschritte gemacht – und sich als zweite globale Raumfahrtnation hinter den USA etabliert.

Parallel dazu hat die 2021 ins Leben gerufene chi­ne­sisch-russische Initiative einer Internationalen Mond­forschungsstation (International Lunar Research Sta­tion, ILRS) Gestalt angenommen. Russland war infolge der wirtschaftlichen Krise, in die es wegen der vom Westen verhängten Sanktionen im Zuge seines Angriffs­kriegs gegen die Ukraine geraten war, zu einem Juniorpartner Chinas geworden. Aus der ILRS, die ursprünglich eine partnerschaftlich betriebene Mondforschungsbasis hatte sein sollen, war zunächst die Cooperation Organization (ILRSCO) und schließlich 2026 die GWSO geworden. So hat sich das Kon­zept der ILRS mit der Zeit geändert: Aus einem Instru­ment der wissenschaftlichen Zusammenarbeit wurde das Projekt eines politischen Bündnisses mit einer multilateralen Basis, die Peking durch geschickte Diplomatie und aggressives Anwerben neuer Partner stetig ausgeweitet hat. China dominiert die GWSO und bedient sich ihrer, um für die Durchsetzung seiner Regeln der Mond­nutzung weltweit Unterstützung zu gewinnen. Peking verfolgt das Ziel, zu einer Ordnungsmacht im Weltraum zu werden.

Dabei sah es Ende der 2010er Jahre noch anders aus: Die USA planten, mit den Artemis-Missionen bis 2024 zum Mond zurückzukehren. Mit dabei sein sollten diesmal ihre westlichen Partner. Der Erstflug verzögerte sich mehrmals, aus technischen, regulatorischen und finanziellen Gründen. Parallel verständigten sich die USA 2020 mit einer Reihe von Staaten auf die Artemis Accords, bilaterale, nicht bindende und nicht unumstrittene Abkommen über Richtlinien für das Verhalten auf dem Mond,1 denen Deutschland 2023 beigetreten ist. Die Vereinbarungen erstrecken sich sowohl auf die Aktivitäten auf der Oberfläche als auch auf Ressourcenextraktion. Während sich die europäischen Staaten zunächst nach und nach und schließlich geschlossen zu den Artemis Accords bekann­ten, witterte Ungarn seine Chance, erstmals einen Astronauten auf den Mond zu senden, und ging 2027 zusätzlich eine Mitgliedschaft in der GWSO ein.

Die Spannungen innerhalb des westlichen Bündnisses einerseits sowie zwischen den USA und China andererseits haben während der zweiten Amtszeit Donald Trumps zugenommen. Er war im November 2024 erneut zum US-Präsidenten gewählt worden und verschärfte seine konfrontative Rhetorik gegenüber China. So ließ er bei seiner Antrittsrede im Januar 2025 – ohne vorausgehende Absprache mit den west­lichen Partnern – kundtun, dass jede Einmischung in die Aktivitäten amerikanischer Missionen oder Unter­nehmen auf dem Mond militärische Konsequen­zen nach sich ziehen würde. Diese Botschaft richtete sich vor allem gen Peking. Außerdem verkündete Trump in dieser Rede, Elon Musk als NASA-Admi­nistrator einsetzen zu wollen (was allerdings nicht passiert ist).2

Trumps »America First in Space«-Programm hat zu einem Zerwürfnis mit den europäischen Partnern geführt.

Unter der Devise »America First in Space« hat der Präsident ein Förderprogramm für die amerikanische Weltraumindustrie angestoßen, das einheimische Firmen durch Subventionen überproportional bevor­zugt. Dies hat zu einem ernsthaften Zerwürfnis mit den europäischen Partnern geführt. Auch die inner­europäischen Beziehungen sind gegen Ende der zwei­ten Amtsperiode Trumps keineswegs spannungsfrei.

Deutschland galt lange als eine der führenden Nationen in Europa im Bereich der Raumfahrttechnik und wurde innerhalb des Artemis-Projekts als Schlüssel­partner angesehen. Doch der deutschen Weltraumbranche drohte schon Mitte der 2020er Jahre der Niedergang: Aufgrund ausbleibender Investitionen und fehlender politischer Unterstützung war sie nicht konkurrenzfähig genug. Hinzu kommt, dass die feh­lende Geschlossenheit Europas und des Westens die Bemühungen konterkariert, sich gemeinsam gegen die wachsende Einflussnahme Chinas im All zu posi­tionieren. Die Landung der chinesischen Mission auf dem Mond im Jahr 2028 soll dabei nur ein Schritt auf dem Weg zu dem von Peking erklärten Ziel sein, den »ewigen Traum« zu erfüllen und China zu einer Welt­raumgroßmacht aufsteigen zu lassen.3

Geopolitik im umkämpften Weltraum

Dem All kam bereits in den 2010er und frühen 2020er Jahren über die wissenschaftliche und wirt­schaftliche Nutzung hinaus zunehmend auch eine politische, militärische und strategische Bedeutung zu. Der erd­nahe Weltraum wurde immer umkämpfter und über­füllter.4 Der Umgang mit dem Mond stand dabei para­digmatisch wie praktisch für die Zu­kunft der Welt­raum­nutzung insgesamt.

Dabei ist das Weltall – wie die Weltmeere und die Atmosphäre – ein »Gemeinschaftsgut« (global commons) bzw. eine »Sache der gesamten Menschheit« (province of all mankind). Das heißt, diese Räume gehören nie­man­dem und niemand darf bei der Nutzung behin­dert werden. Dieses Prinzip ist auch im Weltraumvertrag von 1967 niedergelegt,5 welcher den rechtlichen Rah­men im All bildet. Der Vertrag bestimmt, dass »die Erforschung und Nutzung des Weltraums einschließlich des Mondes [...] zum Vorteil und im Interesse aller Länder« durchgeführt wird (Art. I), und unterstreicht das freie und uneingeschränkte Recht aller Staaten, sich daran zu beteiligen. Zudem unterliegt das All inklusive des Mondes und anderer Himmelskörper »keiner nationalen Aneignung durch Be­anspruchung der Hoheitsgewalt, durch Benutzung oder Okkupation oder durch andere Mittel« (Art. II).

Anläufe, einen völkerrechtlichen Vertrag explizit für Aktivitäten auf dem Mond zu schließen, hatten in den folgenden Jahrzehnten wenig Erfolg. Das »Über­einkommen zur Regelung der Tätigkeiten von Staaten auf dem Mond und anderen Himmelskörpern« von 1979 hat offenbar keine Zugkraft entfaltet: 2024 hat­ten nur 17 Staaten den Vertrag ratifiziert, darunter weder die USA noch die UdSSR/Russland oder China.6

Seit den 1970er Jahren hat sich das Weltraumrecht nur wenig weiterentwickelt – dafür aber die Nut­zung des Alls. Durch Miniaturisierung und Kommerzialisierung wurde die Raumfahrt erschwinglicher und für mehr Länder zugänglich, ebenso für Unter­nehmen. 2024 befanden sich schon mehr als 5.000 aktive Satelliten aus 75 Ländern im Orbit. Firmen wie SpaceX und Virgin Galactic standen für das neue Marktpotential, das sich unter dem Schlagwort New Space privaten Akteuren mit der Nutzung des Welt­raums erschloss.

Auch war bzw. ist der Weltraum nicht immun gegenüber terrestrischer Geopolitik. Mitte der 2020er Jahre war er zum Schauplatz irdischer Rivalitäten und Konflikte geworden, und die Konkurrenzkämpfe um begrenzte Ressourcen hatten ihn längst erreicht (z. B. Inanspruchnahme der Orbits, Datenfrequenzen für Satelliten, perspektivisch Flächen auf dem Mond und anderen Himmelskörpern). Während die Auf­rüstung im All Fahrt aufnahm, stieg das Risiko einer militärischen Auseinandersetzung auf der Erde wie auch im Weltraum.7

Fragmentierung in der Gestaltung der Weltraumordnung

2024 stellte sich die Situation wie folgt dar: Die von den USA bzw. China angestoßenen Initiativen – die Artemis Accords und die ILRS – standen für zwei ver­schiedene, um Deutungshoheit ringende Konzepte für die Nutzung des Mondes und schließlich auch des Weltraums. Die Debatten in den Vereinten Nationen (UN) spiegelten diese grundlegenden Differenzen wider. China und Russland setzten sich für einen neuen recht­lich bindenden Vertrag ein. Dafür hatten sie 2008 einen Entwurf vorgestellt, der keine Mehrheit gewin­nen konnte.8 Ein alternativer Ansatz basierte auf der Entwicklung von Normen für die verantwortungs­volle Nutzung des Weltalls. Damit befasste sich die UN-Arbeitsgruppe zur Reduzierung von Weltraumbedrohungen durch Normen, Regeln und Prinzipien der verantwortungsvollen Nutzung, die jedoch 2023 nach zwei Jahren endete, ohne Abschlussbericht auf­grund von Enthaltungen unter anderem durch Russ­land und China.9 Daraufhin verfestigte sich die Block­bildung weiter.

In einer anschließenden zweiten Runde beschäftigten sich in dem zuständigen First Committee der Generalversammlung zwei Arbeitsgruppen parallel mit der Thematik, wodurch sich die Konkurrenz der beiden Ansätze verstetigte.10 In einer für die Vereinten Nationen unüblichen Form wurde in der beglei­tenden Pressemitteilung gewarnt vor einer »weiteren Polarisierung und Fragmentierung bei dem Versuch, Weltraumsicherheit zu bewahren«.11

Parallel wurden in den 2020er Jahren themen­spezifische minilaterale Initiativen vorangetrieben. Die USA zum Beispiel erklärten, auf Tests boden­gebundener Antisatellitenwaffen zu verzichten. Die­sem unilateralen Moratorium haben sich 37 Staaten bis 2023 angeschlossen, darunter alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU).12 Eine entsprechende Resolution in der UN-Generalversammlung wurde von 155 Staaten unterstützt, nicht aber von China und Russland.13

Diese Entwicklungen deuteten auf eine schleichende Abkehr vom Prinzip des Weltraums als Gemein­schaftsgut. Die Zahl der mini- und multilateralen, zum Teil themenbezogenen und nicht exklusiven Kooperationsformate wuchs an. Dass sich die gleich­zeitige Teilnahme an den beiden großen Vorhaben der USA bzw. Chinas jedoch längerfristig als kom­pliziert erweisen könnte, bekamen die Vereinigten Arabischen Emirate zu spüren. Als Unterzeichner der Artemis Accords mussten sie wegen amerikanischer Exportregelungen (ITAR) eine Kooperation mit dem chinesischen Mondprogramm Chang'e 7 ausschließen.14 Dennoch unterzeichneten emiratische Uni­versitäten ein halbes Jahr später Abkommen zur Mit­nutzung der ILRS-Mondstation.15

Im Jahr 2023 gab es wenige Fälle von doppelten Mitgliedschaften und kaum Überlegungen, wie damit umgegangen werden sollte, zum Beispiel dahingehend, ob sie gegebenenfalls zur Überbrückung und Vermitt­lung zwischen den Initiativen dienen könnten. Eine konfliktfreie Koexistenz der zwei Modelle in einem ko­operativen Rahmen war in Anbetracht eines sich auf­heizenden politischen Klimas allerdings nur schwer vorstellbar.

Der Mond: Projektionsfläche für Weltraumgroßmächte

Vor diesem Hintergrund bahnte sich das zweite Wett­rennen zum Mond an, das China am 1. Juli 2028 gewinnt. Es unterscheidet sich von der Rivalität, die bei der Eroberung des Weltraums zwischen den USA und der Sowjetunion zu Zeiten des Kalten Krieges herrschte. Denn neben Prestige- und strategischen Gründen beruhen die Mondambitionen in den 2020er Jahren perspektivisch auch auf wirtschaftlichen An­reizen. Der Erdsatellit ist Projektionsfläche und Aus­tragungsort von Machtpolitik, und die Aspirationen, die sich auf ihn richten, sind auf allen Seiten geprägt von der Maxime »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst«. Oder, mit anderen Worten: Wer als Erster wieder auf der Mondoberfläche Fuß fassen kann, schafft Fakten – und Regeln.

In diesem Wettbewerb geht es über den Mond hin­aus um die Frage der Kontrolle des erdnahen Welt­raums (cislunar space) und darum, eine Ausgangslage zu schaffen für weitere Explorationen in der Zukunft, für die der Mond als Sprungbrett dienen soll. Allein durch die Demonstration der für eine Mondlandung benötigten Technologien ist China nun eine Machtprojektion gelungen: Von Trägerraketen und Lande­mechanismen über Lösungen für sichere Kommunikation bis hin zu Technik für die Weltraumlage­erkennung – China verfügt darüber. Diese Fähig­keiten sind entscheidend für das Beherrschen des Weltraumumfelds und somit potentiell auch für die Durchführung militärischer Operationen.

Hinzu kommt, dass – auch wenn sich Weltraumaktivitäten 2028 wirtschaftlich noch nicht rentieren – der Mond schon seit Jahren als strategische Ressource betrachtet wird. Vorkommen an seltenen Erden und Helium können nämlich für zukünftige Missionen oder längere Aufenthalte wertvoll sein, etwa für die Erzeugung von Kraftstoff. Auf solche attraktiven lunaren Geschäftsszenarien in einigen Jahrzehnten spekulieren auch private Unternehmen. Sie spielen eine zentrale Rolle bei der Entwicklung von Fähigkeiten für die Raumfahrt, die bisher größ­tenteils in hoheitlicher Hand lag.

Der Staat muss die rechtlichen und regulatorischen Bedingungen für kommerziell getriebene Weltraumaktivitäten schaffen.

Der Staat wird im mittlerweile etablierten New Space-Ökosystem zum Kunden von Dienstleistungen dieser Unternehmen, zum Beispiel von Elon Musks SpaceX, und hat die wesentliche Aufgabe, die recht­lichen und regulatorischen Bedingungen für kom­mer­ziell getriebene Aktivitäten zu schaffen. Angesichts der erfolgreichen chinesischen Mondlandung ist dies umso dringlicher. Konkret heißt das, der Staat muss Standards und Regeln definieren und durch­setzen, die der Absicherung und Nachhaltigkeit von Missionen auf dem Mond und im All dienen und zur Bewältigung von Krisen bzw. zur Schlichtung von Konflikten herangezogen werden.

Als Basis für ein solches internationales Regelwerk bieten sich möglicherweise die Artemis Accords an. Damit sich dieses gegen ein von China ge­prägtes alter­natives Modell durchsetzen kann, ist die Geschlossen­heit der westlichen Partner notwendig – eine große Herausforderung in Anbetracht der Tat­sache, dass das westliche Bündnis zerstritten ist.

Daneben beschließen manche Staaten auch auf nationaler Ebene Gesetze. So haben die USA 2015 den Commercial Space Launch Competitiveness Act ver­abschiedet, der privaten Unternehmen den Abbau von extraterrestrischen Rohstoffen erlaubt. In Europa wurden ähnliche Gesetze zum Beispiel 2017 in Luxem­burg und 2023 in Liechtenstein erlassen.16 In Deutschland wurde das in der Raumfahrtstrategie von 2023 angekündigte Weltraumgesetz17 wie geplant 2025 beschlossen, im Jahr darauf folgte das EU-Welt­raum­gesetz. Derartige nationale und supranationale Gesetze müssen allerdings mit dem internationalen Recht vereinbar sein und werfen die Frage auf, wie ver­schie­dene Regelwerke harmonisiert werden können.

Ausdehnung der sino-amerikanischen Rivalität im All

Der systemische Wettbewerb zwischen Peking und Washington findet nicht nur – bereits seit Jahren – auf der Erde statt, sondern erstreckt sich bis in den Weltraum. Durch seine bemannte Mondlandung ist China den USA hier nun einen Schritt voraus. Die USA waren jahrzehntelang unangefochtener Welt­raumhegemon und haben durch die Umsetzung des kommerziellen New Space-Modells eine starke indus­trielle Basis aus Weltraumunternehmen aufgebaut. Mit dem Artemis-Programm kündigten die Vereinigten Staaten 2017 die Rückkehr zum Mond an, als einzige Nation, der bis dato die astronautische Landung geglückt war. Parallel dazu hat die Trump-I-Adminis­tration mit den Artemis Accords den Grundstein für bilaterale Abkommen gelegt, um die Kooperation mit einem globalen Netzwerk gleichgesinnter Partner auf eine sichere Basis zu stellen. Vielversprechende Pro­jekte, deren Verwirklichung aufgrund mangelnder politi­scher Priorisierung und technischer Herausforderungen ausgebremst wurde.

Gleichzeitig haben sich die USA und China auch im Weltraum weiter voneinander entfernt. Chinas Ambitionen dort sehen US-Regierungen seit Jahren zu­nehmend kritisch18 und das Wolf Amendment von 2011 begrenzt die amerikanisch-chinesische Zusammenarbeit im All.19 China ist als einziges Land in der Lage, die amerikanische Vormachtstellung im Welt­raum herauszufordern und eine andere Interpreta­tion einer regelbasierten Weltraumordnung anzubieten, nämlich eine »regelbasierte Weltraumordnung mit chinesischen Charakteristiken«.

Das Selbstverständnis Chinas im Hinblick auf den Weltraum basiert auf dem Traum, eine Weltraumgroßmacht zu werden – besser gesagt: auf seiner Verwirklichung. Aus chinesischer Sicht ist die Luft- und Raumfahrt die »wichtigste Waffe Chinas« und »Ausdruck des Status Chinas als Großmacht«.20

Graphik 1

Graphik 1: Meilensteine des chinesischen Weltraumprogramms

Dabei blickt China auf eine erfolgreiche Geschichte als Weltraumnation zurück. Mit der Entwicklung eigener Trägerraketen (Long March), dem Aufbau eines eigenen Satellitennavigationssystems (Beidou) und der Sendung eines Rover auf die Rückseite des Mon­des (Chang'e) ist es dem Land Anfang der 2020er Jahre gelungen, sich als führende Weltraumnation zu eta­blieren.

