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Das Flüchtlingsdrama in Syrien, der Türkei und Griechenland

Warum ein umfassender Ansatz nötig ist

SWP-Aktuell 2020/A 22, 26.03.2020, 8 Seiten

doi:10.18449/2020A22

Forschungsgebiete

Das dramatisch anwachsende Flüchtlingselend in der syrischen Provinz Idlib, auf den griechischen Inseln und an den EU-Außengrenzen zeigt: Die Europäische Union ist asyl- und migrationspolitisch zerrissen sowie außen- und sicherheitspolitisch kaum handlungsfähig. Was kann sie dennoch unternehmen, um das Flüchtlingsdrama zu bewältigen? Diese Frage ist angesichts der Ausbreitung von Covid-19 noch dringlicher geworden. Die EU-Türkei-Erklärung von 2016 hat die Kooperation mit Ankara bei der humanitären Hilfe und der Grenzüberwachung gestärkt, weist aber große Schwächen auf. Ein umfassender Ansatz ist nötig. Die EU sollte sich darauf konzentrieren, der Türkei neue Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, die ergänzt werden sollten durch massive Hilfen für Griechenland und die Nachbarstaaten Syriens. Zu­dem sollten sich die Europäer für die Schaffung einer Schutzzone in Nord­syrien einsetzen.

Die Zuspitzung der Flüchtlingssituation in Griechenland und der Türkei hängt – wie schon 2015 – mit einer Eskalation im syri­schen Bürgerkrieg zusammen. Das Regime in Damaskus hatte seit April 2019 mehrere Militäroffensiven eingeleitet und sie gegen Ende des Jahres verstärkt, um mit Unterstützung seiner Verbündeten – Russland, Iran und iran-geführte Milizen – die Pro­vinz Idlib im Nordwesten des Landes zurückzuerobern. Ziel der syrischen Füh­rung ist, die eigene Kontrolle wieder auf das gesamte Staatsgebiet auszudehnen. Eine Vereinbarung zwischen Russland und der Türkei (das Sotschi-Abkommen von Septem­ber 2018) wendete eine Offensive zunächst ab, konnte sie aber letztlich nicht verhindern. Daran änderten auch die türkischen Beobachterposten entlang der verabredeten Waffenstillstandslinie nichts.

Um dem Vorrücken der syrischen Armee entgegenzuwirken, unterstützte Ankara immer stärker syrische Rebellen und brach­te ab Februar 2020 eigene Truppen und schweres Gerät an die Frontlinie. Die Türkei will einen erneuten Andrang von Flüchtenden auf die Grenzen verhindern, ihre Forde­rung nach einer Schutz- bzw. Pufferzone in der Grenzregion untermauern und Ver­handlungsmasse für die eigene Präsenz in drei Gebieten auf syrischem Territorium schaffen, die sie besetzt hält. Nach einer massiven Eskalation zwischen Türkei und syrischen Rebellen auf der einen und syri­scher Armee, Russland, Iran sowie iran-geführten Milizen auf der anderen Seite einigten sich Moskau und Ankara am 5. März 2020 erneut auf einen Waffenstillstand. Gelten sollte er aber nur in einem eng umgrenzten Streifen von sechs Kilo­meter Breite beiderseits der Schnellstraße M4, welche die syrischen Provinzhaupt­städte Latakia und Aleppo verbindet. Auch wenn der Waffenstillstand bewirkt hat, dass Luftschläge und Artilleriefeuer einge­stellt wurden – das Arrangement ist nicht auf Dauer angelegt und bietet keine Rege­lung, um die widersprüchlichen Inter­essen der involvierten Akteure auszugleichen.

