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Gefährliche Eskalation um Jerusalem: Deutschland und die EU müssen handeln

Kurz gesagt, 17.05.2021 Forschungsgebiete

Die aktuellen Auseinandersetzungen im Nahen Osten begannen vor rund zwei Wochen in Jerusalem und haben sich mittlerweile auf Israel, den Gazastreifen und das Westjordanland ausgeweitet. Überraschend kommt die Eskalation indes nicht, meinen Muriel Asseburg und Peter Lintl.

Die Gewalt im Westjordanland und in Jerusalem schaukelt sich schon seit Wochen hoch. Die letzten substantiellen Friedensverhandlungen zwischen Israel und der palästinensischen Führung fanden 2008 statt. Unter den von Benjamin Netanjahu geführten Regierungen hat sich die Besatzung weiter verfestigt, sind Siedlungsbau und De-facto-Annexion im Westjordanland vorangetrieben worden. Die palästinensische Bevölkerung ist in strategischen Gebieten zunehmend durch Verdrängung bedroht. Zudem ist die palästinensische Führung zwischen Fatah im Westjordanland und Hamas im Gazastreifen gespalten. Die Autonomiebehörde ist delegitimiert und durch die Politik der Trump-Administration weiter geschwächt worden. Eine konkrete Perspektive für eine Konfliktregelung existiert daher nicht. Hinzu kommt: Im Zuge der Normalisierungsabkommen, die Israel und die arabische Staaten VAE, Bahrain, Marokko und Sudan im vergangenen Jahr geschlossen haben, ist die palästinensische Frage in der arabischen Welt zunehmend in den Hintergrund gerückt und die palästinensische Führung marginalisiert worden.

Jerusalem als Konflikt-Katalysator

Auslöser der jüngsten Gewalt waren mehrere Vorgänge in Jerusalem – der Stadt, die beide Konfliktparteien als Hauptstadt beanspruchen. Dazu gehörte die bevorstehende Zwangsräumung palästinensischer Häuser zugunsten von Siedlerinnen und Siedlern im Ost-Jerusalemer Stadtviertel Scheich Jarrah. Diese würde sich in ähnliche Vorgänge in anderen palästinensischen Vierteln einreihen und zu einer weiteren Zerstückelung palästinensischer Nachbarschaften führen. Darüber hinaus beschränkte die Polizei zu Beginn des Ramadans den Zugang zum Platz um das Damaskus-Tor. Da dieser normalerweise vor allem an den Abenden nach dem Fastenbrechen von der palästinensischen Bevölkerung frequentiert wird, führte das zu Protesten. In den vergangenen Wochen haben zudem von Knesset-Abgeordneten angeführte Protestzüge rechter Israelis durch Ost-Jerusalem mit Parolen wie »Tod den Arabern« Emotionen befeuert. Seinen Höhepunkt fand dies am Jerusalem-Tag, einem Feiertag, an dem die israelische Souveränität über ganz Jerusalem demonstrativ bekräftigt wird. Schließlich trugen palästinensische Angriffe auf Polizei und Siedler sowie die sogenannte TikTok-Affäre zur Eskalation bei: Palästinensische Jugendliche hatten sich dabei gefilmt, wie sie Ultraorthodoxe ohrfeigten oder bespuckten, und dies über die Plattform geteilt.

Die Absage der palästinensischen Wahlen als Hintergrund

Dass sich die Hamas nun durch Angriffe auf die israelische Zivilbevölkerung als Verteidigerin Jerusalems hervortut, hat auch wesentlich mit der Verschiebung der palästinensischen Wahlen Ende April 2021 – die einer Absage gleichkommt – zu tun. Der palästinensische Präsident Mahmud Abbas begründete seine Entscheidung damit, dass Israel dem Wahlvorgang in Ost-Jerusalem nicht zugestimmt habe. Dadurch hinderte er die palästinensische Bevölkerung nicht nur einmal mehr daran zu wählen. Abbas verhinderte auch die Umsetzung der gemeinsam mit der Hamas beschlossenen Schritte, um die innerpalästinensische Spaltung zu überwinden. Und er räumte Israel damit ein faktisches Vetorecht über die palästinensischen Wahlen ein. Die Krise in Jerusalem nutzte die Hamas nun, um sich im Gegensatz zu Abbas als Kämpferin für Jerusalem und die Aqsa-Moschee zu profilieren.