Chinas Vorrangstellung im Orbit wird dadurch ausgeweitet, dass es Antisatellitenwaffen testet (von Signalstörungen über die nötigen Cyberfähigkeiten bis hin zu bodengestützten Raketen). Diese techno­logischen Fähigkeiten untermauern den Anspruch des Landes, die politischen und regulatorischen Rahmenbedingungen für Weltraumaktivitäten (mit)zugestalten. China verbindet seine Weltraum­aktivitäten mit Programmen wie der Belt and Road Initiative, die auf seine nationalen Interessen aus­gerichtet ist, die es im Übrigen auch im Rahmen der Staatengruppe BRICSplus geltend macht.21 Dabei gibt es in China weder eine klare Trennung zwischen pri­vaten und staatlichen Weltraumunternehmen noch zwischen den wissenschaftlichen, zivilen und mili­tärischen Raumfahrtprogrammen. Wissenschaftliche Vorhaben können demnach als Vorwand für Aktivi­täten anderer Art genutzt werden.

Einen Überblick über wichtige Etappen des chinesischen Weltraumprogramms bis zur bemannten Mondmission 2028 sowie mögliche weitere Entwicklungen bis 2035 gibt Graphik 1 (S. 21).

China positioniert sich als Alternative zum Westen und verspricht seinen Partnern in der Great Wall Space Organisation exklusiven Zugang zu Technologien, zum Mond, zu Ressourcen. Die Zusammenarbeit unter der »Vorgängerinitiative« ILRS wurde 2023 explizit als inklusiv und »win-win« angekündigt.22 Allerdings ge­schah Ähnliches wie bereits in anderen Fällen – die Initiative wurde schleichend unterwandert, um chi­ne­sische Interessen umzusetzen. Chinas Werben um überwiegend autokratisch geführte Staaten als Part­ner für die ILRS bzw. ab 2026 für die GWSO bestätigt den Eindruck, dass Peking wie schon auf der Erde jetzt auch im Weltraum versucht, einen gegen den Westen gerichteten Block zu bilden. Denn trotz allem kann China eine Weltraumordnung nicht im Allein­gang etablieren und gegen die USA als einzige eben­bürtige Macht durchsetzen. Letzten Endes gilt: Das Land, das nicht nur über das nötige technologische Know-how verfügt, sondern zugleich andere Länder für seine Vision der Weltraumverwaltung gewinnen kann, wird die Regeln im Weltraum setzen.

Mit Aussicht auf eine erneute Präsidentschaft Trumps war es schon im Vorfeld der US-Präsident­schaftswahlen 2024 absehbar, dass die USA die Erfor­schung des Mondes nicht kooperativ mit China betrei­ben wollten. Das hat sich bewahrheitet. Die beiden Staaten gehen getrennte Wege, und die Unterstützer­gruppen für die Artemis Accords bzw. die GWSO kon­kurrieren miteinander.

Europa und Deutschland – Verlierer?

Europa war Mitte der 2020er Jahre in der Summe seiner Staaten, mit der Europäischen Weltraumagentur ESA und dem EU-Weltraumprogramm ein bedeu­ten­der Weltraumakteur. Nationale Raumfahrtprogramme waren größtenteils in die Aktivitäten der ESA eingegliedert. Ausnahmen bildeten die größeren Welt­raumnationen wie Deutschland, Frankreich und Italien, die darüber hinaus eigene Programme betrie­ben. Ins­besondere die deutsche Weltraumbranche litt jedoch unter ausbleibenden Investitionen und erhielt wenig politische Unterstützung, sodass sie 2028 kaum noch konkurrenzfähig ist.

Die Rolle Europas in der Raumfahrt zu konsolidieren gestaltet sich schwierig. Gründe sind nicht nur mangelnde politische Unterstützung und fehlende Investitionen. Grund ist vor allem ein besonderes Konstrukt: Die astronautische Raumfahrt ist seit den 1990er Jahren in der ESA gebündelt, zu deren Auf­gaben es ebenso gehört, die wissenschaftliche Welt­raumforschung zu fördern. Schon seit 2007 teilen sich aber die ESA und die EU die Zuständigkeit für das Weltraumportfolio Europas, wobei die EU das Euro­päische Weltraumprogramm administriert.23

Da Europas Rolle in der Raumfahrt schwierig zu konsolidieren ist, ist es 2028 immer noch weitgehend abhängig von den USA.

Europa verfügt Ende der 2020er Jahre durchaus über fortschrittliche Fähigkeiten zur Überwachung und Navigation sowie mit der Ariane 6 wieder über eine eigene Trägerrakete. Trotzdem ist es nach wie vor in Schlüsseltechnologien weitestgehend von den USA abhängig. Weltraumlagedaten werden größten­teils immer noch von dem transatlantischen Partner bezogen und Plätze für Satelliten als Mitfahrgelegen­heit eingekauft. Eigene Ambitionen in der astronau­tischen Raumfahrt hat Europa vergeblich im Kontext der amerikanischen Artemis-Missionen verfolgt; ihm bleibt nur die Rolle des Juniorpartners.24

Als Donald Trump 2024 zum zweiten Mal zum US‑Präsidenten gewählt wurde, wuchs bei den euro­päischen Staaten die Sorge, Trump werde nicht mehr akzeptieren, dass die USA den größten Teil der Lasten für die Aufrechterhaltung der internationalen Ord­nung allein schulterten. Die Europäer befürchteten, Trump würde im Gegenzug für den Zugang zu Welt­raumfähigkeiten mehr finanziellen wie politischen Einsatz von ihnen fordern. Diese Sorgen haben sich in den folgenden Jahren als berechtigt erwiesen.

Am Ende der zweiten Amtszeit Trumps blicken die USA auf eine aggressive Handelspolitik gegenüber Europa und China zurück. Trumps »America First in Space«-Politik hat zu einer tiefen Entfremdung zwi­schen Europa und den USA in der Weltraumkooperation geführt. Das Vertrauen Europas in die USA ist erschüttert, für europäische Astronauten ist die Option außer Reichweite, an Artemis-Mondmissionen beteiligt zu werden. Auch glaubt Europa nicht mehr daran, ein Mitspracherecht bei der Gestaltung einer Weltraumordnung eingeräumt zu bekommen. Kurz: Europa läuft Gefahr, der Verlierer in der Großmacht­rivalität auf dem Mond zu werden.

In dieser Situation präsentiert sich China den Euro­päern daher als potentiell attraktiver Weltraumpart­ner – primär industriepolitisch, denn die chinesische Weltraumindustrie befindet sich Ende der 2020er Jahre auf höchstem technologischem Niveau. Trotz­dem muss damit gerechnet werden, dass Peking in europäischen Hauptstädten nicht nur um industrielle Kooperation bei Weltraumprojekten werben wird, sondern auch um politische Unterstützung für seine Vision einer lunaren Ordnung. Eine Beteiligung bei der Formulierung einer regelbasierten Weltraumordnung mit chinesischen Charakteristiken bietet China den Europäern indes nicht an. Sollte sich Europa China zuwenden mit dem Ziel, die wirtschaftliche oder politische Weltraumkooperation voranzutreiben, würde dies die transatlantischen Beziehungen weiter verschlechtern.

Handlungsempfehlungen

Zurück in die Gegenwart, ins Jahr 2024. Angesichts der beschriebenen Herausforderungen stellt sich die Frage, wie souverän Europa sich im All positionieren bzw. wie es sich verhalten will – es fehlt eine ein­heit­liche paneuropäische Vision. Um im Gefüge der großen Raumfahrtnationen bestehen zu können, müssen Europa und auch Deutschland über ihre länger­fristigen Ambitionen Klarheit schaffen. Die ESA hat einen solchen Reflexionsprozess mit der High-Level-Gruppe angestoßen.25 Die Mitgliedstaaten der EU und der ESA sollten die Möglichkeit nutzen, ihr kollek­tives Gewicht einzubringen und mit einheitlicher Stimme zu sprechen, und zwar sowohl bilateral, zum Beispiel vis-à-vis den USA und China, als auch in internationalen Gremien wie dem UN-Ausschuss für die friedliche Nutzung des Weltraums (COPUOS), der UN-Generalversammlung und der Internationalen Fernmeldeunion (ITU). Wenn der Weltraum als Euro­pas Gemeinschaftsprojekt begriffen wird, kann dies europäische Handlungsfähigkeit und Eigenständigkeit stärken.

Schließlich muss Europa lernen, im Weltraum selbständig und unabhängig zu agieren, um seine Chancen als starker Partner der USA zu nutzen. Zugleich sollte Europa geschlossen versuchen, auf die zukünftige amerikanische Administration konstruktiv einzuwirken, gerade wenn Trump zum zweiten Mal Präsident würde. Es gilt, die Vorteile eines durch die westlich geprägten Industrienationen gemeinsam formulierten lunaren Regelwerkes hervorzuheben.

Grundsätzlich an der transatlantischen Allianz festzuhalten ist notwendig angesichts der großen Interessen- und Werteunterschiede zwischen Europa und China, was Weltraumthemen anbelangt. Europa muss gegenüber China klar Stellung beziehen und sich für ein völkerrechtskonformes und verantwortungsbewusstes Verhalten im Weltraum einsetzen. Die Zusammenarbeit in Weltraumunterfangen sollte auf Basis der koordinierten EU-Chinapolitik evaluiert werden, ganz im Sinne des »De-Risking«-Ansatzes. Dies betrifft allen voran die europäische Weltraumindustrie, die unabhängiger von China werden und gleichzeitig vor zu großer Einflussnahme sowie Über­nahmen geschützt werden muss.

In dem sich zuspitzenden Konflikt um den Weltraum kann Deutschland eine glaub­hafte Mittlerrolle spielen – sowohl in der EU und der ESA als auch international. Es sollte sich um eine einheitliche euro­päische Weltraumpolitik bemühen, deren Ziel es sein muss, im Verbund mit gleichgesinnten außereuro­päischen Mächten die völkerrechtlichen Prinzipien für die Weltraumnutzung in internationalen Organi­sa­tionen zu verankern und zu stärken. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei Indien: Das Land verfügt über ein starkes Raumfahrtprogramm und eine robuste Weltraumindustrie, als Unterzeichner der Artemis Accords kann es ein natürlicher Partner des Wes­tens sein und ein geopolitisches Gegen­gewicht zu China und dessen Partnern bilden.

Für ein derartiges Engagement Deutschlands bedarf es eines strategischen Ansatzes für Weltraumdiplomatie. Eine Möglichkeit wäre, im Auswärtigen Amt die Position einer oder eines Beauftragten für Weltraumaußen- und ‑sicherheitspolitik einzurichten, wie es sie schon für die Cyberdomäne gibt. Um die Debatte über die verantwortungsvolle Nutzung des Mondes voranzutreiben, könnte Deutschland den Mondvertrag von 1979 unterzeichnen.

Eine Kooperation mit China sollte nur dort angestrebt werden, wo es strategisch im europäischen Inter­esse ist. Bei Herausforderungen von globaler Trag­weite, etwa beim Umgang mit Weltraumschrott und bei der Rüstungskontrolle, ist ein gemeinsamer An­satz gefragt. Hingegen scheint eine vertrauensvolle Zusammenarbeit auf Augenhöhe bei der Erforschung des Mondes sowie auf industrieller Ebene nicht mög­lich, dazu sind die allgemeinen Vorbehalte in den Beziehungen zu China derzeit zu groß.

Deutsches und europäisches Interesse sollte es sein, an Weltraumaktivitäten teilnehmen zu können und die Gestaltung der Regeln für die Nutzung des Alls nicht anderen zu überlassen. Denn dies würde das Risiko vergrößern, zum Spielball der Großmächte zu werden. Um mitwirken zu können, muss in die natio­nale und europäische Raumfahrt investiert werden, politisch wie finanziell. Noch stehen die Zeichen gut, dass das in diesem Beitrag beschriebene Szenario – ein Welt­all ohne Europa – nicht eintritt.

Frischer Wind am East River. Die Erweiterung des UN-Sicherheitsrats zieht unerwartete Reformschritte nach sich

Judith Vorrath / Lars Brozus

Überraschung und Jubel im UN-Sicherheitsrat: Das Jahr 2028 startet mit einem Paukenschlag. Die ständigen Mitglieder des Gremiums erklären ihren freiwilligen Verzicht auf ein Veto im Falle von Mas­senverbrechen. Die Initiative dazu ging von den neuen Mitgliedern des erweiterten Sicherheitsrats aus – basierend auf einem früheren französisch-mexi­kanischen Vorschlag sowie dem Verhaltens­kodex der Accountability, Coherence and Transparency Group (ACT Group).1 Diese nach langem Ringen zustande gekommene freiwillige Selbstbeschränkung wäre undenkbar gewesen ohne die vorherige weit­reichende Reform des Rats. Mit dieser wurde das Gremium 2027 von 15 auf 27 Mitglieder erweitert. Auch Deutschland rückte in den Sicherheitsrat (SR) auf. In ihrer ersten Rede bemerkte die Vertreterin der Bundesregierung augenzwinkernd, dass Deutschland zwar auch ohne die Reform darauf gehofft habe, 2027/28 dort vertreten zu sein. Schließlich habe die Bundesregierung schon 2023 angekündigt, als nicht­ständiges Mitglied für die Ratsperiode 2027/28 zu kan­didieren. Dass Deutschland nunmehr eins der sechs neuen semipermanenten Ratsmitglieder ist, sei damals aber nicht absehbar gewesen.

In ihrer Rede wirft die deutsche UN-Botschafterin einen Blick zurück auf die Ereignisse, die maßgeblich dafür waren, dass es überhaupt zur Erweiterung kom­men konnte. Verantwortlich dafür gewesen sei vor allem die wachsende Kluft im wichtigsten Gremium der UN, dem Sicherheitsrat, der als Bewahrer des Welt­friedens und der internationalen Sicherheit immer häufiger ausgefallen sei. Der Graben zwischen den fünf ständigen Mitgliedern (P5) – Russland und China einerseits, USA, Vereinigtes Königreich und Frankreich andererseits – sei nach und nach so tief geworden, dass es kaum noch zu relevanten Beschlüssen gereicht habe. Gleichzeitig hätten sich die Bedro­hungen für den Frieden und die internationale Sicher­heit vervielfältigt. Bewaffnete Konflikte von der Ukraine über den Kaukasus und den Nahen und Mitt­leren Osten bis zum Horn von Afrika seien weiter eskaliert oder hätten sich ausgebreitet.

Viele UN-Beobachter:innen stimmen mit dieser Einschätzung grundsätzlich überein. Manche betonen darüber hinaus aber machtpolitische Motive, die wich­tig für die Durchsetzung der Reform gewesen seien. Dass der 1945 eingerichtete und 1965 um sechs nichtständige Mitglieder erweiterte Rat die geopolitischen Realitäten des 21. Jahrhunderts nicht mehr abbilde,2 sei seit langem Konsens gewesen. Uneinigkeit habe hingegen über zweierlei bestanden, näm­lich welche Staaten Mitglieder werden und welche Rechte sie haben sollten. Bei der zweiten Frage ging es besonders um die den P5 vorbehaltene Möglichkeit, Beschlüsse des Rats durch ein Veto zu verhindern.

Zwar behalten die P5 auch nach der Erweiterung 2027 zunächst ihr uneingeschränktes Vetorecht. An diesem Punkt konnten sich die reformbefürwortenden Staaten nicht gegen den hartnäckigen Widerstand vor allem Chinas, Russlands und der USA durch­setzen. Allerdings haben die sogenannten New 6 (N6) – Deutschland, Japan, Brasilien, Indien, Süd­afrika, Nigeria, die als semipe­rma­nente Mitglieder neu hinzugekommen sind – die Möglichkeit, ein Kollektivveto gegen Beschlüsse einzulegen. Im weit­gehenden Konsens untereinander3 können sie damit ebenfalls Beschlüsse verhindern, sofern es nicht um prozedurale Fragen geht, bei denen das Vetorecht weiterhin nicht gilt.

So konnten die N6 gemeinsam mit den inzwischen 16 statt früher neun nichtständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats die Initiative zur Selbstbeschränkung auf die Tagesordnung setzen. Während dies vor Jah­ren unvorstellbar gewesen wäre, lassen sich die »alten« P5 letztlich auf die freiwillige Beschränkung ein, unter der Bedingung, dass auch die N6 sich ihr unterwerfen. Russland stellt allerdings im Anschluss klar, sich weiter den Vetoeinsatz im Falle des anhal­tenden Krieges in der Ukraine vorzubehalten. Eine potentielle Hintertür bleibt zudem die vage Formulierung der Erklärung zu »Situationen von Massen­verbrechen«. Üblicherweise, so auch in dem von über 120 Staaten unterstützten Verhaltenskodex4, werden darunter Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Kriegsverbrechen gefasst. In der Selbst­verpflichtung der P5 und N6 werden indes nur die ersten beiden ausdrücklich erwähnt. Da Verbrechen gegen die Menschlichkeit bislang nicht in einem Ver­trag kodifiziert sind,5 bleibt viel Spielraum für Inter­pretation, zumal bestehende Definitionen wie die aus dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs nicht herangezogen werden.6 Zudem wird in der Selbst­verpflichtung präventives Handeln ausgespart, so dass mit ihr explizit nur die Unterbindung bereits stattfindender Massenverbrechen erfasst ist.

Dennoch steht der Beschluss für eine unerwartete neue Reformdynamik im SR. Sie hängt vor allem mit den spezifischen Umständen zusammen, die über­haupt erst die lange für ausgeschlossen gehaltene Erweiterung des Gremiums ermöglichten. Die neuen Mitglieder nutzen den daraus resultierenden Schwung und lancieren mit breiter Unterstützung aus der UN-Generalversammlung (UNGA) eine Initiative, um Artikel 27 (3) der UN-Charta wiederzubeleben. Denn dieser setzt dem Vetorecht an sich eine gewisse Grenze, da die ständigen SR-Mitglieder vom Vetoeinsatz ab­sehen sollen, wenn sie selbst Streitpartei sind. Nach einigen Ausnahmen in der Anfangsphase der UN wurde die Regel später faktisch von den ständigen Mit­gliedern ignoriert und damit weitgehend irrele­vant. Zwar bleibt fraglich, ob sich diese Initiative durchsetzen lässt, sie versinnbildlicht aber den frischen Wind im Sicherheitsrat.

