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Das Scheitern des Brüsseler Gipfels - Reaktionen aus den Beitrittsländern

Arbeitspapier --, 15.12.2003, 11 Seiten

Polen

In Polen wurde das Scheitern der Verhandlungen in Brüssel weniger als Niederlage Europas und eher als Erfolg Warschaus wahrgenommen. Premierminister Miller hob hervor, daß Polen seine Position nicht geändert und dem Druck seitens anderer EU-Mitglieder standgehalten habe. "Polen ist ein ernsthafter Partner, der nur für Argumente empfänglich ist", erklärte Miller nach seiner Rückkehr aus Brüssel. Alle Mitgliedstaaten der Union, so Außenminister Cimoszewicz, würden künftig verstehen, daß mit Polen ein Land in die EU aufgenommen werde, mit dem man rechnen müsse. Für seine harte Haltung erntete Miller Lob auch aus den Reihen der Opposition. Für Jan Maria Rokita, der Schöpfer der Parole "Nizza oder Tod!", kann Polen ein "gutes Debüt in der Europäischen Union" vorweisen. Durch das polnische Verhalten sei klar geworden, daß die "Gruppe der Stärksten und Reichsten in der EU nicht in der Lage ist, die Bedingungen hundertprozentig zu diktieren". Der Vorsitzende der konservativen Gruppierung Recht und Gerechtigkeit (PiS), Kaczynski, äußerte sich ebenfalls positiv über das vorläufige Aus des Konventsentwurfs. Seiner Ansicht nach hätte die Annahme des Verfassungsprojekts bedeutet, daß "die Polen nicht mehr Herr im eigenen Land wären und Einfluß auf die Politik der EU verloren hätten". Die konservative Tageszeitung Rzeczpospolita schrieb in einem mit "Polens Erfolg" überschriebenen Kommentar, daß sich in Zukunft niemand mehr bemühen werde, Polen zu unterschätzen.

Verhaltenere oder gar kritische Stellungnahmen in Bezug auf die polnische Rolle kamen weniger aus der Politik als aus den Medien. Der frühere Regierungschef Mazowiecki sagte, daß das Scheitern des Verfassungsvertrags eine Niederlage Europas, und "in gewissem Sinne auch Polens" darstelle. Nach Ansicht des ehemaligen Außen- und Finanzministers Olechowski habe sich gezeigt, daß Polen in Europa einsam dastehe und sich den Ruf eines Landes erworben habe, das der Idee mit großer Distanz gegenübersteht.

In der liberalen Gazeta Wyborcza wurde auf vier Gefahren hingewiesen, denen Polen nun ausgesetzt sei. Erstens eine dauerhafte Verschlechterung des Images. Polen werde bereits jetzt als Land betrachtet, das so euroskeptisch wie Großbritannien, so arrogant wie Frankreich und so hartnäckig wie Spanien auftrete. Zweitens die Entstehung eines Europas der zwei Geschwindigkeiten ohne polnische Beteiligung. Drittens der Entzug von Geld bei der Neuordnung der EU-Finanzen. Und viertens die Zunahme euroskeptischer Tendenzen in Westeuropa sowie in Polen.

Negativ schätzte der Publizist Slawomir Sierakowski in der Rzeczypospolita das Ergebnis der Brüsseler Verhandlungen ein. Der polnische Widerstand gegen den Vertragsentwurf zeuge nicht von Eurorealismus als vielmehr von "polnischen Komplexen und Unreife sowie von der Schwäche der polnischen Außenpolitik". Polen sei an einer möglichst integrierten Union gelegen, je mehr Gewicht den Bürgern zukomme, desto solidarischer werde die EU sein, wovon nicht zuletzt ärmere Gesellschaften profitierten. Natürliche Partner Polens seien Deutschland und Frankreich, nicht aber Spanien, "das seine 27 Stimmen nur deswegen verteidigt, um mit Polen effektiver um Mittel aus den EU-Fonds zu rivalisieren", und auch nicht Großbritannien, das an einer vertieften Integration nicht interessiert sei.