In diesem Zusammenhang stellte sie der israelischen Führung am vergangenen Montag ein Ultimatum: Bis 18 Uhr sollte Israel seine Polizeieinheiten vom Tempelbergplateau abziehen. Nach Ablauf der Frist begann die Hamas mit einem intensiven Raketenbeschuss Israels. Die israelische Armee reagierte mit Bombenangriffen auf das Waffenarsenal, das Tunnelsystem sowie militärische Kader und die politische Führung der Hamas. Damit stehen die Zeichen zunächst weiter auf Eskalation und die Zahl der zivilen Opfer steigt dramatisch. Für Israels Zukunft noch bedrohlicher ist freilich, dass sich die Gewalt auch in Israel zwischen jüdischen und arabischen Bürgerinnen und Bürgern Bahn bricht und dort bereits zu Toten geführt hat. Die Auseinandersetzungen haben unterdessen auch auf das Westjordanland übergegriffen und zu Zusammenstößen zwischen palästinensischen Demonstrierenden und israelischem Militär geführt.

Waffenruhe und langfristige Stabilisierung

Deutschland und die EU sollten nun dazu beizutragen, eine weitere Eskalation zu verhindern und eine nachhaltige Stabilisierung zu erreichen. Kurzfristig müssten dabei eine Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas sowie eine Beruhigung der Proteste in Jerusalem und in israelischen Städten mit arabischer Bevölkerung im Vordergrund stehen. Relevante Elemente hierbei sind die Beendigung von Raketenbeschuss und Bombardierungen, ein Aufschub des Urteils zur Zwangsräumung in Scheich Jarrah und die Bekräftigung des vereinbarten Status quo auf dem Tempelberg. Deutschland und die EU, die keine Kontakte zur Hamas pflegen, können kaum vermitteln. Im Rahmen des etablierten München-Formats kann Deutschland aber gemeinsam mit Frankreich, Ägypten und Jordanien dabei unterstützen. Einseitige Schuldzuweisungen helfen in diesem Zusammenhang nicht weiter. Es gilt vielmehr, die Sicherheitsbedürfnisse, Rechte und Gefühle beider Bevölkerungen ernst zu nehmen und die Gewalt beider Seiten zu verurteilen. Dies ist auch möglich, ohne diese gleichzusetzen und strukturelle Konfliktfaktoren zu ignorieren.

Für eine nachhaltige Stabilisierung sind ein langfristiger Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas, ein Stopp der israelischen Siedlungs- und Verdrängungspolitik in Ost-Jerusalem und im Westjordanland sowie eine Perspektive für eine Konfliktregelung unabdingbar. Für einen Waffenstillstand könnte Deutschland technische Hilfestellung leisten, etwa wenn es um den Austausch von Gefangenen und Toten geht. Wichtiger noch, Deutschland und die EU sollten Kompromisse durch Angebote befördern, die die Sicherheit und die Lebensbedingungen sowohl im Gazastreifen als auch im südlichen Israel verbessern. Darüber hinaus sollten sie gemeinsam mit den USA an einem Rahmen arbeiten, in dem der Konflikt konstruktiv bearbeitet und Friedensverhandlungen vorbereitet werden können. Entscheidend ist allerdings zunächst, überhaupt die Option einer friedlichen Konfliktregelung aufrechtzuerhalten. Denn die aktuelle Gewalt zeigt einmal mehr: Den Konflikt einzufrieren ist keine Lösung.