Der lange Weg zur Erweiterung: Ende einer unendlichen Geschichte

Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts kam das Thema Reform des Sicherheitsrats in den 1990er Jahren verstärkt auf die Tagesordnung der UN. 1993 setzte die UN-Generalversammlung eine Arbeitsgruppe ein, die sich mit der künftigen Zusammensetzung sowie den Arbeits- und Entscheidungsmethoden des SR befassen sollte. Doch diese erzielte kaum Fortschritte. Einig waren sich die UN-Mitglieder zwar darin, dass größere Legitimität durch angemessene Repräsentation und mehr Effektivität wichtige Argu­mente für eine Reform des Sicherheitsrats seien. Aber wer in dieses Gremium aufrücken sollte und wie die genauen Modalitäten einer Reform aussehen sollten, blieb umstritten.7

Mitte der 2000er Jahre erfolgte ein neuer Reformvorstoß. Vor dem Hintergrund der tiefgehenden Kon­troversen im SR über die US-geführte Invasion und Besetzung des Irak präsentierte eine Gruppe um Bra­silien, Deutschland, Indien und Japan (G4) konkrete Vorschläge für die Erweiterung, die auch zwei Staaten aus Afrika einschließen sollte. Damit wurde der so­genannte Ezulwini-Konsens aufgegriffen, in dem sich die afrikanischen Staaten darauf geeinigt hatten, min­destens zwei ständige Sitze mit den gleichen Rechten wie die P5 zu fordern.8 Zum UN-Weltgipfel 2005 schien sich das Fenster für eine Reform zu öffnen, doch letztlich blieb die notwendige Zweidrittel­mehrheit in der Generalversammlung unerreichbar. Denn neben den erwähnten Vorschlägen, die noch relativ kompatibel miteinander waren, gab es einen wei­teren, nämlich die Erweiterung ausschließlich auf zusätzliche nichtständige Sitze zu beschränken. Die Gruppe Uniting for Consensus, die sich für diesen Vorschlag starkmachte, umfasste regionale Rivalen der G4 wie Argentinien, Italien, Pakistan und Süd­korea.9

Weder Generalversammlung noch Regional­organisationen konnten die mangelnde Handlungsfähigkeit des Sicherheitsrats kompensieren.

Seit 2008 fanden kontinuierlich Verhandlungen in einem Intergovernmental Negotiations Forum statt, das aber keine neue Dynamik für eine umfassende Reform entwickelte. Parallel dazu erwies sich der Sicherheitsrat in vielen Krisen und Gewaltkonflikten immer wieder als uneins, von Libyen 2011 über die Annexion der Krim durch Russland 2014 bis zu den politischen Unruhen in Venezuela 2019. In den 2020er Jahren hatte die Zerstrittenheit des SR wegen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und des Überfalls der Hamas auf Israel sowie der folgenden Militärintervention im Gaza-Streifen vermeintlich einen Höhepunkt erreicht. Nun entpuppte sich der Rat auch in Fällen als nicht mehr handlungsfähig, über die zuvor noch – wenn auch nach schwierigen Ver­handlungen – ein Konsens zustande gekommen war, etwa bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus oder der Verlängerung von Mandaten bestehender UN-Friedensmissionen. Zwar war es im Nachgang zum Summit of the Future 2024 und zur New Agenda for Peace gelungen, kurzzeitig einige Fortschritte zu erzielen. Das galt etwa für die Unter­stützung regionaler Friedensbemühungen durch die UN und die Stärkung der Peacebuilding Commission. Doch bei den bereits manifesten Bedrohungen von Frieden und Sicherheit konnten weder eine wieder­belebte Generalversammlung noch eine aktivere Rolle von Regionalorganisationen den Mangel an Handlungs­fähigkeit des Sicherheitsrats kompensieren. Die Ende 2023 geschaffene Möglichkeit, AU-geführte Frie­densmissionen durch die UN zu finanzieren, blieb letzt­lich weitgehend ungenutzt.

Gleichzeitig lieferten sich die beiden Lager unter den P5 – Frankreich, Vereinigtes Königreich und USA einerseits, China und Russland andererseits – einen Wettlauf um die Unterstützung durch Länder des globalen Südens. Dieser hatte seit Jahrzehnten und immer nachdrücklicher seine Unterrepräsenta­tion im SR kritisiert. Der stetig wachsende Reform- und Krisendruck in den 2020er Jahren10 in Verbindung mit dem geopolitischen wie auch geoökonomischen Kalkül der P5 trug schließlich dazu bei, dass 2027 die Zeit für die Erweiterung des Sicherheitsrats reif wurde.

Der neue Sicherheitsrat

Um die Zusammensetzung des Sicherheitsrats zu modifizieren, musste die UN-Charta geändert werden. Die Hürden dafür waren hoch: Jede Änderung erfor­derte eine Zweidrittelmehrheit in der Generalversammlung sowie die Ratifizierung durch zwei Drittel der UN-Mitglieder, einschließlich aller ständigen Sicherheitsratsmitglieder. Staaten, die eine Charta-Ände­rung erreichen wollen, um Mitglied im SR zu werden, müssen daher sowohl breite Unterstützung unter den 193 Mitgliedern der UNGA haben als auch die Zustimmung der P5 gewinnen. Die UN-Charta selbst enthält allgemein formulierte Vorgaben für eine nicht­ständige Mitgliedschaft im SR: Beiträge zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit sowie zur Verwirklichung der sonstigen Ziele der Organisation. Ein weiteres Kriterium ist die geographische Verteilung der Sitze.11 Auch bei Staa­ten, die danach streben, ständige SR-Mitglieder zu werden, müssten diese Kriterien angelegt werden. Auf dieser Basis mussten sich die ambitionierten Staaten auf eine gemeinsame Kandidatenliste verständigen, um einer Reform näherzukommen und gleichzeitig die Bedenken der P5, vor allem Chinas und Russlands, gegen eine umfassende Erweiterung zu überwinden.

Graphik 1

Graphik 1: Zusammensetzung des UN-Sicherheitsrats

Ausschlaggebend für die Erstellung der Kandidatenliste war die Einigung unter den afrikanischen Staa­ten. Angesichts einer Vielzahl plausibler Kan­didaten fiel die Auswahl besonders schwer, zumal der Ezulwini-Konsens die Rivalitäten eher überdeckte als beilegte. Der Durchbruch gelang, als sich die Kon­turen einer regionalen Einbindung der angestrebten ständigen afrikanischen Sitze in die Abstimmungsprozesse im Rahmen der AU abzeichneten. Benannt wurden schließlich Nigeria und Südafrika. Auf dieser Grundlage wurde gemeinsam mit der G4 eine Kandi­datenliste aufgestellt, die von mehr als zwei Dritteln der UNGA unterstützt werden würde.

Nun ging es darum, die gemeinsame Liste für beide Lager unter den P5 akzeptabel zu machen. Frankreich, das Vereinigte Königreich und die USA befür­worteten die Beitrittsambitionen der G4. China und Russland begrüßten es, dass in Gestalt Südafrikas, Brasiliens und Indiens langjährige Mitglieder bzw. Grün­dungsstaaten der BRICS-Gruppe zum Zuge kom­men sollten. Doch tat sich vor allem China wei­terhin schwer mit der Kandidatur Japans, nicht zuletzt vor dem Hin­ter­grund der Geschichte beider Staaten. Zur Entspannung trug bei, dass die japa­nische Regierung erklärte, künf­tig auf offizielle Besuche am umstrittenen Yasukuni-Schrein verzichten zu wollen.12

Zwar war damit ein wichtiges Hindernis auf dem Weg zur Erweiterung des Sicherheitsrats ausgeräumt. Dennoch sprachen sich China und Russland sowie die Gruppe Uniting for Consensus weiterhin gegen zu­sätzliche ständige Mitgliedschaften im Sicherheitsrat aus. Erst ein Vorschlag aus der L69-Gruppe der Ent­wick­lungsländer, angeführt von Indien, brachte Bewe­gung in die festgefahrenen Reformbemühungen. Neben neuen nichtständigen Sitzen sollte ein künf­tiger Sicherheitsrat eine neue Kategorie von sechs Sitzen umfassen, die als »semipermanent« bezeichnet wurden. Diese werden zu­nächst auf acht Jahre an Mitgliedstaaten vergeben, die anschließend nur mit einer Zweidrittelmehrheit der UNGA abberufen wer­den können, wenn diese sich gleichzeitig auf eine Neubesetzung des jeweiligen Sitzes verständigt, wo­bei die regionale Zuordnung der Sitze zu beachten ist. Anschließend gibt es erst nach zwei aufeinander­folgenden Amtszeiten wieder eine Abwahloption. Damit ist es zwar möglich, dass eine Mitgliedschaft faktisch ohne Unterbrechung andauert, aber sie ist nicht von vornherein als ständig angelegt.13 So war die Basis für eine Einigung geschaffen.

Wie der »Detailteufel« bezwungen wurde

Entscheidend für das Zustandekommen der Reform war letztlich, dass sich einige der regionalen Gruppen angesichts des Handlungsdrucks auf einen Modus einigten, der die Zustimmung auch derjenigen Staa­ten ermöglichte, die nach dem Reformentwurf vorerst nicht selbst semipermanentes Mitglied im Sicherheits­rat werden konnten. Als eine Kerngruppe an Staaten, darunter die G4, die Reformanstrengungen intensivierte, hatten zunächst die Auseinandersetzungen innerhalb der verschiedenen Regionen um eventuelle zusätzliche Sitze spürbar zugenommen. Doch die AU fand mit Hilfe einer Initiative eine regionale Lösung, die zunächst nur die Sitze für gewählte Mitglieder aus ihrem Kreis einschloss. Diese basiert auf einer Eini­gung über die regionale Verteilung bei den Kandidaturen, so dass jede afrikanische Subregion jeweils im Sicherheitsrat vertreten ist. Länder, die sich wie Kenia und Ägypten Hoffnungen auf einen semipermanenten Sitz gemacht hatten, erhielten zudem die infor­melle Zusage, dass sie den ersten Sitz für ein gewähl­tes Mitglied aus ihrer Subregion einnehmen können.

Die europäischen Staaten verständigten sich nach langem Hin und Her darauf, die regionalen Gruppen Osteuropa und Westeuropa / Übrige aufzulösen. Von ihrem ursprünglichen Wunsch nach drei nichtständigen Sitzen rückten die EU-Mitgliedstaaten schließlich ab, verbanden damit jedoch die Forderung nach einem eige­nen Sitz für die Small Island Developing States (SIDS), die besonders vom Klimawandel bedroht sind. So bekamen sowohl die EU-Mitgliedstaaten als auch die verbleibenden europäischen (und übrigen) Staaten jeweils zwei nichtständige Sitze. Deutschland als neues semipermanentes Mitglied des SR sagte eine europäische Ausrichtung seines Sitzes zu. Die neue Rolle sollte in enger Abstimmung mit der EU aus­geübt werden, ohne einen Konflikt mit Frankreich zu riskieren, das der weitergehenden Idee eines EU-Sitzes kritisch gegenübersteht. Italien und einige osteuro­päische Staaten blieben dennoch skeptisch, fürchteten sie doch eine Abnahme ihres Einflusses in den UN. Schließlich forcierten afrikanische wie euro­päische Staaten daher eine Regelung, nach der die Regionalgruppen diejenigen sind, die die Abwahl eines semiper­manenten Mitglieds nach acht Jahren in die UNGA einbringen können. Zudem kann kein neues Mitglied gegen die Mehrheit der Stimmen einer Regionalgruppe berufen werden.

Nach einem ersten konsolidierten Vorschlag gab es wie erwartet heftigen Gegenwind. Russland und China versuchten, den größer werdenden Kon­sens für eine umfassende Reform aufzubrechen. Sie machten sich für zwei neue ständige Sitze afrikanischer Staa­ten ohne Veto stark, lehnten aber jede sonstige Erwei­terung strikt ab. Doch es gelang ihnen nicht, einen Keil in das Reformlager zu treiben. Zum einen war ihr Ansinnen nicht mit den regionalen Absprachen ver­einbar. Zum anderen wurde schnell klar, dass diese Option nicht nur einigen westlichen Ländern Nach­teile bringen, sondern auch eine ausgewogene Reprä­sentation insgesamt behindern würde. Ferner signa­lisierten die USA, dass sie sich nicht gegen eine Erwei­terung stemmen würden, die auf so breiter Zustim­mung beruhte.

Anders als erwartet gruppierten sich die neuen Mitglieder des Sicherheitsrats nicht um die Vetomächte.

In der Folge stieg der Druck auf China und Russland. Hatten sie sich zuvor in wachsendem Maße als Verfechter der Interessen des globalen Südens dargestellt, fiel es ihnen nun immer schwerer, ihre Blockade aufrechtzuerhalten. Nach einigen Anpassungen – so dem Kollektivveto anstelle eines zunächst vorgesehenen individuellen Vetos für die neuen semipermanenten Mitglieder – lenkten beide schließlich ein. Dazu trug auch ihre Erwartung bei, durch das neue Gewicht von Staaten des globalen Südens ihre Position im Sicherheitsrat stärken zu können. China versuchte dennoch, die einheitliche afrikanische Position zu unterminieren, um den Beitritt Japans zu verhindern. Das aber drohte eine massive Entfremdung vom zahlenmäßig starken Block der afrikanischen Staaten nach sich zu ziehen. Zudem wurde die Geste Japans, das historisch belas­tete Verhältnis zu China zu entspannen, international positiv aufgenommen. Einige regionale Kontra­henten der G4 wie Pakistan und Südkorea stimmten in der UNGA zwar trotz allem gegen die Erweiterung. Dies gefährdete aber die notwendige Zweidrittelmehrheit nicht. Im Wesentlichen handelte es sich um eine Reform durch die Hintertür, bei der die skep­tischen ständigen Mitglieder machtpolitisch kalkulierten und darauf bauten, dass ihr jeweiliges Lager im SR gestärkt daraus hervorgehen würde. Doch die Blockbildung, die viele nach der Erweiterung hatten kommen sehen, fand nicht statt.

Neue Dynamik nach der Erweiterung

In der ersten Sitzung des erweiterten Sicherheitsrats wehte bereits ein frischer Wind, den die veränderte Zusammensetzung mit sich gebracht hatte. Deutschland hatte mit den anderen N6 auf eine gemeinsame Erklärung mit den nun 16 gewählten Mitgliedern hin­gewirkt, die vor dieser Sitzung veröffentlicht worden war. Darin mahnten die Unterzeichner einen Neu­start für den Sicherheitsrat an, damit dieser seiner Verantwortung für die Wahrung von Frieden und internationaler Sicherheit wirklich gerecht werden könne. Zugleich erkannten sie ihre eigene Verantwortung für eine konstruktive Zusammenarbeit in die­sem Sinne an. Klar wurde aber auch, dass das fort­bestehende individuelle Vetorecht der P5 ein poten­tieller Zankapfel bleiben würde.

Anders als erwartet gruppierten sich die neuen Mitglieder jedoch nicht um die Vetomächte. Vielmehr bewirkte die neue Struktur mit drei unterschied­lichen Kategorien von Mitgliedern und anderer regio­naler Gewichtung, dass eine Dynamik entstand, die bis heute weitere Veränderungen anstößt. Dazu gehört, dass die fünf ursprünglichen ständigen Mit­glieder freiwillig der Einschränkung ihres Vetorechts zu­stimmten. Möglich gemacht hatte dies eine starke Initiative der 16 gewählten Mitglieder (E16) für eine Selbstbeschränkung der P5, die von den meisten neuen semipermanenten Mitgliedern sowie Frankreich und dem Vereinigten Königreich mitgetragen wurde. Am Ende ließen sich die USA, Russland und China darauf ein, auf ihr Veto in Situationen von Massenverbrechen zu verzichten. Zwar wurde der Text später in wichtigen Punkten verwässert. Ver­mieden wurde überdies der Bezug auf das Konzept der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect, R2P), das auch unter den neuen Mitgliedern äußerst umstritten ist.14 Doch symbolisch zeigte diese Eini­gung, welche Möglichkeiten die SR-Mitglieder auch ohne die P5 unter den neuen Bedingungen haben.

Bei weiteren Themen und den Arbeitsmethoden des Rats vertreten die neuen Mitglieder ebenfalls starke Positionen. Grundlage dafür ist die enge Abstimmung gemeinsamer Standpunkte innerhalb einiger Ländergruppen. Schon bei der Durchsetzung der SR-Erweiterung hatte sich dies als Erfolgsrezept herausgestellt. Infolge der neuen Mehrheitsverhältnisse verändert sich zudem die Dynamik im Sicherheitsrat. So erweist es sich rasch als vorteilhaft, dass die Staaten aus Gründen der Arbeitseffizienz gebün­delte Anträge und Redebeiträge abgeben, damit Dis­kussionen und Beschlussfassungen nicht ausufern. Der Abstimmungsmodus in der EU soll vor allem Deutschland als neues semipermanentes Mitglied an gemeinsame Positionen binden. Darüber hinaus schafft beispielsweise die neu vertretene Gruppe der kleinen Inselstaaten eigens ein Forum, um sich auf die Kandidaturen zu einigen. Dieses Forum wird letzt­lich auch für die Abstimmung inhaltlicher Vorstöße genutzt.

Die Erweiterung hat außerdem Auswirkungen auf die Mehrheitsverhältnisse: Für die erforderlichen 60 Pro­zent Zustimmung sind nunmehr 17 Stimmen (von 27) nötig statt früher neun (von 15). Das bedeutet, dass etwa die europäischen, afrikanischen und latein­amerikanischen Staaten gemeinsam eine Mehrheit haben, sofern die semipermanenten und ständigen Mitglieder aus diesen Regionen sich anschließen. Gleichzeitig kann es auch eine Mehrheit ohne die westlich orientierten Staaten (also die G7 plus gleich­gesinnte Staaten) geben. China und Russland können eine Mehrheit organisieren, aber nur wenn es ihnen gelingt, alle 15 Repräsentanten des globalen Südens auf ihre Seite zu ziehen.

