Kurz vor der Europawahl konzentriert sich das öffentliche Interesse mehr auf die Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten als auf die Institution, die gewählt wird: das Europäische Parlament. Daniela Kietz meint, dass es sich lohnt, genauer hinzuschauen.
Kurz gesagt, 21.05.2014 ForschungsgebieteKurz vor der Europawahl konzentriert sich das öffentliche Interesse mehr auf die Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten als auf die Institution, die gewählt wird: das Europäische Parlament. Daniela Kietz meint, dass es sich lohnt, genauer hinzuschauen.
Keine Europawahl wurde in Deutschland medial so intensiv begleitet wie die diesjährige. Allerdings konzentriert sich die Debatte auf die europäischen Spitzenkandidaten und die politische Ausrichtung der nächsten Kommission. Das Bild des Europäischen Parlaments, der Institution, die aus diesen Wahlen hervorgeht, bleibt dabei überraschend unscharf. So kommentieren die einen, das Machtzentrum der EU läge weiterhin bei Rat und Europäischem Rat und damit bei den Mitgliedstaaten. Das Parlament sei kaum mehr als Beiwerk. Andere erwecken den Eindruck, das Parlament könne heute über sämtliche Belange europäischer Bürger entscheiden. Die Realität ist deutlich komplexer.
Das konfrontative Parlament
Da ist zum einem die konfrontative Seite des Parlaments. Macht und Selbstbewusstsein des durch den Lissabonner Vertrag nachhaltig gestärkten Parlaments haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Der Vertrag hatte das Parlament zum Mitentscheider in weiten Teilen europäischer Politik erhoben, inklusive der Entscheidungshoheit über den mehrjährigen Haushalt der EU. Auch wurde ihm ein Mitspracherecht bei der Verabschiedung internationaler Abkommen zugestanden. In der Praxis zeigt sich, dass die Europaparlamentarier seither zuweilen mit harten Bandagen gegen Kommission und Mitgliedstaaten kämpfen, sei es im Streit über die Ausgestaltung der Bankenunion oder die neuen Regeln für temporäre Binnengrenzkontrollen im Schengenraum. Gerade in den Außenbeziehungen der EU und in Grundrechtefragen haben sich die Parlamentarier mit lauten Tönen als zunehmend wichtige Akteure profiliert. Indem das Parlament 2010 das SWIFT-Abkommen zu Fall brachte, hat es deutlich gemacht, dass es notfalls auch vollständig auf die Bremse tritt, wenn es von den anderen Institutionen übergangen wird. Bei der Ablehnung des ACTA-Abkommens zeigte sich zudem, dass zivilgesellschaftlicher Protest sein institutionelles Ventil immer häufiger im Parlament findet. Für die Kommission und die Mitgliedstaaten sind solche Prozesse ab einem bestimmten Eskalationsgrad nur schwer kontrollierbar. Dessen sollten sich diejenigen, die aktuell über das TTIP verhandeln, angesichts der wachsenden Mobilisierung gegen das Freihandelsabkommen bewusst sein. Ein Beispiel für die Courage dieses Parlaments ist nicht zuletzt auch seine in ihrer Tiefe einmalige Untersuchung der Spionagevorwürfe gegen US-amerikanische und europäische Geheimdienste. Das Parlament ist hier ein wesentlicher Treiber in der politischen Debatte, der das Großthema Datenschutz und die Frage nach den Grenzen staatlicher Überwachung auch in den nächsten Jahren auf der Tagesordnung halten wird.
Das pragmatische Parlament
Das Parlament hat gleichzeitig aber auch eine sehr pragmatische Seite: Als Mitentscheider im eng gestrickten interinstitutionellen Geflecht wird es zunehmend Teil der Brüsseler Konsensdiplomatie. Denn mit der Macht kommt die Verantwortung und mit der Verantwortung die Kompromissbereitschaft. Dass das Parlament bis zum Letzten geht, Gesetzgebungsprozesse blockiert oder Abkommen zu Fall bringt, ist und bleibt die Ausnahme. Die Verhandlungen zwischen Mitgliedstaaten, Parlament und Kommission werden vielmehr immer öfter in kleine, informelle Formate verlagert. Dort schnüren die Unterhändler der Institutionen Kompromisspakete, die in der Regel in Rat und Parlament mit großen Mehrheiten angenommen werden. Dieses konsensorientierte System ist effizient, auch wenn die Transparenz in der Gesetzgebung, vor allem die Sichtbarkeit des politischen Schlagabtauschs, dabei auf der Strecke bleibt. Die Einigung über den mehrjährigen Haushalt der EU 2014-2020 ist ein typisches Beispiel für diese kompromissorientierte Seite des Parlaments.
Das begrenzte Parlament
Schließlich gibt es Bereiche europäischer Politik jenseits des parlamentarischen Einflusses. Zum einen hat das Parlament weiterhin begrenzte Befugnisse in einigen Feldern, wie etwa der Verteidigungspolitik. Zum anderen spielt es eine Statistenrolle, wenn die Mitgliedstaaten auf zwischenstaatliche Lösungen außerhalb des EU-Rechtsrahmens ausweichen, wie in der frühen Phase der Bewältigung der Wirtschafts-, Finanz- und Schuldenkrise. Sicherlich verstellt gerade die Dominanz der Staats-und Regierungschef in dieser Krisenphase noch heute den Blick auf die Bedeutung des Parlaments. Die zentralen, längerfristigen Reformen innerhalb des EU-Rechtsrahmens konnte das Parlament immerhin mitgestalten, etwa die Vertiefung der haushalts- und wirtschaftspolitischen Koordinierung in der EU oder zuletzt die Schaffung der Bankenunion. Gegen den ausdrücklichen Willen der Mitgliedstaaten aber kann das Parlament keine Politik gestalten. Bestes Beispiel hierfür war sein weitgehend fruchtloser Einsatz für die Einführung von Eurobonds.
Und doch, allen Einschränkungen zum Trotz: ohne die Bürde, eine Regierung stützen zu müssen, kann das Europäische Parlament grundsätzlich mutiger und unabhängiger agieren als nationale Parlamente. Seine neuen Gestaltungsspielräume hat es in den letzten Jahren immer wieder erfolgreich genutzt, um die Interessen der europäischen Bürger gegenüber mitgliedstaatlichen Interessen im Rat zu stärken. Jede einzelne Wählerstimme stärkt seine Legitimation für diese Aufgabe. Der Gang zur Wahlurne lohnt sich, ganz unabhängig von der Frage nach den Spitzenkandidaten.
Der Text ist auch bei EurActiv.de, Handelsblatt.com und Zeit.de erschienen.
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