Mit Blick auf den weiteren Fortgang der europäischen Politik und der polnischen Position schoben sich vier Diskussionsstränge in den Vordergrund: weitere Entwicklung der polnischen Debatte, "Kerneuropa", finanzielle Konsequenzen und Auswirkungen auf das deutsch-polnische Verhältnis.

Staatspräsident Kwasniewski rief dazu auf, eine breite innerpolnische Diskussion über die Verfassung zu organisieren und dabei von einer "konfrontativen" Rhetorik abzurücken. Die konservativ-nationale Opposition reagierte hierauf mit wenig Verständnis. Die PiS mahnte eine "konsequente Aufrechterhaltung der polnischen Position" an. Laut Parteichef Kaczynski, sollen "Personen, die gegen das nationale Interesse auftreten", ins Abseits gestellt werden. In der Sache selbst wird es wohl zunächst zu keinen neuen Impulsen kommen. Vielfach wurde angemahnt, zunächst müßten sich Deutschland und Frankreich bewegen. Premier Miller machte deutlich, daß für ihn ein "Rendez-vous" zur Festlegung der Stimmengewichtung ein akzeptabler Kompromiß gewesen wäre. Nach Angaben des Direktors für EU-Angelegenheiten im polnischen Außenministerium, Swieboda, will Polen aber zunächst abwarten und keine eigenen Kompromißvorschläge ins Spiel bringen.

Mit Unbehagen wurde das sich neu auftuende Szenario eines Kerneuropa wahrgenommen. Präsident Kwasniewski sprach sich gegen eine solche Idee aus, die "Integration Europas durch Desintegration", der Versuch, "Europa zu vereinigen, um es sofort zu teilen", sei sinnlos. Der Vorsitzende des Sejm-Ausschusses für Europaangelegenheiten, Józef Oleksy, nannte die Ankündigung eines harten Kerns der Integration "bedrohlich". Polen laufe Gefahr, außerhalb des Mainstreams der europäischen Integration zu bleiben. Auch der ehemalige Außenminister Geremek gab sich "beunruhigt".

Uneinheitlich stellt sich das Bild bei der Frage dar, ob Polen wegen seines Verhaltens mit finanziellen Sanktionen zu rechnen habe. Während Außenminister Cimoszewicz zunächst davor warnte, Polen "mit Zuckerbrot und Peitsche" disziplinieren zu wollen, und in polnischen Zeitungen die Rede davon war, daß nun "Rache an Polen" genommen werden bzw. Polen "in Angst versetzt" werden soll, konnten auch gelassenere Stellungnahmen registriert werden. Józef Oleksy meinte, das Drängen auf Kürzungen des EU-Budgets sei vor allem auf die Haushaltslage wichtiger Nettozahler zurückzuführen. Der stellvertretende Außenminister Truszczynski sagte, die einschlägigen Kürzungen seien bereits vor mehreren Wochen vorbereitet worden, folglich bestehe kein Zusammenhang mit dem Ausgang der Brüsseler Verhandlungen. Vor dem polnischen Senat erklärte auch der Außenminister selbst, beim "Brief der Sechs" handele es sich nicht um einen "Erpressungsversuch".

Weitgehend einig scheint man sich in Polen darüber zu sein, daß den Beziehungen zu Deutschland weiterhin eine besondere Bedeutung zukommt. Unklar ist allerdings, wie man sich eine Intensivierung des Dialogs vorstellt, und wie gemeinsame bilaterale Initiativen, die von polnischen Spitzenpolitikern in den Raum gestellt wurden, genau aussehen sollen.

Polnische Politologen äußerten sich skeptisch zur künftigen Steuerungs- und Handlungsfähigkeit der Europäischen Union. So wird eine Führungskrise des deutsch-französischen Tandems konstatiert, die sich bereits seit der deutschen Vereinigung angebahnt und sich infolge der Erweiterung der Union sowie im Zusammenhang mit dem Irak-Konflikt verstärkt habe. Möglich seien drei Entwicklungsvarianten der EU: Chaos, gespaltene Union und effektive Föderation. Gegenwärtig sei die erste Etappe des Chaos-Szenarios zu beobachten.