Diese Mehrheitsverhältnisse sind einer der Gründe dafür, dass die P5 nicht grundsätzlich auf die Veto­möglichkeit verzichten. Doch auch für sie wird es schwieriger, Mehrheiten für die Beschlussfassung zu organisieren. Zudem erhöht die Verlängerung der nichtständigen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat von zwei auf vier Jahre die Anreize und den Druck, sich als gewähltes Mitglied personell und inhaltlich besser aufzustellen.

Die neue deutsche UN-Politik

Deutschland hat in diesem Szenario deutlich mehr Möglichkeiten, Einfluss auf die Arbeit der UN zu nehmen. Gleichzeitig erwarten die europäischen Partner, dass Positionen und Vorstöße eng mit ihnen abgestimmt werden. Mit seinem neuen semipermanen­ten Sitz verfügt Deutschland über eine Sonder­stellung, die jedoch zunächst nur eine bestimmte Zeit lang besteht und von der Regionalgruppe indirekt bestätigt werden muss. Deutschlands SR-Mitglied­schaft ist damit eindeutig regional eingebettet. An­gesichts einer nicht eingetretenen Blockbildung im Sicherheitsrat muss Deutschland je nach Thema immer wieder für eigene Positionen und um geeig­nete Partner werben, vor allem unter den Staaten des globalen Südens.

Unter Federführung des Auswärtigen Amtes und in enger Abstimmung mit den EU-Partnern wird zunächst ein umfassendes Konzept für die Ausgestaltung des deutschen Sitzes im Sicherheitsrat erarbeitet. Als besonders schwierig erweist sich die Koordinierung mit Frankreich, das sich als »altes« ständiges Mitglied dem EU-Abstimmungsmodus nicht unterworfen hat. Deutschland muss hier deutlicher eigene Positionen entwickeln und zugleich zu verhindern suchen, dass diese zum Spaltpilz im Verhältnis zu den engsten Part­nern werden. Ein weiterer Spagat besteht darin, die prinzipiell weiterhin enge Bindung an die USA und die intensivierte Zusammenarbeit mit den neuen Mitgliedern im SR auszubalancieren. Deutschland und die übrigen N6 sind sozusagen ständige Mitglieder auf Probe. Das erhöht den Druck, Rechenschaft nicht nur in der eigenen Regionalgruppe abzulegen, sondern auch gegenüber allen Mitgliedern in der UNGA. Zudem führt die Option des Kollektivvetos dazu, dass mehr Abstimmung unter den N6 vonnöten ist, wobei stets der Konsens mit Brasilien sicher­gestellt sein muss. Damit verschieben sich letztlich die außenpolitischen Koordinaten. Sichtbar wird das zum Beispiel, als eine deutsch-japanische Initiative zu Klima und Sicherheit, die eng mit den kleinen Insel­staaten koordiniert ist, am Einspruch der neuen brasilianischen Regierung scheitert. Dagegen zahlt es sich gleich mehrmals aus, dass die deutsche UN-Politik ab Mitte der 2020er Jahre immer enger mit deutschen Initiativen in der G20+ verzahnt wurde. So werden politische Vorhaben parallel in beiden Foren verfolgt, was zu ihrer größeren Akzeptanz im multi­lateralen Rahmen beiträgt. Der dafür notwendige Auf­wuchs der Kapazitäten deutscher Außenpolitik für eine ambitionierte Agendasetzung und ‑umset­zung beginnt Früchte zu tragen.

Macht ohne Legitimität: Wie ein amerikanischer Tech-Oligarch die westliche Ukraine-Politik entgleisen lässt*

Sabine Fischer / Margarete Klein / Marco Overhaus / Johannes Thimm

Sommer 2025 in Kyjiw: Wochenlange Massendemon­strationen auf dem Maidan Nesaleschnosti (Platz der Unabhängigkeit) drohen Präsident Wolodymyr Selen­skyj zu Fall zu bringen. Die Menschen schwenken die blau-gelbe Fahne der Ukraine und die EU-Fahne. Sie skandieren »Nieder mit den Besatzern« und »Die Ukraine ist Europa«. Es kommt zu heftigen Ausschreitungen zwischen Ordnungs­kräften und Demonstrierenden.1

Den Protesten ist der Zusammenbruch der ukrai­nischen Front im Osten und Süden des Landes voran­gegangen. Bereits in der zweiten Jahreshälfte 2024 hat die internationale militärische Unterstützung spürbar nachgelassen. Die Abnutzung der ukrai­nischen Streitkräfte schreitet voran, die Kraft zum Widerstand gegen die russischen Truppen schwindet. Davon ermutigt startet Russland im April 2025 eine neue Offensive und kann erstmals seit dem Frühjahr 2022 durchschlagende Erfolge verbuchen.

Es gelingt den russischen Streitkräften nicht nur, die Gebiete Saporischschja und Cherson vollständig zu besetzen. Sie rücken im nordöstlichen Front­abschnitt über die administrativen Grenzen der Gebiete Luhansk und Donezk vor und nehmen Char­kiw ein, die drittgrößte Stadt der Ukraine.

Die russische Schwarzmeerflotte, die im Sommer 2023 teilweise aus Sewastopol an die russische Küste verlegt werden musste, kehrt auf die Krim zurück und erneuert ihre Angriffe auf die Hafenstadt Odessa. In der Folge kommt die ukrainische Getreideausfuhr über das Schwarze Meer gänzlich zum Erliegen. Der russische Vormarsch löst eine neue Fluchtwelle in der Ukraine aus. Hunderttausende Binnenvertriebene flüchten in die Mitte und den Westen des Landes. Gemeinden, Bezirksverwaltungen und die Regierung in Kyjiw zeigen sich außerstande, diese Menschen zu versorgen, so dass viele von ihnen sich auf den Weg in die angrenzenden EU-Staaten machen.

Auch die Wiederherstellung zerstörter Infrastruktur, die in den ersten beiden Kriegsjahren gut funk­tio­nierte, wird nun zu einer Überforderung. Die Ukraine verwandelt sich in einen failing state und kann ihren staatlichen Aufgaben nur noch eingeschränkt nach­kommen. Derweil erhalten ukrainische Partisanengruppen Zulauf, die bereits seit Ende 2024 im Osten und Süden des Landes gegen die russischen Besatzer kämpfen. Sie schöpfen aus der überwältigenden Mehr­heit der ukrainischen Bevölkerung, die sich weiterhin vehement gegen einen russischen Sieg stemmt.

Um sich ein Mindestmaß an staatlicher Hand­lungsfähigkeit zu bewahren, einigt sich die manövrier­unfähige politische Führung der Ukraine im Juni 2025 mit Moskau auf einen Waffenstillstand entlang der beste­henden Frontlinie. Gerade auch wegen der zusätz­lichen Landnahmen feiert das Putin-Regime dies als großen Sieg. Russland, so die triumphale neue Propagandaerzählung, habe sich auf der ganzen Linie durchgesetzt und die vom Westen aufgehetzte ukrainische »Junta« daran gehindert, ihre Aggression gegen die »russische Welt« fortzuführen. Von der Destabilisierung der nicht besetzten Ukraine erwarten sich Putin und seine Getreuen die baldige »Neuregelung« der innenpolitischen Verhältnisse – also einen Regimewechsel im russischen Interesse.

Die Ukraine fällt der amerikanischen Innenpolitik zum Opfer

Der Technologieunternehmer Elon Musk hat keinen geringen Anteil am Wegbrechen der US-amerika­nischen Unterstützung für die Ukraine. Schon seit län­gerem hat er die Ukraine-Politik der Biden-Adminis­tration scharf kritisiert. Musk nutzte sowohl die enorme Aufmerksamkeit für seine Person in den Medien als auch seine Social-Media-Plattform X, um sich lautstark in die Debatte einzumischen. Gezielt griff Musk die Skepsis in Teilen der Öffentlichkeit und innerhalb der republikanischen Partei auf.

Dabei war schon früh klar, dass die Auseinandersetzung um den richtigen Ansatz gegenüber dem Krieg in der Ukraine auch im Wahlkampf eine Rolle spielen würde. Ebenso deutlich war, dass der Ausgang der Präsidentschaftswahlen 2024 entscheidend für die zukünftige US-Politik sein würde. Bereits im Herbst 2023 mündeten Auseinandersetzungen, die sich zwischen dem Weißen Haus und dem Kongress sowie innerhalb des US-Kongresses über die Ukraine-Hilfen abspielten, in eine Blockade, die nur noch phasenweise durchbrochen werden konnte. Nach den Wah­len verschlechtern sich die innenpolitischen Rahmen­bedingungen für die Ukraine-Hilfen weiter.

Aus Sicht Kyjiws ist es zwar zunächst eine gute Nachricht, dass Donald Trump bei den Präsidentschaftswahlen vom November 2024 unterliegt. Es gelingt ihm nicht, mehr Unterstützung jenseits seiner loyalen Basis zu gewinnen und neue Wählergruppen anzusprechen. Nach dieser Niederlage verliert Trump an der republikanischen Basis viel von seiner Anzie­hungskraft, die sich stark auf den Mythos des Un­besiegbaren gründete. Gerichtsprozesse schränken seine Handlungsfähigkeit weiter ein, er verbringt die meiste Zeit in Gerichtssälen und befindet sich nach seiner Verurteilung zu enormen Strafzahlungen mittlerweile in ernsten finanziellen Schwierigkeiten. Auch wenn er nach wie vor für Schlagzeilen sorgt, beginnen seine bis dahin loyalen Anhänger, sich nach neuen Führungsfiguren umzusehen.

Auf der demokratischen Seite übernimmt Kamala Harris im Juli 2024 überraschend die Kandidatur, nach­dem Joe Biden aus gesundheitlichen Gründen zurücktreten musste. Eine knappe Mehrheit der Wählerinnen und Wähler in den wahlentscheidenden Staaten stimmt am Ende für sie – allerdings überwiegend aus Mangel an Alternativen und ohne jeglichen Enthusiasmus.

Dieser Umstand und die ohnehin geringe Popu­larität der ersten Präsidentin in der amerikanischen Geschichte tragen dazu bei, dass Harris schon zu Beginn ihrer Amtszeit als äußerst schwach gilt. Sie verfügt über zu wenig politisches Kapital, um den Kongress davon zu überzeugen, der Ukraine weiterhin Hilfe zu gewähren.

Die Brüche in der inneramerikanischen Koalition zur Unterstützung der Ukraine waren seit Ende 2023 sichtbar. Zunächst hatten eine deutliche überpartei­liche Mehrheit im Senat sowie etwa drei Viertel der Abgeordneten im Repräsentantenhaus finanzielle und militärische Rückendeckung für die Ukraine gut­geheißen. Mit der Zeit aber schwand dieser Rückhalt, und so scheiterte die Bereitstellung weiterer Mittel an der Blockade durch das Repräsentantenhaus. Dessen republikanischem Vorsitzenden Kevin McCarthy gelang es ebenso wenig wie seinem Nachfolger Mike Johnson, die Widerstände zu überwinden. Auch der Präsidentschaftskandidat Donald Trump verhinderte immer wieder eine Einigung, indem er aus wahltaktischen Gründen verschiedene Vorschläge für Kompro­misse zwischen den Parteien torpedierte. Die Verab­schiedung der nötigen Finanzmittel für die Ukraine steckte daher vor den Wahlen fest.

Nach den Wahlen verfügen die Republikaner wei­terhin über eine knappe Mehrheit im Repräsentantenhaus und nun auch im Senat. Die ideologischen Ränder der Parteien können ihren überproportio­nalen Einfluss sogar ausbauen. Politische Blockaden werden zur Regel.

Angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse und sinkender öffentlicher Unterstützung besonders bei Anhängern der Republikaner weigern sich sowohl der Sprecher des Repräsentantenhauses als auch der Mehr­heitsführer im Senat monatelang, die Abstimmung über ein weiteres Unterstützungspaket für die Ukraine auf die legislative Agenda zu setzen. Auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums bröckelt die Unterstützung: Einige progressive Demo­kraten drängen immer offener, Washington solle sich für ein Ende des Krieges starkmachen.

Enter Elon Musk

Diesen Zustand weiß Elon Musk trefflich für sich zu nutzen. In den USA gibt es eine lange Tradition von erfolgreichen Unternehmern, die Einfluss auf die Politik zu nehmen versuchen. Sie unterstützen ent­weder bestimmte Ziele oder Personen finanziell oder nutzen ihren Status, um selbst für ein politisches Amt zu kandidieren. Die Grenzen zwischen Philanthropie und Lobbyismus in eigener Sache sind dabei nicht immer eindeutig.

Der Technologieunternehmer Elon Musk unterscheidet sich allerdings in mehrfacher Hinsicht von anderen, die ihre Vermögen für politische Ziele ein­setzten oder dies heute noch tun, von Henry Ford und John D. Rockefeller bis hin zu Bill Gates und Michael Bloomberg. Musk ist nicht nur einer der reichsten Menschen der Welt, seine Unternehmen sind auch gleich in mehreren strategisch wichtigen Sektoren tätig. Das verleiht ihm eine nicht gekannte Macht und mehr als anderen den Status eines Oligarchen.

Musk kritisiert immer lauter die offizielle Ukraine-Politik und untermauert seinen Anspruch, aktiv an einer Lösung mitzuwirken.

Tesla ist Pionier und erfolgreichster Hersteller von Elektrofahrzeugen. Space X ist inzwischen unverzicht­barer Partner der US-Regierung für die bemannte Raumfahrt. Starlink ist bislang konkurrenzlos als Anbieter von Internetkommunikation über Satelliten in einer niedrigen Erdumlaufbahn und aufgrund der hohen Satellitenzahl weniger anfällig für Angriffe. Starlink ist zudem von entscheidender Bedeutung für die Kommunikationsfähigkeit der ukrainischen Gesell­schaft und die Kampffähigkeit des ukrainischen Militärs.

Unmittelbar nach Beginn der vollumfänglichen russischen Invasion versorgte Elon Musk die Ukraine über sein Satellitennetzwerk unentgeltlich mit mili­tärisch essentiellem Internetzugang. Mit dem Fort­dauern des Kriegs wuchsen jedoch seine Bedenken wegen der finanziellen und politischen Kosten dieses Vorgehens. Er begann, öffentlich mit dem Gedanken zu spielen, seine Unterstützung für die Ukraine ein­zustellen. Dies offenbarte auf dramatische Weise, wie abhängig sowohl die ukrainische als auch die ameri­ka­nische Regierung in diesem Punkt von Musk waren. Das amerikanische Verteidigungsministerium schloss am Ende einen Vertrag mit Starlink. Obwohl die Details vertraulich blieben, wurde Starlink wohl vom Pentagon für seine Dienstleistungen bezahlt. Gleichzeitig übernahm die US-Regierung die poli­tische Verantwortung für die Bereitstellung des Inter­nets in der Ukraine.2

Mit dem Erwerb des Kurznachrichtendienstes Twitter schließlich kontrollierte Musk auch die nut­zer­stärkste Plattform im Bereich der politischen Kom­munikation. So ist es wohl kein Zufall, dass Musk nach der Übernahme von Twitter im Herbst 2022 begann, sich dezidierter politisch zu äußern. Er nutzte die Plattform, die er in »X« umbenannte, als Sprachrohr für sich selbst und gab Positionen Raum, mit denen er sympathisierte. Nach und nach mischt er sich nun auch offen und zunehmend aggressiv in die amerikanische Außenpolitik ein. Die Kontroversen zur Ukraine-Politik und die institutionelle Schwäche des politischen Systems der USA geben ihm im Laufe des Jahres 2024 die Möglichkeit, seinen Einfluss zu erweitern. Im April 2025 passiert schließ­lich, was viele zuvor befürchtet hatten: Elon Musk setzt seinen enormen technologischen und gesellschaftlichen Einfluss gegen die ukrainischen Vertei­digungsbemühungen ein. Er spielt also eine zentrale Rolle bei der Herstellung einer militärischen Situa­tion, in der die politische Führung in Kyjiw sich gezwungen sieht, einem für die Ukraine überaus nachteiligen Waffenstillstand zuzustimmen.

Musk kritisiert immer lauter die offizielle Ukraine-Politik und untermauert seinen Anspruch, aktiv an einer Konfliktlösung mitzuwirken. Bereits im Oktober 2022 hatte er auf Twitter einen »Friedensplan« ver­öffentlicht und dafür geworben. In seinem Plan sprach Musk sich für die Anerkennung der Krim-Annexion aus, rief die Ukraine auf, ihre Nato-Ambition zugun­sten eines neutralen Status aufzugeben, und skiz­zierte einen Weg zu Referenden in den vier annektierten Gebieten Saporischschja, Cherson, Donezk und Luhansk.

Damit griff Musk offensichtlich Positionen des Kreml auf. Zudem schürte er Zweifel an der Fähigkeit der Ukraine, den Abwehrkampf gegen Russland zu gewinnen, und verbrämte dies als Sorge vor einer möglichen Eskalation, welche die Ukraine selbst schä­digen würde. Entsprechend positiv wurden Musks Einlassungen in Moskau aufgenommen. Zwar lehnte der Sprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, die Idee von Referenden ab, bezeichnete es aber als »sehr positiv«, dass Musk sich für eine »fried­liche Lösung« einsetze.3

Elon Musk wird 2024 in der innenpolitischen Auseinandersetzung der USA zum Unterstützer und Sprachrohr einer losen Koalition von republikanischen Kongressmitgliedern, libertären Advocacy Groups, meinungsstarken Think-Tanks und ehemaligen US-Generälen, die immer mehr Gehör in Washington finden.4 Unter dem Slogan Rebuilding American Strength fordert diese Koalition nun unter anderem, die USA sollten sich aus der Ukraine zurückziehen und mit Russland in Verhandlungen treten.

Konservative Republikaner, die zuvor gerne gegen die linksliberale Kultur und politische Korrektheit von Silicon Valley wetterten, nehmen Musk als schil­lerndste Persönlichkeit unter den Tech-Milliar­dären dankbar in ihre Reihen auf. Auch der rechtslibertäre Milliardär und Investor Peter Thiel äußert sich zu­stimmend, indem er darauf verweist, die Sicherung der Grenze zu Mexiko und die Bekämpfung des isla­mistischen Terrors hätten Priorität vor dem Krieg in der Ukraine.

Elon Musk durchläuft damit in seiner außenpoli­tischen Positionierung eine Radikalisierung, die zuvor schon bei innen- und gesellschaftspolitischen Themen sichtbar geworden war. Er, der zuvor mit seinen dif­fus libertären Positionen lange nicht eindeutig in ein Rechts-links-Schema gepasst hatte, rückte nun immer weiter nach rechts.5 Bei innen- und außenpolitischen Themen wachsen die Überschneidungen mit den ideo­logischen Positionen der sogenannten Alt-Right-Bewegung sowie des rechten Flügels der Republikaner und nicht zuletzt von Donald Trump und seinen Anhängern.6

Musks ohnehin vorhandene Skepsis gegenüber staatlichen Institutionen und jeder Form staatlicher Regulierung wuchs infolge von Verfahren verschie­dener Behörden gegen seine Aktivitäten.7 Seine vermeintlich uneingeschränkte Unterstützung für freie Meinungsäußerung und seine Ablehnung linker »politischer Korrektheit« verstärkten seine Neigung zu verschwörungstheoretischen und rechtsradikalen Ideen.8 Das brachte ihm in rechten Kreisen Beifall, von links hingegen Kritik.

Schließlich übernimmt er auch die im Trump-Flügel der Republikaner verbreiteten Sympathien für autoritäre Regierungschefs mit globalem Gestaltungs­anspruch wie Xi Jinping und Wladimir Putin. Je mehr Kritik er erntet, desto dramatischer inszeniert er sich als Opfer des amerikanischen »Deep State«, wie Donald Trump es vorgemacht hat. Musk gewinnt damit große Sympathien unter den heimatlos gewor­denen Trump-Anhängern und kopiert zugleich des­sen provokativen Stil. Wie Trump geriert er sich als Genie, erfolgreicher Unternehmer und revolutionärer Outsider, der mit dem Establishment abrechnete.

Das persönliche Verhältnis zwischen den beiden Männern verschlechterte sich jedoch spürbar, nach­dem Musk bereits im Juni 2022 Sympathien für Ron DeSantis als Präsidentschaftskandidaten bekundet hatte.9 Donald Trump begann daraufhin, sich abfällig über Musk zu äußern. Dieser reagiert, indem er sich wiederum auf X über Trump lustig macht. Spekula­tionen, dass er selbst bei den US-Wahlen 2028 das Präsidentenamt anstrebt, bestätigt Musk jedoch nicht.

Dennoch wird er nicht müde, sich auf allen erdenklichen Kanälen zu äußern, neben X auch in tra­ditionellen Medien und vor allem Nischenmedien der alternativen Rechten wie den Podcasts von Steve Bannon und Joe Rogan.

Das »Phänomen Musk« wird möglich, weil der Staat strategisch relevante Sektoren der Privatwirtschaft überlassen hat.

Seine Treffen mit ausländischen Politikern und Politikerinnen sowie Regierungschefs sorgen immer wieder für Aufsehen. Besonders leicht findet Musk Zugang zu jenen Regierungen, die es vermieden haben, sich im Ukraine-Krieg eindeutig zu positio­nieren. 2024 trifft er sich in kurzer Abfolge mit Narendra Modi, Recep Tayyip Erdoğan, Viktor Orbán und Argentiniens Präsidenten Javier Milei. Durch diese »Staatsbesuche« bringt sich Musk in die Schlag­zeilen und verschafft gleichzeitig dem Ruf nach einem Waffenstillstand Reichweite.

Musks zunehmende innen- und außenpolitische Bedeutung erklärt sich aus einem Zusammenwirken mehrerer Faktoren, die mit den Schwächen des poli­tischen Systems der USA zusammenhängen, jedoch darüber hinausgehen. Das »Phänomen Musk« wird möglich, weil sich der Staat aus strategisch relevanten Sektoren zurückgezogen und diese dem Privatsektor überlassen hat. Verbunden mit Veränderungen in der amerikanischen Medienlandschaft steigert das den »Pop«- bzw. »Celebrity«-Faktor seiner Person.

In einer Zeit, in der breite Bevölkerungsschichten desillusioniert sind und den Glauben an den »ameri­kanischen Traum« verloren haben, übt Musk auf viele eine fast unwiderstehliche kulturelle Anziehungskraft aus – auf Blue-Collar-Arbeiter ebenso wie auf manchen Tech-Unternehmer in Silicon Valley. Mit seiner extremen Risikobereitschaft und seiner Ver­achtung für staatliche Regularien steht Musk bei vielen für Amerikas lange verloren geglaubte Ideale.

Eine ungewisse Zukunft für die amerika­nische Demokratie – und für Europa

Auch in manchen europäischen Ländern, deren Regie­rungen bislang hinter Kyjiws standen, bröckelt 2024/25 die Unterstützung für die Ukraine. Dies ist zum einen die Folge der schwächelnden amerikanischen Führungsrolle. Zum anderen geraten demokratische Regierungen durch den Aufstieg populistischer Kräfte aus dem rechten und linken Spektrum unter politischen Druck, vor allem die finanzielle, aber auch die militärische Unterstützung für die Ukraine einzustellen sowie die Sanktionen gegen Russland zu lockern. Elon Musk unterstützt dabei mit Hilfe seiner Plattform X rechtspopulistische Kräfte, die prorussische Positionen vertreten. Dies betrifft Wahlkämpfe in einzelnen Staaten – wie Österreich (2024) und Deutschland (2025) – sowie die Wahlen zum EU-Parlament (2024). Gezielt schürt Musk Desinforma­tion, zum Beispiel über die vermeintliche Veruntreuung von EU-Hilfsgeldern durch hochrangige ukrai­nische Politiker und Politikerinnen oder die illegale Weitergabe westlicher Militärtechnik an Terrororganisationen im Nahen Osten. Korruptionsvorwürfe und Narrative vom angeblich scheiternden ukrai­nischen Staat sollen die westlichen Unterstützer der Ukraine zermürben. Das erschwert es den Staaten der EU beträchtlich, eine gemeinsame außenpolitische Position für die Union zu formulieren. Die Bündnis­solidarität der Nato zeigt Risse.

Das Putin-Regime profitiert auf ganzer Linie von diesen Entwicklungen in den USA und in Europa: Russische Desinformation verschärft gezielt die Span­nungen innerhalb der westlichen Gesellschaften und treibt die Spaltung des transatlantischen Bündnisses voran. Die wachsende Polarisierung kommt den euro­päischen rechtspopulistischen Kräften zugute und schwächt spürbar die demokratischen Parteien. So geraten nach der amerikanischen auch die europäischen Demokratien zusehends in Schwierigkeiten.

Die Einhegung nicht legitimierter Macht

Sollte das hier skizzierte Szenario Wirklichkeit wer­den, hätte dies nicht nur gravierende Auswirkungen für die Zukunft der Ukraine und damit für die euro­päische Sicherheit. Dieses Risiko wirft auch ein Schlaglicht auf den fragilen Zustand der westlichen Demokratien. Es verdeutlicht außerdem, welch kritischen Einfluss nicht gewählte Einzelpersonen – in diesem Fall ein »Tech-Oligarch« – auf die Politik nehmen können, wenn die institutionellen Grund­lagen demokratischer Repräsentation außer Kraft gesetzt und nachhaltig beschädigt werden. In den USA hat das Fehlen eines überparteilichen Koopera­tionswillens – die geradezu gegenseitige Verachtung der beiden großen Parteien und ihrer jeweiligen An­hängerschaften – nicht nur das öffentliche Vertrauen in die politischen Institutionen untergraben. Es hat auch extremistischen Minderheiten überproportio­nalen Einfluss verschafft und könnte schließlich dem »Phänomen Musk« den Boden bereiten. Ähnliche Pro­zesse können sich zeitgleich in europäischen Demo­kratien abspielen. Die politische Dysfunktionalität öffnet unfreundlicher ausländischer Einflussnahme besonders aus Russland oder China Tür und Tor. Verschärft wird das Problem durch die weitgehende Zerstörung eines Mediensektors, der überparteilichen und professionellen Standards verpflichtet ist.

Deutschland und die EU haben Möglichkeiten, Demokratie, die europäische Sicherheit und die Ukraine vor einer solchen Entwicklung zu schützen:

  • In Politik und Öffentlichkeit muss das Bewusstsein für den Fall geschärft werden, dass demokratisch nicht legitimierte Einzelpersonen unverhältnis­mäßig viel Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse erhalten. Sich einzumischen ist ihr Recht, und kontroverse Diskussionen gehören zum Wesen der Demokratie. Doch diese gerät in Gefahr, wenn exorbitante finanzielle Ressourcen und all­gegenwärtige Kontrolle, kombiniert mit einem Per­sonenkult, eingesetzt werden. Personen wie Elon Musk dürfen nicht hofiert werden, bloß weil es aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen opportun erscheint. Dass Musk international von Regierungen empfangen und dabei fast wie ein Staatsführer behandelt wird, verleiht ihm den Schein von Legitimität. Das gilt es zu vermeiden.

  • Demokratische Regierungen müssen daran arbei­ten, die technologische Abhängigkeit von global agierenden Privatunternehmen zu reduzieren. Sie dürfen sich nicht den politischen Launen von Tech-Oligarchen unterwerfen. Dafür ist es nötig, Lücken und blinde Flecken in der eigenen Technologie­politik zu identifizieren und zu beseitigen. Ob bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz, der Welt­raumpolitik, der Bereitstellung kritischer Infrastruktur, Rüstungspolitik oder (sozialen) Medien – je mehr diese strategischen Bereiche allein dem Privatsektor und monopolistischen Unternehmen überlassen werden, desto größer die Gefahr, dass (über)mächtige Geschäftsleute ihre Position ausnutzen, mit ungewissem Ausgang für die Demokratie.

  • Die EU sollte ihre Politik der Regulierung von Digi­talisierung und Technologiepolitik konsequent fort­führen. Im Hinblick auf Datenschutz und Stan­dards für digitale Produkte und Dienstleistungen hat Brüssel bewiesen, dass im europäischen Markt eingeführte Regeln globale Wirkung entfalten können. In den USA ist die Auffassung verbreitet, das Recht auf freie Meinungsäußerung sei absolut und schließe auch demokratiefeindliche, gewaltverherrlichende Aussagen oder Lügen ein. Staaten wie Deutschland verfügen über andere Eingriffsmöglichkeiten, wenn es um die Bekämpfung von Desinformation geht. Zum Schutz der Demokratie und zur weiteren Unterstützung der Ukraine soll­ten diese Möglichkeiten unbedingt genutzt werden.

Pathogene aus dem Permafrost. Bekämpfung einer Tierseuche mit oder ohne Russland

Michael Bayerlein / Miranda Böttcher / Bettina Rudloff / Pedro A. Villarreal

Im europäischen Sommer des Jahres 2027 sieht sich die Welt einer Bedrohung gegenüber, die nicht nur der menschlichen Gesundheit gilt, sondern auch der biologischen Vielfalt und der Nahrungsmittelversorgung. Ein alarmierendes Szenario zeichnet sich ab: Der immer schneller auftauende Permafrost in der russischen Tundra hat eine unbekannte Form von Milzbrand freigesetzt, die vor allem durch Vögel übertragen wird. Europäische Bemühungen, mit Russ­land zusammenzuarbeiten, stoßen dort auf Widerstand.

Zwei Jahre zuvor, im Sommer 2025, wurden in Anrainerstaaten der Arktis die Kadaver von Vögeln und Säugetieren gefunden. Wie kanadische Unter­suchungen zeigten, hatten sich die Tiere mit einer neuen Milzbrandvariante infiziert. Im Winter des Jahres tauchte eine begrenzte, aber doch besorgnis­erregende Zahl an Vögeln und Nutztieren mit dem­selben Erreger in Ländern des globalen Südens auf, in denen arktische Vögel überwintern. Internatio­nal koordinierte Anstrengungen liefen an, um den Ursprung des Ausbruchs zu identifizieren und die Ausbreitung des Erregers einzudämmen. Viele der toten Zugvögel stammten aus der russischen Tundra, wie durch die Analyse von Migrationsmustern er­kenn­bar wurde. Nach Veröffentlichung dieser Ergeb­nisse meldete Russland mehrere verendete Tiere in dem betreffenden Gebiet. Zugleich ließ Moskau wissen, es handle sich um ein regional begrenztes Phänomen, von dem keine globale Gefahr ausgehe.

Unkooperatives Verhalten von Staaten gefährdet eine globale Reaktion

Im europäischen Winter 2026 kommt es in südlichen Ländern erneut zu Ausbrüchen der neuen Milzbrandform – diesmal mit mehr Infektionen, aber auch umfangreicheren Gegenmaßnahmen. Die Schluss­folgerung liegt nahe, dass dieser Zyklus sich jedes Jahr wiederholen wird und eine globale Tierseuche droht. Sie könnte die Biodiversität schädigen, die Sicherheit der Nahrungsmittelversorgung gefährden und im Falle eines zoonotischen Spill-overs eine ernste Gefahr für die Weltbevölkerung mit sich bringen. Es liegen zudem erste Berichte über menschliche Todes­opfer in Russland vor, die jedoch dementiert werden.

Europa ist im Sommer 2027 führend bei der Suche nach Möglichkeiten, mit Russland zu kooperieren. Das Problem soll beseitigt werden, bevor sich der Erre­ger im nächsten Winter abermals verbreitet und tatsächlich eine Pandemie entsteht. Die Ereignisse treffen jedoch auf eine Welt, die nur wenige Lehren aus der Covid-19-Krise umgesetzt hat. Geopolitische Spannungen erschweren es, Gesundheitsgefahren zu bekämpfen und eine robuste globale Gesundheits­architektur aufzubauen. Überdies kommt 2027 der klimawandelbedingten Freisetzung von Pathogenen noch immer nur wenig politische Aufmerksamkeit zu.

Freisetzung von Pathogenen durch den Klimawandel

Bereits 2016 kam es im sibirischen Permafrost zum Ausbruch von Milzbrand – erstmals seit 75 Jahren in Russland. Eine starke Hitzewelle hatte dazu geführt, dass der infizierte Kadaver eines im Permafrost ein­gefrorenen Rentiers auftaute und sich weitere Tiere daran ansteckten.1 In der Folge wurden 70 Personen hospitalisiert, ein Mensch starb.2

Schon seit 2005 werden in Sibirien zunehmend hohe Abweichungen von den Durchschnittstemperaturen verzeichnet.3 Wie Graphik 1 zeigt, waren dabei die Ausschläge in den sieben Jahren vor dem Aus­bruch 2016 besonders stark. Mit Blick auf die pro­gnostizierten Szenarien der globalen Erwärmung ist es sehr wahrscheinlich, dass sich dieser Trend auch in den kommenden Jahren fortsetzen wird.

Graphik 1

Graphik 1: Temperaturentwicklung in Sibirien, 1950 bis 2020

In der Forschung wird seit längerem gewarnt, dass im Permafrost ein bisher unbekanntes Pathogen auf­kommen könnte. Dabei liegt der Fokus häufig auf Viren, da diese grundsätzlich widerstandsfähiger sind als Bakterien oder andere Erreger.4 Doch auch Bakte­rien überleben potentiell im Permafrost.5 Dies gilt insbesondere für Milzbrand, denn das betreffende Bakterium bildet Sporen, die hohe Resistenzen gegen Umwelteinflüsse aufweisen und auch im gefrorenen Zustand überdauern können.6 Pathogene aus dem Permafrost sind zudem oft besonders widerstands­fähig; sie haben mitunter spezifische Anpassungsformen und Überlebensmechanismen entwickelt und treffen auf eine Population an Menschen und Tieren mit wenig bis gar keiner Immunität.7 Im Jahr 2027, als die Warnungen aus der Wissenschaft sich zu bewahrheiten scheinen, kommt der globalen Gesund­heitsarchitektur eine große Bedeutung zu.

Zustand der globalen Gesundheitsarchitektur

Covid-19 hat die Mängel im Zustand der globalen Gesundheitsarchitektur offenbart. Um die Welt besser auf künftige Krankheitsausbrüche vorzubereiten, verhandelt die Staatengemeinschaft seit 2021 über ein Abkommen zu Pandemieprävention, -vorsorge und -bekämpfung (Pandemieabkommen) sowie über die Reform der internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV).8 Neben der gerechten Verteilung medizi­nischer Gegenmaßnahmen im Falle einer Pandemie gelten die Debatten in beiden Prozessen der Frage, wie sich die Kooperation von Staaten sichern lässt, wenn es zu einem Ausbruch kommt, der die globale Gesundheit gefährdet. Während das Abkommen im Jahr 2024 zwar wie geplant abschließend verhandelt wird, haben es drei Jahre später große Staaten wie Russland, China und auch die USA noch immer nicht ratifiziert. Daher kommt ihm jetzt nur wenig Gewicht in der globalen Bekämpfung von Gesundheitsgefahren zu.

Für Staaten bestehen Fehlanreize, über einen Krankheitsausbruch nur verzögert zu informieren.

Unter den noch geltenden IGV von 2005 müssen Staaten die Weltgesundheitsorganisation (WHO) über Ereignisse informieren, die eine gesundheitliche Not­lage internationaler Tragweite nach sich ziehen könn­ten. Dies gilt für bereits bekannte Pathogene, aber ebenso für neue und unbekannte Krankheiten, die potentiell eine Gefahr für die internationale öffent­liche Gesundheit darstellen.9 Milzbrand ist auch nach dem »Terrestrial Code« der Weltorganisation für Tiergesundheit (WOAH) eine meldepflichtige Krank­heit.10 Ein Land, dessen Behörden die Präsenz von Milzbrand – und sei es bei Wildtieren – feststellen, muss das der Organisation also mitteilen. Diese Pflich­ten sind in den IGV und im Terrestrial Code zwar schon klar ausbuchstabiert, werden von den Staaten aber nur mangelhaft erfüllt. Im Vordergrund stehen hier oft ökonomische Überlegungen – Berichte über das Auftreten von Krankheiten können den eigenen Handel und Tourismus einbrechen lassen, weil andere Länder mit entsprechenden Beschränkungen reagieren.11 Daher gibt es problematische Anreize für Staaten, eine frühzeitige Mitteilung zu verzögern und darauf zu hoffen, dass sich die potentielle Gefahr nicht realisiert, die mit dem Krankheitsausbruch ver­bunden ist. Wie die WOAH berichtet, führt diese Dynamik auch bei Milzbrandinfektionen dazu, dass neue Ausbrüche nicht rechtzeitig gemeldet werden.12

Die Verhandlungen über das Pandemieabkommen und über die IGV-Reform kreisen um dieses Problem. Versucht wird, neue Governance-Mechanismen ein­zuführen, die das Teilen von Informationen einfordern und negative Reaktionen anderer Staaten unter­binden. China und Russland haben in den Verhandlungen jedoch schon früh signalisiert, dass sie Berichtspflichten, die im Abkommen verankert wer­den könnten, kritisch gegenüberstehen und etwaige Mechanismen zu deren Durchsetzung ablehnen.13

Angesichts dieser Herausforderungen haben einige Staaten – darunter Deutschland – die Rolle hervor­gehoben, die der Welthandelsorganisation (WTO) im Kampf gegen die Ausbreitung des neuen Milzbrands zukommen könnte. Die Handelsregelungen der WTO als ökonomisches Modul der globalen Gesundheits­architektur bieten eine handelsrechtlich durchsetz­bare Option, wirtschaftliche Fragen und Krankheitsschutz zu vereinbaren. Insbesondere das Abkommen zu sanitären und phytosanitären Maßnahmen (SPS)14 und die Meldepflicht nach dem Terrestrial Code lie­fern eine Rechtsgrundlage für die Feststellung, ob das von Milzbrand ausgehende Risiko es rechtfertigt, Handelsbeschränkungen zu verhängen.

Globale Gesundheitsgovernance mit schwierigen Partnern

Im Jahr 2027 sind die Versuche, eine neue globale Gesundheitsarchitektur zu schaffen, durch geopolitische Spannungen blockiert.15 Diese erschweren die zwischenstaatliche Kooperation und mindern die Effektivität der internationalen Gesundheitsgovernance.16 Dabei ist die Zusammenarbeit aller Staaten erforderlich, um globale Gefahren für die Gesundheit von Menschen und Tieren zu bekämpfen. Bereits wäh­rend der Covid-19-Pandemie scheiterte eine um­fassende Kooperation an der systemischen Rivalität zwischen dem Westen und China (wo das Virus erst­mals aufgetreten war).17 Während die USA unter Prä­sident Donald Trump die Volksrepublik für die Pan­demie verantwortlich machten, wies Peking jegliche Schuld von sich und suchte gerade zu Beginn den Umfang des Ausbruchs in der Stadt Wuhan und die Gefahr herunterzuspielen, die von dem Virus ausgeht.18

Dieses Muster scheint sich 2027 zu wiederholen. Russland erkennt zwar an, dass es Ausbrüche von Milzbrand in der Tundra gibt, betont jedoch – ähn­lich wie China im Fall von Covid-19 –, die Situation sei durch eigene Anstrengungen unter Kontrolle und stelle keine Gefahr dar. Verifizieren können das weder die WHO noch die WOAH oder andere Stellen. Moskau ist wegen des Angriffskriegs gegen die Ukraine international stark isoliert und hat kein Interesse an Kooperation, insbesondere nicht mit dem Westen. Mit der EU oder Deutschland gibt es keine Zusammen­arbeit, solange Putin an der Macht ist. Bedingt durch den Krieg und die anhaltenden Sank­tionen des Wes­tens verfügt Russland nur noch über wenige finan­zielle Ressourcen zur Bekämpfung der Tierseuche. Zudem ist Moskau nur halbherzig bemüht, die in der Tundra lebenden ethnischen Minderheiten vor der Krankheit zu schützen.

Wissenschaftliche Kooperation mit Russland trotz des Ukraine-Kriegs

Wegen Moskaus Krieg gegen die Ukraine besteht 2027 noch ein Embargo für die wissenschaftliche Zusammen­arbeit mit Russland – sowohl in Deutschland als auch in der EU insgesamt.19 Der Notfallcharakter, den die Freisetzung ruhender Krankheitserreger hat, könn­te aber einen Rahmen bieten für eine beschränkte Wiederaufnahme wissenschaftlicher Kooperation.

Neben der deutschen ist auch die europäische Politik stark von dem Ereignis betroffen. Über Grön­land und damit Dänemark ist die EU mittelbar in die Bekämpfung des Ausbruchs vor Ort involviert. Aller­dings gestaltet es sich schwierig, Kommunikations­kanäle mit Russland zu eröffnen, weil dort das Aus­maß des Problems verharmlost wird und die EU vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs als politischer Feind gilt.

China ist 2027 nach wie vor eng mit Russland ver­bunden und die einzige Großmacht, die einen Draht nach Moskau hat. Analog zu dem Vorgehen am Anfang der Covid-19-Pandemie unterstreicht China die Souveränität Russlands und dessen Fähigkeit, mit dem Ausbruch umzugehen. Angesichts der geographischen Nähe zum Ort des Geschehens hat Peking aber ein Interesse daran, dass weitere Ausbrüche verhindert werden. Damit eröffnet sich der EU und anderen WHO-Staaten die Möglichkeit, vermittelt über China einen Austausch mit Russland anzustreben. Denkbar wäre, ein internationales Team unter chinesischer Leitung zu entsenden.

In der EU und Deutschland fragt man sich jedoch, ob eine Forschungsmission unter chinesischer Füh­rung angesichts der Erfahrungen aus der Corona-Zeit akzeptabel und zielführend wäre. Peking erklärte sich seinerzeit erst nach einem langen diplomatischen Pro­zess damit einverstanden, ein Forschungsteam der WHO in die Volksrepublik einreisen zu lassen.20 Diese Gruppe bestand letztlich zur Hälfte aus chi­nesischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich dafür einsetzten, die Theorie eines Laborunfalls aus dem finalen Bericht zu entfernen.21

In der Kooperation mit schwierigen Partnern kommt es darauf an, Schuldzuweisungen zu vermeiden.

Chinas Umgang mit den jetzigen Krankheits­ausbrüchen muss aber nicht zwangsläufig demselben Schema folgen, sofern die Untersuchungen nicht durch Vorwürfe überschattet werden. Gerade in der Kooperation mit schwierigen Partnern kommt es darauf an, Schuldzuweisungen zu vermeiden.22 Im konkreten Fall sollte man daher die Notwendigkeit, den Ursprung des Erregers zu identifizieren, in den Vordergrund stellen. Dies ist leichter bei einem Aus­bruch, der durch auftauenden Permafrost verursacht wird, denn hierfür trägt Russland keine unmittelbare Verantwortung. Neben WHO-Untersuchungsteams könnte der Arktische Rat eine Plattform für unvoreingenommene Kooperation bieten, ebenso die dem One-Health-Ansatz folgende »Quadripartite« aus vier internationalen Organisationen.

Arktischer Rat und One-Health-Ansatz

Die Zusammenarbeit in der Arktis zu allen Umweltfragen, einschließlich Notfällen, erfolgt auf Basis der Arktischen Umweltschutzstrategie von 1991, einem rechtlich nicht bindenden Instrument, das wiederum die Grundlage für den Arktischen Rat bildet.23 Ihm gehören acht Mitgliedstaaten an: Dänemark, Finn­land, Island, Kanada, Norwegen, Russland, Schweden und die USA. Um Phänomene wie Krankheitsausbrüche auf dem Staatsgebiet eines Mitglieds zu unter­suchen, ist die Zustimmung der betreffenden Regie­rung erforderlich. Im Falle Russlands dürfte es großes diplomatisches Engagement erfordern, ein solches Einverständnis zu erlangen. Auch wenn China kein Mitglied des Rates ist, kann hier auf Pekings vermittelnde Rolle zurückgegriffen werden.

Ungeachtet dieser diplomatischen Herausforderungen verdient der Arktische Rat unter operativen wie inhaltlichen Gesichtspunkten besondere Auf­merksamkeit. Zunächst wurde dort die Zusammen­arbeit mit Russland nach dessen Überfall auf die Ukraine ausgesetzt.24 Im Februar 2024 teilte der Rat jedoch mit, dass die Arbeitsgruppen virtuell ihre Tätig­keit mit allen Mitgliedstaaten – also auch Russ­land – wieder aufnehmen.25 Der Arktische Rat kann damit als Forum für die Kooperation mit Moskau dienen und ein Modell für eine entsprechende Zu­sammenarbeit in anderen Organisationen sein.

Inhaltlich sind das primäre Ziel des Rates die nach­haltige Entwicklung und der Umweltschutz im ark­tischen Zirkel.26 Gesundheitsthemen stehen somit nicht im Zentrum der Kooperation. Doch hat der Rat nicht zuletzt aus der Covid-19-Pandemie die Lehre gezogen, dass man das Ökosystem als Ganzes betrach­ten muss – für eine gesunde Umwelt, gesunde Men­schen und gesunde Tiere, ebenso um den Risiken des Klimawandels wirksam zu begegnen. Aus diesem Grund verfolgt er mittlerweile auch ein Projekt zu »One Arctic, One Health«.27 Das Projekt zielt seit 2020 darauf ab, das zirkumpolare Wissen und die Praxis hinsichtlich Krankheitsausbrüchen, Naturkatastrophen und ähnlichen Phänomenen zu stärken. Kon­kret geht es darum, in jedem arktischen Staat und jeder Organisation der sogenannten Ständigen Teil­nehmer des Arktischen Rates28 spezielle One-Health-Kontaktstellen einzurichten, die Anfragen zum Informationsaustausch bei der Untersuchung und Bewältigung von Krankheitsausbrüchen schnell bearbeiten können.

Arktischer Rat und Quadripartite könnten als de-politisierte Plattformen genutzt werden, um mit Russland zu kooperieren.

Neben dem Arktischen Rat ist die Quadripartite von Bedeutung. Sie ist ein Zusammenschluss von WHO, WOAH, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) und dem UN-Umweltprogramm (UNEP). In diesem Kontext ist Russland jedoch seit Anfang des Ukraine-Kriegs eben­falls isoliert, nicht nur wegen der laufenden Sanktionen, sondern auch deshalb, weil Moskau einen Aus­tritt aus der WHO erwägt.29 Dennoch wäre die Qua­dri­partite mit ihrem thematischen Fokus das zentrale Forum, um den Milzbrandausbruch an der Schnitt­stelle von Umwelt und Klimawandel sowie tierischer und menschlicher Gesundheit zu bekämpfen. Ähn­lich wie der Arktische Rat könnte die Quadri­partite als eine Art de-politisierte Plattform genutzt werden, um mit Russland zusammenzuarbeiten. Vor allem der zweite Action Track des Joint Action Plan30 der Quadripartite bietet Anknüpfungspunkte. Dieser Track konzentriert sich darauf, die Risiken durch neu auftretende zoonotische Epidemien und Pandemien zu verringern. Gelingen soll dies durch ein Über­wachungssystem, mit dem sich das Übergreifen des Milzbrands auf Menschen verhindern ließe.

Zusammenarbeit mit Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft

Um den Ausbruch in der Tundra einzudämmen und die dort lebende Zivilbevölkerung zu versorgen, wer­den auch nichtstaatliche Akteure wie die Organisa­tion Ärzte ohne Grenzen aktiv. Sie bemühen sich darum, von Moskau eine Einsatzgenehmigung zu erhalten. Ziel ist vor allem die Impfung von Personen; genutzt werden soll dabei ein Vakzin, das an den unbekannten Milzbrand angepasst ist. Die Anstrengungen scheitern bisher jedoch daran, dass Russland die Arbeit internationaler Nichtregierungsorganisa­tionen (NGOs) im Land an Auflagen bindet. Zudem will Moskau nur einen Impfstoff verwenden, den das staat­liche Gamaleja-Institut für Epidemiologie und Mikrobiologie in Moskau eigens entwickelt hat und der bislang nicht unabhängig geprüft wurde. NGOs weigern sich jedoch, mit diesem Impfstoff zu arbeiten, weil die Ergebnisse von Studien zu seiner Wirksam­keit – wie schon im Fall von Corona beim russischen Vakzin Sputnik V – nicht nachvollziehbar sind.

Daneben warnen Entwicklungs-NGOs gemeinsam mit humanitären Hilfsorganisationen wie dem Welt­ernährungsprogramm vor Hungerkrisen. Sie verwei­sen dabei auf Risiken für die Nahrungsversorgung, die der Ausbruch mit sich bringt. Milzbrand ist als eine Krankheit von Weidetieren bekannt. Es könnte daher zu einer direkten Bedrohung landwirtschaft­licher Nutztiere führen, wenn er über Vögel verbreitet wird. Mögliche Folge sind massive Verluste an Vieh­beständen und damit auch Einbrüche bei der Erzeu­gung tierischer Produkte. Je nach Ausbreitungsregion und deren Stellenwert für die internationale Ver­sorgung könnte es auch außerhalb Russlands zur Nahrungsverknappung kommen. Verschärft wird diese Gefahr durch typische handelspolitische Reflexe – bei Versorgungsangst begrenzen Länder den Nah­rungs­mittelexport häufig über das unmittelbar betrof­fene Produkt hinaus.

Die NGOs haben schon Ende 2025 eine Kampagne gestartet, um die Öffentlichkeit zu mobilisieren und politischen Druck auf beteiligte Regierungen aus­zuüben. Über Plattformen wie Twitter/X, Instagram und TikTok wurden gezielt Informationen, Graphiken und Videos verbreitet, die aufzeigen, dass der frei­gesetzte Milzbrand die weltweite Artenvielfalt bedroht. Auf diese Weise wuchs das Bewusstsein dafür, wie wichtig eine nachhaltige und effektive Zusammen­arbeit auf internationaler Ebene ist, um Lösungen zur Eindämmung des Erregers und zur Prävention einer Pandemie zu entwickeln.

Die Privatwirtschaft, bestehend aus Landwirten, Lebensmittelverarbeitung und Handel, unterstützt die Anliegen der zivilgesellschaftlichen NGOs. Erinne­rungen an die wirtschaftlichen Einbußen werden wach, die ein beschränkter Handel während der Corona-Zeit nach sich zog. Gleichzeitig fordern Bau­ernverbände Ausgleichszahlungen angesichts erwar­teter Absatzverluste. Insgesamt besteht ein erheb­licher gesellschaftlicher Druck auf (westliche) poli­tische Entscheidungsträger, Maßnahmen zu er­greifen, mit denen sich eine Pandemie verhindern lässt.

Unterstützung für den globalen Süden: Impfstoffe und Nahrungsversorgung

Vom Ausbruch des Milzbrands in Russland sind zu­nehmend auch die Länder des globalen Südens betrof­fen. Dies gilt insbesondere für den afrikanischen Kontinent sowie Südostasien. Hier infizieren Zug­vögel lokale Populationen von Wildvögeln sowie domestizierte Hühner und andere Nutztiere. Damit entstehen erhebliche Herausforderungen. Eine Keulung großer Tierbestände wäre überaus riskant, würde sie doch die Sicherheit der Nahrungsversorgung und das Einkommen der lokalen Bevölkerung gefährden.

Bei der Unterstützung für die Länder des globalen Südens kommt es zugleich auf die Entwicklung von Impfstoffen an. Benötigt werden neue Vakzine für Tiere und Menschen. Pharmazeutische Unternehmen in den USA und der EU fordern Zugang zur Quelle der bakteriellen Infektion: zum auftauenden Perma­frost in Russland, um diese Impfstoffe entwickeln zu können. Sie befürchten, chinesische Unternehmen könnten einen privilegierten Zugang zur russischen Tundra bekommen und ein Monopol auf die Impf­stoffproduktion erlangen. Bereits nach der Covid-19-Pandemie gab es im Rahmen der Verhandlungen zum Pandemieabkommen eine große Diskussion über einen »gerechten Vorteilsausgleich«. Dabei ging es um den Zugang zu Pathogenen und Sequenzierungsdaten im Austausch für medizinische Gegenmaßnahmen.31

Das Pandemieabkommen regelt zwar den gerechten Vorteilsausgleich bei Impfstoffen für Menschen, doch wurde es nur von wenigen Staaten ratifiziert. Der schnelle Zugang zu dem neuen Pathogen muss daher auf anderem Weg eröffnet werden, sofern Russland Gegenleistungen einfordert. Eine Möglichkeit wäre, Moskau zuzusichern, dass ein gewisser Teil der auf Basis geteilter Pathogene entwickelten Pro­dukte – wie Tests und medizinische Gegenmaßnahmen – zum Selbstkostenpreis abgetreten wird.

Rolle von Handel und WTO

Die WTO bietet ein Regelwerk für offenen Handel, der aufgrund geopolitischer Spannungen unter starken Druck geraten ist. Exportverbote sind unter vage formulierten Kriterien gestattet, werden bislang aber wenig eingefordert. Neu auftretende Seuchen mindern den ohnehin geringen politischen Willen noch weiter, diese Regelungen zu verschärfen. Denn viele Staaten sind daran interessiert, für den Fall neuer Krisensituationen ihren politischen Spielraum zu wahren, was eigenständig erlassene Maßnahmen zur Versorgungssicherheit angeht. Deutschland und die EU verstärken zwar weiterhin Ansätze wie das Agricultural Market Information System (AMIS) der G20,32 das durch Markttransparenz die Versorgungslage erkennbar macht und damit hilft, Beschränkungen zu vermeiden. Die Einspeisung relevanter Daten wird jedoch zunehmend behindert.

WTO-Regeln betreffen auch die Standardsetzung für SPS-Risiken wie Tierseuchen, die durch Krank­heiten verursacht werden, welche der WOAH im Rah­men des Terrestrial Code gemeldet werden müssen. Solche Seuchen können Verbote für Importe aus betroffenen Regionen begründen – eine Option, die 2027 nach den ersten Anzeichen des neuen Milz­brands zunehmend genutzt wird. Abkommen zur wechselseitigen Anerkennung von Kontrollsystemen, wie es sie gerade im Veterinärbereich häufig gibt, werden dagegen vermehrt ausgesetzt, was den Handel weiter behindert und das internationale Vertrauen schwächt.33

Handlungsoptionen für Deutschland und die EU

In der Sicherheitsstrategie der deutschen Regierung von 2023 wird der One-Health-Ansatz als Teil der Pandemieprävention hervorgehoben.34 Dieser Ansatz be­schreibt die enge Verzahnung von Risikobewertungen bei Men­schen, Tieren und der Umwelt. Im Vordergrund steht hier das Anliegen, dass Pandemierisiken, die die Gesundheit von Tieren und Umwelt betreffen, adres­siert werden, noch bevor sie Menschen bedrohen.

Ein in diesem Sinne angelegtes One-Health-Über­wachungssystem könnte in Permafrost-Gebieten ein­gesetzt werden. Es würde dazu beitragen, Risiken zu erkennen, bevor sich Pathogene unter Tieren ver­breiten oder es gar zum Spill-over auf den Menschen kommt. Bedeutung hat ein solches System auch nach einem Ausbruch, denn es bildet die Grundlage für Maßnahmen, die Ausbreitung zu überwachen. Das System müsste multilateral angelegt sein und alle Staaten des nördlichen Polarkreises inklusive Russ­land umfassen. Hierfür müsste die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit dem Land zumindest in be­grenztem Rahmen – etwa in Arbeitsgruppen – wiederaufgenommen werden.

Darüber hinaus gibt es für Deutschland und die EU weitere Handlungsoptionen:

  • Es bedarf einer Zusammenarbeit zwischen Fach­leuten für Klima und solchen für Fragen der menschlichen wie der Tier-Gesundheit; dies ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine antizipatorische Governance. Dabei könnten Eisbohrkerne, die zur Erforschung des Klimawandels gewonnen wurden, einem doppelten Zweck dienen. Sie ließen sich auch von Gesundheitsexpertinnen und ‑exper­ten daraufhin analysieren, welche Arten von Krank­heitserregern sich im Eis verbergen. Gleiches gilt für auftauende Kadaver verendeter Tiere.

  • Auf WTO-Ebene sollten die bestehenden Regelungen stärker verzahnt werden, wie sie niedergelegt sind im veterinärrelevanten SPS-Abkommen, im Terrestrial Code der WOAH, im Agrarabkommen (hinsichtlich möglicher Unterstützungsleistungen für belastete Landwirte), im Dienstleistungsabkom­men (für gesundheitsrelevante Maßnahmen) und im Abkommen über geistige Eigentumsrechte. Auch wenn das multilaterale System derzeit nur schwachen internationalen Rückhalt erfährt, sollte die EU kontinuierlich darauf hinwirken, es zu stär­ken und besser zu strukturieren.

  • Risiken der Nahrungsversorgung sollten durch ein Monitoring erfasst werden, wie es bereits im neuen Dashboard zum Bedarf an Nahrungshilfen angelegt ist, das Deutschland wegen des russischen Krieges gegen die Ukraine initiiert hat.35 Insbesondere soll­te hier die Vulnerabilität von Ländern mit vielen Nutz­tierhalterinnen und -haltern adressiert werden. Gleichzeitig sind die eigenen, vielfach lange etablierten Ansätze vulnerabler Länder zum Umgang mit Risikomanagement zu unterstützen.

Rückschau auf ein Foresight-Szenario 2018: »Regionalarrangement am Golf – Saudi‑Arabien und Iran einigen sich auf Einflusszonen«

Interview mit Azadeh Zamirirad und Stephan Roll

Wenn ihr auf euren Beitrag zur Foresight-Studie 2018 zu­rückblickt: Seht ihr eure Einschätzungen von damals bestätigt, und wenn ja, welches sind dabei die wichtigsten Punkte?

Stephan Roll: Gegenstand unseres Szenarios war ja eine Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Iran. Ein solcher Annäherungsprozess war damals schwer vorstellbar und für viele Beobachter angesichts der Feindschaft zwischen den beiden Staaten geradezu abwegig. Dass Teheran und Riad am 10. März 2023 verkündet haben, ihre diplomatischen Beziehungen wieder aufzunehmen, und seitdem die bilaterale Annäherung vorantreiben, ist wohl der wichtigste Punkt, an dem sich unsere Vorausschau bestätigt hat.

Azadeh Zamirirad: Als wir damals den Beitrag schrieben, wurde in der politischen Debatte ja vor allem von einem Schia-Sunni-Konflikt gesprochen. Religiöse Differenzen wurden hier stark überzeichnet. Wir sind dagegen von einem Kosten-Nutzen-Kalkül ausgegangen und davon, dass Saudi-Arabien und Iran klare sicherheits- und geopolitische Interessen verfolgen, die eine Annäherung begünstigen. Dies hat sich durch das Normalisierungsabkommen vom März 2023 bewahrheitet.

Und umgekehrt: An welchen Stellen weicht die tatsächliche Entwicklung der letzten Jahre von euren damaligen Annahmen ab?

Stephan Roll: Also der Jeddah-Tower in Saudi-Arabien, dessen Einweihung wir auf 2020 datiert hatten, ist bis heute nicht fertiggebaut worden (lacht). Tatsächlich gibt es einige Punkte in unserem Szenario, die so nicht oder anders eingetreten sind. Wir haben zum Beispiel keine militärische Eskalation in Betracht gezogen, wie es sie in Form der massiven Angriffe auf saudische Ölanlagen im September 2019 gegeben hat. Für die heutige Annäherung hatte insbesondere die­ser Angriff eine wichtige Bedeutung, denn er führte Saudi-Arabien drastisch die eigene Verwundbarkeit vor Augen.

Azadeh Zamirirad: Ich würde sagen, wir haben ins­gesamt die Risikobereitschaft der Akteure und damit das Ausmaß des Eskalationspotentials unterschätzt. 2019 gab es ja gleich eine ganze Reihe von Übergriffen, unter anderem Attacken auf Öltanker im Persi­schen Golf und eben den verheerenden Drohnen­angriff auf Ölanlagen in Saudi-Arabien, der letztlich auf Iran zurückzuführen ist. Hier gab es keine aus­reichende Rückendeckung von den USA. Das hat bei vielen Golfstaaten zu einem Umdenken geführt und zu der Einsicht, die Dinge stärker selbst in die Hand nehmen zu müssen. Das hatten wir in dieser Deut­lichkeit nicht erwartet.

2018 habt ihr geschrieben: »Den größten Gewinn aus einer Annäherung Irans und Saudi-Arabiens hätte wohl China«. Wie bewertet ihr die chinesische Rolle bei der Annäherung zwischen beiden Staaten?

Azadeh Zamirirad: Na ja, wir sind zwar davon aus­gegangen, dass China der größte Gewinner eines Abkommens zwischen Saudi-Arabien und Iran wäre, haben aber nicht mit einer aktiven Rolle Pekings gerechnet. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet China die Verhandlungen über die Ziellinie führt? Wobei man auch sagen muss, dass andere Akteure hier schon einiges an Vorarbeit geleistet hatten, was Vermittlungen angeht, vor allem der Irak. Aber hier hat sich durchaus etwas verschoben. Peking hat jetzt am Persischen Golf nicht mehr nur wirtschaftliche Eisen im Feuer, sondern auch politische. Damit haben wir damals nicht gerechnet.

Stephan Roll: Dass Peking ein wesentlicher Unterhändler bei dieser Annäherung werden könnte, haben wir tatsächlich gar nicht in Betracht gezogen. Allerdings sollte Chinas diesbezügliche Rolle auch nicht über­bewertet werden. Tatsächlich gab es für beide Kon­fliktakteure genügend Anreize, die bilateralen Bezie­hungen zu verbessern. Peking hatte hier leichtes Spiel.

Wie seht ihr eure damalige Aussage »Eine Verständigung zwischen Iran und Saudi-Arabien auf regionale Einflusszonen könnte sich stabilisierend auf den Golf und auch die weitere Region auswirken«? Hat sich an dieser Einschätzung seither etwas geändert, und gegebenenfalls warum? Welche Erwar­tungen würdet ihr heute formulieren?

Azadeh Zamirirad: Zunächst einmal haben wir es beim Abkommen vom März 2023 ja in erster Linie mit der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zu tun und weniger mit klar definierten Einflusszonen, wie wir sie in unserem Szenario beschrieben hatten. Wo­bei sich beide Parteien dabei offenbar zur Nicht­einmischung in innere Angelegenheiten bekannt haben – das hatten auch wir in unserem Szenario als wesentliche Komponente genannt.

Stephan Roll: Ich denke, der Jemen ist ein gutes Beispiel für mögliche stabilisierende Effekte. Sicherlich hat die Annäherung dazu beigetragen, dass sich der Kon­flikt zwischen Saudi-Arabien und den jemenitischen Huthis ein gutes Stück entspannt hat. Seit 2023 ver­handeln beide Seiten direkt miteinander, und es gibt einen – wenn auch brüchigen – Waffenstillstand. Das spricht natürlich nicht für regionale Einfluss­zonen von Saudi-Arabien und Iran, aber um die ging es bei dem Abkommen vom März auch gar nicht.

Azadeh Zamirirad: Neben Jemen gibt es auch noch andere Beispiele. Wir sehen die sicherheitspolitischen Auswirkungen einer saudisch-iranischen Normalisierung auch im derzeitigen Nahostkonflikt. Iran-nahe Milizen haben seit dem 7. Oktober sowohl israelische als auch US-amerikanische Ziele in der Region ins Visier genommen, aber es gab keine Angriffe auf Saudi-Arabien oder etwa die Vereinigten Arabischen Emirate, auch nicht von Seiten der Huthis. Das hätte ohne dieses Abkommen auch anders verlaufen können.

Inwieweit traf eure damalige Annahme zu, dass eine engere Sicherheitskooperation zwischen Israel und Saudi-Arabien bei einer iranisch-saudischen Entspannung kaum vorstellbar wäre? Und mit Blick auf heute: Welche Folgen könnte die aktuelle Verschärfung des Nahostkonflikts haben? Der Über­fall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wird auch als Reaktion auf die Gespräche zwischen Israel und Saudi-Arabien interpretiert.

Stephan Roll: Hier lagen wir nicht richtig. Tatsächlich haben die vergangenen Monate gezeigt, dass die An­näherung zwischen Teheran und Riad keine signifikanten Folgen für das Verhältnis zwischen Israel und Saudi-Arabien hatte. Dafür agieren alle Akteure in der Region viel zu transaktional und in gewisser Weise unideologisch. Entsprechend ist es auch kei­nes­wegs ausgemacht, dass der gegenwärtige Krieg zwischen Israel und der Hamas die saudisch-israe­lische Annäherung beendet.

Azadeh Zamirirad: Ja, in dem Punkt lagen wir daneben. Aus heutiger Sicht würde ich selbst bei einem weiter reichenden saudisch-iranischen Abkommen nicht mehr davon ausgehen, dass dadurch eine engere Sicher­heitskooperation zwischen Saudi-Arabien und Israel automatisch ausgeschlossen wäre.

Wie bewertet ihr die parallele Aufnahme von Iran und Saudi-Arabien in die Staatengruppe BRICS? Ist dies als Abgrenzung gegenüber den USA bzw. dem »Westen« zu verstehen?

Azadeh Zamirirad: Für Saudi-Arabien sicher nicht. Man sollte nicht vergessen, dass wir es hier lediglich mit einem Normalisierungsabkommen zwischen Riad und Teheran zu tun haben. Hier ist keine Allianz ent­standen, schon gar keine antiwestliche. Auch in dem Szenario, das wir damals entworfen haben, sind wir nicht etwa von einer strategischen Partnerschaft aus­gegangen.

Stephan Roll: In jedem Fall dürfte es die Annäherung zwischen Iran und Saudi-Arabien begünstigt haben, dass die beiden Staaten in die Gruppe aufgenommen wurden. Andernfalls hätte BRICS einen gefährlichen zwischenstaatlichen Konflikt mitübernommen, der die Zusammenarbeit in dem Verbund womöglich extrem erschweren würde. Ich würde die parallele Aufnahme aber nicht als Abgrenzung oder gar Teil einer Blockbildung deuten. Wie gesagt: Die Staaten agieren sehr transaktional und halten sich Optionen gegenüber allen Seiten offen.

Seht ihr eure damalige Empfehlung aufgegriffen, wonach Deutschland und die EU »den Golf als politische Gesamtheit in strategische Kalkulationen« einbeziehen sollten? Welche Empfehlungen würdet ihr heute abgeben?

Stephan Roll: Zur ersten Frage – nein. Daher gilt diese Empfehlung noch immer. Uns geht es dabei nicht so sehr darum, eine umfassende, einheitliche Strategie für die Golfregion zu entwickeln. Vielmehr ist uns wichtig, dass ein Verständnis dafür entsteht, wie sehr die regionalen Dynamiken auch Rückwirkungen auf unsere bilateralen Beziehungen zu einzelnen Staaten dort haben können.

Azadeh Zamirirad: Dem kann ich mich nur anschließen. Und die politische Realität ist mittlerweile so, dass ein vornehmlich bilaterales Verständnis von Außenpolitik den Komplexitäten der Region nicht mehr gerecht wird.

Herzlichen Dank!

Die Fragen stellte Lars Brozus.

Anhang

Abkürzungen

ACT

Accountability, Coherence and Transparency Group

AfD

Alternative für Deutschland

AHHEG

Arctic Human Health Expert Group (Expertengruppe für die menschliche Gesundheit in der Arktis)

AMIS

Agricultural Market Information System

AU

Afrikanische Union

BMEL

Bundesministerium für Ernährung und Landwirt­schaft

BMG

Bundesministerium für Gesundheit

BMZ

Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammen­arbeit und Entwicklung

BRICS

Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika

CDC

Centers for Disease Control and Prevention

COPUOS

Committee on the Peaceful Uses of Outer Space (Ausschuss für die friedliche Nutzung des Weltraums)

EC

European Commission (Europäische Kommission)

EKR

Europäische Konservative und Reformer

EP

Europäisches Parlament

ESA

European Space Agency (Europäische Weltraumagentur)

EU

Europäische Union

EuGH

Europäischer Gerichtshof

EU SST

EU Space Surveillance and Tracking

EVP

Europäische Volkspartei

FAO

Food and Agriculture Organization of the United Nations

FPÖ

Freiheitliche Partei Österreichs

Frontex

European Border and Coast Guard Agency (Europäische Agentur für die Grenz- und Küsten­wache)

G4

Brasilien, Deutschland, Indien, Japan

G7

Gruppe der 7

G20

Gruppe der 20

GRULAC

Group of Latin America and Caribbean Countries

GWSO

Great Wall Space Organisation

IAI

Istituto Affari Internazionali (Rom)

ID

Identität und Demokratie

IGV

Internationale Gesundheitsvorschriften

ILRS

International Lunar Research Station (Internationale Mondforschungsstation)

ILRSCO

International Lunar Research Station Cooperation Organization

IRIS2

Infrastructure for Resilience, Interconnectivity and Security by Satellite

ITAR

International Traffic in Arms Regulations (Regelungen des internationalen Waffenhandels)

ITU

International Telecommunication Union (Internationale Fernmeldeunion)

L69

Gruppe von sogenannten Entwicklungsländern in den Vereinten Nationen

N6

New 6 (neue semi-permanente Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen)

NASA

National Aeronautics and Space Administration (Nationale Aeronautik- und Raumfahrtbehörde)

NGO

Non-governmental Organization (Nichtregierungsorganisation)

NSC

Nieuw Sociaal Contract (Neuer Gesellschaftsvertrag)

P5

Permanent Five (die ständigen fünf Mitglieder des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen)

PiS

Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit)

R2P

Responsibility to Protect (Schutzverantwortung)

S&D

Progressive Alliance of Socialists & Democrats (Fraktion der Progressiven Allianz der Sozial­demokraten im Europäischen Parlament)

SIDS

Small Island Developing States (Kleine Inselentwicklungsländer)

SPS

Sanitäre und phytosanitäre Maßnahmen

SR

Sicherheitsrat der Vereinten Nationen

UdSSR

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

UN

United Nations (Vereinte Nationen)

UNEP

United Nations Environment Programme (Umweltprogramm der Vereinten Nationen)

UNGA

United Nations General Assembly (Generalversammlung der Vereinten Nationen)

UNOOSA

United Nations Office for Outer Space Affairs (Wien)

UNSR

United Nations Security Council (Sicherheitsrat der Vereinten Nationen)

USA

United States of America (Vereinigte Staaten von Amerika)

VVD

Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (Volkspartei für Freiheit und Demokratie)

WHO

World Health Organization (Weltgesundheitsorganisation)

WOAH

World Organisation for Animal Health (Weltorganisation für Tiergesundheit; Paris)

WTO

World Trade Organization (Welthandelsorganisation)

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Dr. Michael Bayerlein

Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa

Lisa Becker

Forschungsassistentin, Forschungsgruppe Sicherheits­politik

Dr. Raphael Bossong

Stellvertretender Leiter, Forschungsgruppe EU / Europa, Forschungscluster Cybersicherheit und Digitalpolitik

Dr. Miranda Böttcher

Wissenschaftlerin, Forschungsgruppe EU / Europa, Forschungscluster Klimapolitik

Dr. Lars Brozus

Stellvertretender Leiter, Forschungsgruppe Globale Fragen

Dr. Sabine Fischer

Senior Fellow, Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien

Dr. Margarete Klein

Leiterin, Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien

Dr. Nicolai von Ondarza

Leiter, Forschungsgruppe EU / Europa

Dr. Marco Overhaus

Wissenschaftler, Forschungsgruppe Amerika

Dr. Stephan Roll

Leiter, Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten

Dr. agr. Bettina Rudloff

Wissenschaftlerin, Forschungsgruppe EU / Europa

Dr. Angela Stanzel

Wissenschaftlerin, Forschungsgruppe Asien

Dr. Johannes Thimm

Stellvertretender Leiter, Forschungsgruppe Amerika

Dr. Pedro A. Villarreal

Wissenschaftler, Forschungsgruppe Globale Fragen

Dr. Judith Vorrath

Wissenschaftlerin, Forschungsgruppe Sicherheits­politik

Dr. Azadeh Zamirirad

Stellvertretende Leiterin, Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten

Frühere Foresights der SWP

Volker Perthes / Barbara Lippert (Hg.)

Ungeplant ist der Normalfall. Zehn Situationen, die politische Aufmerksamkeit verdienen

Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, November 2011 (SWP-Studie 32/2011), <https://www.swp-berlin.org/publikation/ ungeplant-ist-der-normalfall/>

Volker Perthes / Barbara Lippert (Hg.)

Ungeplant bleibt der Normalfall. Acht Situationen, die politische Aufmerksamkeit verdienen

Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, September 2013 (SWP-Studie 16/2013), <https://www.swp-berlin.org/publikation/ ungeplant-bleibt-der-normalfall/>

Lars Brozus (Hg.)

Unerwartet, überraschend, ungeplant. Zugespitzte Situationen in der inter­nationalen Politik

Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, November 2015 (SWP-Studie 20/2015), <https://www.swp-berlin.org/publikation/ foresight-2015/>

Lars Brozus (Hg.)

Während wir planten. Unerwartete Entwicklungen in der internationalen Politik

Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Mai 2018 (SWP-Studie 5/2018), <https://www.swp-berlin.org/publikation/ unerwartete-entwicklungen-in-der-internationalen-politik>

Siehe auch das SWP-Themendossier »Foresight: Vorausschau auf mögliche Überraschungen«
<https://www.swp-berlin.org/themen/ dossiers/foresight-vorausschau-auf-moegliche-ueberraschungen>

Endnoten

1

 Dazu trägt auch der Rückblick auf frühere Zukunfts­vorstellungen bei. Daher wird eine Annäherung zwischen Iran und Saudi-Arabien, wie in der Foresight-Studie 2018 thematisiert, hier retrospektiv betrachtet; siehe S. 46ff.

2

 Vgl. Volker Perthes / Barbara Lippert (Hg.), Ungeplant ist der Normalfall. Zehn Situationen, die politische Aufmerksamkeit ver­dienen, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, November 2011 (SWP-Studie 32/2011).

3

 Zudem fördert es die Konsistenz, notwendige Rahmen­bedingungen, die für die antizipierte Entwicklung erfüllt sein müssten, auf ein Minimum zu beschränken. So lässt sich vermeiden, dass die Szenarien mit Kontextfaktoren überladen werden.

4

 Vgl. Stephan Roll / Azadeh Zamirirad, »Regionalarrange­ment am Golf – Saudi-Arabien und Iran einigen sich auf Einflusszonen«, in: Lars Brozus (Hg.), Während wir planten. Unerwartete Entwicklungen in der internationalen Politik. Foresight-Beiträge 2018, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Mai 2018 (SWP-Studie 5/2018), S. 21–26.

1

 Gemäß der »Popu-List«, einer wissenschaftlichen Kategorisierung europäischer Parteien in 31 Ländern (darunter allen Mitgliedstaaten der EU) in die Kategorien »populistisch«, »linksaußen«, »rechtsaußen« und / oder »euroskeptisch«, vgl. The Popu-List (online), 2022, <https://popu-list.org> (Zugriff am 16.11.2023).

2

 Siehe hierzu etwa den Meinungsbeitrag des langjährigen EVP-Generalsekretärs Klaus Welle, »Nur wer die Integration unterstützt ist in der EVP willkommen«, Table Media, 5.6.2023 (letzte Aktualisierung 20.6.2023), <https://table.media/europe/ standpunkt/wer-die-integration-unterstuetzt-ist-in-der-evp-willkommen/> (Zugriff am 16.11.2023).

3

 Nach Umfragen könnte eine solche Rechts-rechtsaußen-Mehrheit nach den Europawahlen im Juni 2024 erstmals rechnerisch möglich sein. Für aktuelle Umfragen siehe Politico.eu, <https://www.politico.eu/europe-poll-of-polls/ european-parliament-election/>, oder Europe Elects, <https:// europeelects.eu/ep2024/> (letzter Zugriff 2.5.2024).

4

 Dies sind regulär 2024 Belgien, Kroatien, Österreich, Litauen und Rumänien sowie 2025 Irland und die Tschechi­sche Republik. In Portugal hat bei den vorgezogenen Neu­wahlen im März 2024 die Rechtsaußen-Partei Chega (ID) deutlich zugelegt.

5

 Angesichts illiberaler Entwicklungen in den USA gaben die großen Technologieunternehmen ihren langjährigen Widerstand gegen eine Aufweichung von Verschlüsselungs­verfahren zeitgleich auf.

1

 Die Artemis Accords wurden kontrovers diskutiert, zum Beispiel im Hinblick auf die vorgesehene Errichtung sogenannter temporärer »Safety Zones« während des Abbaus von Mondressourcen (Abschnitt 11, Artikel 7), siehe Matthew Gross, »The Artemis Accords: International Cooperation in the Era of Space Exploration«, Harvard International Review, 27.1.2023, <https://hir.harvard.edu/the-artemis-accords/> (Zugriff am 15.12.2023).

2

 Siehe auch den Beitrag von Fischer et al., in dem am Beispiel Elon Musk beschrieben wird, welchen Einfluss ultrareiche Unternehmer auf die Außen- und Sicherheits­politik der USA nehmen könnten (S. 32ff).

3

 Xi Jinping: »To explore the vast cosmos, develop the space industry and build China into a space power is our eternal dream« (The People’s Republic of China, The State Council, China’s Space Program: A 2021 Perspective, Peking, 28.1.2022, <https://english.www.gov.cn/archive/whitepaper/ 202201/28/content_WS61f35b3dc6d09c94e48a467a.html> [Zugriff am 15.12.2023]).

4

 Die Formel »contested, congested and competitive« zur Beschreibung des Weltraums wurde erstmals in der US Na­tional Security Space Strategy 2011 benutzt und in weite­ren strategischen Dokumenten wieder aufgegriffen, so unter anderem in NATO’s Overarching Space Policy. Siehe US De­partment of Defense / Office of the Director of National Intel­ligence, National Security Space Strategy, Unclassified Summary, Washington, D.C., Januar 2011, <www.dni.gov/files/docu ments/Newsroom/Reports%20and%20Pubs/2011_national securityspacestrategy.pdf>; NATO, NATO’s Overarching Space Policy, 17.1.2022, <www.nato.int/cps/en/natohq/official_ texts_190862.htm> (Zugriff jeweils am 15.12.2023).

5

Treaty on Principles Governing the Activities of States in the Exploration and Use of Outer Space, including the Moon and Other Celestial Bodies (dt. Übersetzung: Vertrag über die Grundsätze zur Regelung der Tätigkeiten von Staaten bei der Erforschung und Nut­zung des Weltraums einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper), 1967, <https://fedlex.data.admin.ch/filestore/fedlex. data.admin.ch/eli/cc/1970/87_90_90/20200716/de/pdf-a/fedlex-data-admin-ch-eli-cc-1970-87_90_90-20200716-de-pdf-a.pdf> (Zugriff am 15.12.2023).

6

 Siehe UN Committee on the Peaceful Uses of Outer Space, Status of International Agreements Relating to Activities in Outer Space as at 1 January 2023, Wien: United Nations Office for Outer Space Affairs, 20.3.2023, <https://www.unoosa.org/res/ oosadoc/data/documents/2023/aac_105c_22023crp/aac_105c_ 22023crp_3_0_html/AC105_C2_2023_CRP03E.pdf> (Zugriff am 15.12.2023).

7

 Kari Bingen / Kaitlyn Johnson / Makena Young, Space Threat Assessment 2023, Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies, April 2023, <https://csis-website-prod. s3.amazonaws.com/s3fs-public/2023-04/230414_Bingen_ Space_Assessment.pdf?VersionId=oMsUS8MupLbZi3BISPrqPCKd5jDejZnJ>; Secure World Foundation, Global Counterspace Capabilities. An Open Source Assessment, April 2023, <https://sw found.org/media/207567/swf_global_counterspace_capabilities_2023_v2.pdf> (Zugriff jeweils am 15.12.2023).

8

The People’s Republic of China, Ministry of Foreign Affairs, Draft Treaty on the Prevention of the Placement of Weapons in Outer Space, the Threat or Use of Force against Outer Space Objects, Peking 2008, <https://www.fmprc.gov.cn/eng./wjb_663304/zzjg_ 663340/jks_665232/kjfywj_665252/200802/t20080212_ 599554.html> (Zugriff am 20.12.2023).

9

 Theresa Hitchens, »Russia Spikes UN Effort on Norms to Reduce Space Threats«, Breaking Defense, 1.9.2023, <https:// breakingdefense.com/2023/09/russia-spikes-un-effort-on-norms-to-reduce-space-threats/> (Zugriff am 15.12.2023).

10

 United Nations, Reducing Space Threats through Norms, Rules and Principles of Responsible Behaviours: Revised Draft Resolution, 25.10.2023, <https://digitallibrary.un.org/record/4025119? ln=en>; United Nations, Further Practical Measures for the Pre­vention of an Arms Race in Outer Space: Draft Resolution, 2023, <https://digitallibrary.un.org/record/4024681?ln=en> (Zugriff jeweils am 15.12.2023).

11

 »Consensus Scuttled in First Committee over Two Competing Draft Resolutions on Space Security, Creating Parallel Processes, Polarization, Say Speakers«, United Nations Meetings Coverage and Press Releases, New York, 31.10.2023, <https://press.un.org/en/2023/gadis3730.doc.htm> (Zugriff am 15.12.2023).

12

 European Union, EU Joint Contribution on the Works of the Open-Ended Working Group on Reducing Space Threats through Norms, Rules and Principles of Responsible Behaviours – Fourth Part, A/AC.294/2023/WP.18, New York: United Nations Office for Disarmament Affairs, 14.6.2023, <https://docs-library.unoda. org/Open-Ended_Working_Group_on_Reducing_Space_ Threats_-_(2022)/EU_joint_contribution_to_OEWG_works_ on_norms_of_responsible_behaviours.pdf> (Zugriff am 15.12.2023).

13

 United Nations, Destructive Direct-ascent Anti-satellite Missile Testing: Resolution / Adopted by the General Assembly, 12.12.2022, <https://digitallibrary.un.org/record/3996915> (Zugriff am 15.12.2023).

14

Andrew Jones, »China Loses UAE as Partner for Chang'e‑7 Lunar South Pole Mission«, Space News, 24.3.2023, <https:// spacenews.com/china-loses-uae-as-partner-for-change-7-lunar-south-pole-mission/> (Zugriff am 15.12.2023).

15

Shen kong tance shiyan shi canjia di 14 jie alabo tianwen yu kongjian kexue dahui [Deep Space Exploration Laboratory Participated in the 14th Arab Astronomy and Space Science Conference], 19.11.2023, <https://mp.weixin.qq.com/s/nyNxh Vwz6uHdVjNaapq06g> (Zugriff am 15.12.2023).

16

 US Congress, US Commercial Space Launch Competitiveness Act, November 2015, <www.congress.gov/114/plaws/publ90/ PLAW-114publ90.pdf>; Le Gouvernement du Grand-Duché de Luxembourg, Loi sur l’exploration et l’utilisation des ressources de l’espace, 20.7.2017, <https://legilux.public.lu/eli/etat/leg/ loi/2017/07/20/a674/jo> (Zugriff jeweils am 15.12.2023); Landesverwaltung Fürstentum Liechtenstein, Gesetz über die Genehmigung von Weltraumaktivitäten und die Registrierung von Welt­raum­gegenständen, 5.10.2023, <https://www.gesetze.li/ chrono/2023443000> (Zugriff am 26.4.2024).

17

 Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, Raumfahrtstrategie der Bundesregierung, Berlin, September 2023, S. 46, <https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Publikationen/ Technologie/20230927-raumfahrtstrategie-breg.pdf?__blob= publicationFile&v=10> (Zugriff am 26.4.2024).

18

 Zum Beispiel: »China seeks to control access to the moon for strategic aims […] by first dominating the cislunar domain« (US-China Economic and Security Review Commission, 2023 Report to Congress, Washington, D.C., November 2023, S. 453, <https://www.uscc.gov/sites/default/files/2023-11/2023_ Annual_Report_to_Congress.pdf> [Zugriff am 24.4.2024]).

19

 US Congress, Department of Defense and Full-year Continuing Appropriations Act, 2011, <https://www.congress.gov/112/plaws/ publ10/PLAW-112publ10.htm> (Zugriff am 15.12.2023).

20

Wu Yansheng, »Chuangxin tupo wei gao zhiliang fazhan gongxian hangtian liliang« [Innovative Durchbrüche tragen zu einer qualitativ hochwertigen Entwicklung in der Luft- und Raumfahrt bei], in: Quishi, Oktober 2022, <http://www. qstheory.cn/dukan/qs/2022-10/17/c_1129068029.htm> (Zugriff am 15.12.2023).

21

 Nadège Rolland (Hg.), Securing the Belt and Road Initiative. China’s Evolving Military Engagement. Along the Silk Roads, Seattle / Washington, D.C.: The National Bureau of Asian Research, September 2019, <https://www.nbr.org/wp-content/ uploads/pdfs/publications/sr80_securing_the_belt_and_road_ sep2019.pdf>; Park Si-Soo, »Against Quad? China Launches Satellite-based Earth Observation Initiative with BRICS Nations«, Space News, 31.5.2022, <https://spacenews.com/ against-quad-china-launches-satellite-based-earth-observa tion-initiative-with-brics-nations/> (Zugriff jeweils am 15.12.2023). Zu den BRICSplus gehören Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika, Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (Stand: März 2024).

22

 Matt Berg, »Meet Washington’s Shadow Diplomat. Spoiler … It’s NASA«, Politico, 11.11.2023, <https://www. politico.com/news/2023/11/11/meet-washingtons-shadow-diplomat-secret-its-nasa-00125298> (Zugriff am 15.12.2023).

23

 Zum Europäischen Weltraumprogramm gehören Weltraumüberwachung (Copernicus), Navigation (Galileo), Koordination des Weltraumlagenetzwerks (EU SST) sowie eine sichere Satellitenkommunikationskonstellation (IRIS²; Vollbetrieb: 2027).

24

 Die ESA entwickelt in Zusammenarbeit mit den USA die Orion-Kapsel: das astronautische Raumfahrzeug, das die Astro­nauten der Artemis-Missionen zum Mondorbit bringen soll.

25

 European Space Agency, Revolution Space. Europe’s Mission for Space Exploration, 23.3.2023, <https://www.esa.int/ESA_ Multimedia/Images/2023/03/Revolution_Space_Europe_s_ Mission_for_Space_Exploration> (Zugriff am 15.12.2023).

1

 2023 wurde dieser Kodex bereits von 129 UN-Mitgliedern unterstützt. Siehe Eidgenössisches Departement für aus­wärtige Angelegenheiten, »129 Staaten setzen ein Zeichen für ein verantwortungsvolles Handeln im Falle von Kriegs­verbrechen«, Pressemitteilung, Bern, 11.5.2023, <https:// www.eda.admin.ch/eda/de/home/das-eda/aktuell/ newsuebersicht/2023/05/security-council-report.html>.

2

 Richard Gowan, »United Kingdom«, in: Stewart Patrick (Hg.), UN Security Council Reform: What the World Thinks, Wash­ington, D.C.: Carnegie Endowment for International Peace, 28.6.2023, <https://carnegieendowment.org/2023/06/28/un-security-council-reform-what-world-thinks-pub-90032#uk>.

3

 Damit das Veto wirksam wird, darf höchstens ein N6-Staat sich diesem nicht anschließen. Brasilien genießt in diesem Kontext eine Sonderstellung: Gemäß dem in den UN relevanten regionalen Proporz sieht die Vetoregel für die N6 vor, dass alle geographischen Großregionen die Möglichkeit haben sollen, einen Beschluss zu verhindern. Lateinamerika und die Karibik (Group of Latin America and Caribbean Coun­tries, GRULAC) ist unter den SR-Mitgliedern mit indi­viduellem oder kollektivem Vetorecht allein durch Brasilien repräsentiert. Daher reicht dessen Ablehnung eines N6-Vetos aus, um dieses zu verhindern.

4

 Vgl. Fn. 1.

5

 Martin Binder / Monika Heupel, »The Intricacies of UN Secu­rity Council Reform«, in: Survival – Global Politics and Strategy, 63 (2021) 2, S. 63–68, doi: 10.1080/00396338. 2021.1905984.

6

 Vgl. Roger S. Clark, »History of Efforts to Codify Crimes Against Humanity: From the Charter of Nuremberg to the Statute of Rome«, in: Leila Nadya Sadat (Hg.), Forging a Con­vention for Crimes Against Humanity, Cambridge: Cambridge Uni­versity Press, 2011, S. 8–27, doi: 10.1017/CBO9780511 921124.005.

7

 Zur neueren Literatur vgl. Madeleine O. Hosli / Thomas Dörfler, »The United Nations Security Council: History, Cur­rent Composition, and Reform Proposals«, in: Madeleine O. Hosli / Joren Selleslaghs (Hg.), The Changing Global Order. Chal­lenges and Prospects, Berlin: Springer, 2020 (United Nations University Series on Regionalism, Bd. 17), S. 299–320, doi: 10.1007/978-3-030-21603-0_15; Binder / Heupel, »The Intrica­cies of UN Security Council Reform« [wie Fn. 5].

8

 Hinsichtlich des Vetorechts unterschied sich die Position der G4 allerdings vom Ezulwini-Konsens. Dieser zielte darauf ab, dass die beiden ständigen Vertreter Afrikas in einem erweiterten SR sofort die gleichen Rechte wie die P5 bekom­men, einschließlich des Vetos. Der G4-Vorschlag sah hin­gegen vor, dass neue ständige Mitglieder des SR zunächst auf dieses Privileg verzichten. Nach 15 Jahren wäre dann zu prüfen, ob der Verzicht beendet werden solle.

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