Dramatische Situation der Binnenvertriebenen in Nordsyrien

Für die Lage der Binnenvertriebenen in Syrien zeichnet sich keine Verbesserung ab. Nach Angaben der VN sind von Anfang Dezember 2019 bis Mitte März 2020 fast eine Million Syrerinnen und Syrer – davon rund 60 Prozent Kinder und 20 Prozent Frauen – vor den Kampfhandlungen und den vorrückenden syrischen Truppen ge­flüchtet. Damit ist rund ein Viertel der Menschen in den betroffenen Gebieten der Provinzen Idlib und Aleppo auf der Flucht. Der Weg in die Türkei ist den Menschen versperrt. Sie hat ihre Grenzbefestigungen in den letzten Jahren ausgebaut und hält die Übergänge geschlossen. Rund 550 000 Menschen haben im Nordwesten Idlibs im Grenzgebiet Zuflucht gesucht, über 400 000 befinden sich in den türkisch kontrollierten Gebieten weiter östlich, vor allem in den Enklaven al-Bab und Afrin.

Viele fliehen bereits zum wiederholten Male. Denn seit 2017 wurden rund 1,5 Mil­lio­­nen Syrerinnen und Syrer im Zuge soge­nannter Versöhnungsabkommen, die der Rückeroberung abtrünniger Gebiete durch Damaskus dienten, aus anderen Landes­teilen nach Idlib evakuiert oder flohen dorthin vor dem Regime. Damit hatte sich die Bevölkerung in der Provinz verdoppelt. Schon vor der aktuellen Krise waren 2,8 Millionen Menschen im Nordwesten Syriens von humanitärer Unterstützung abhängig. Die Lage der Geflüchteten hat sich nun noch einmal drastisch verschärft, auch vor dem Hintergrund harscher Witte­rungsbedingungen. Es fehlt an (heizbaren) Unterkünften, Wasser, Hygiene-Einrich­tun­gen, Nahrungsmitteln und Schutz vor Übergriffen.

Schon jetzt ist absehbar, dass es zu wei­teren Fluchtbewegungen aus Syrien in Rich­tung Türkei kommen wird, wenn sich die Kampfhandlungen in der Provinz Idlib wie­der zuspitzen bzw. Damaskus die Kontrolle im Nordwesten des Landes übernimmt. Dann dürfte der Druck auf die Grenze zu­nehmen, deren Übergänge die Türkei seit März 2015 grundsätzlich geschlos­sen hält, die sie 2018 durch einen Grenzwall befes­tigt hat und die sie auch mit Gewalt gegen schutzsuchende Flüchtende verteidigt, wie Menschenrechtsorganisationen berichten. Auch mittel- bis langfristig dürfte die Rück­kehr von Geflüchteten nach Syrien einge­schränkt bleiben und werden wohl weitere Menschen das Land verlassen (wollen), um Repression und Verfolgung zu entgehen bzw. angesichts von Wirtschafts- und Wäh­rungskrise ihren Lebensunterhalt anderswo zu verdienen.

Lage der Geflüchteten in der Türkei

Die Türkei ist schon heute das Land, das weltweit die meisten Geflüchteten aufge­nommen hat. Syrerinnen und Syrer haben daran mit rund 3,6 Millionen Menschen den größten Anteil. Hinzu kommen 400 000 bis 500 000 nichtsyrische Geflüchtete, vor allem aus Afghanistan, Irak und Iran. Syrische Geflüchtete genießen in der Türkei temporären Schutz, und nur rund 2 Prozent von ihnen leben in Flüchtlings­lagern. Sie können eine Arbeitserlaubnis erhalten, was aber letztlich vom guten Wil­len des Arbeitgebers abhängt. Im Vergleich zu anderen Nachbarländern Syriens ist in der Türkei unter den Geflüchteten die Ein­schulungsrate hoch, ebenso der Anteil jener, die im formellen oder informellen Sektor arbeiten. Dennoch ist es eine große Herausforderung für die Türkei, die syri­schen Geflüchteten sozial und wirtschaftlich zu integrieren (vgl. SWP Comments 1/2020 und 5/2020). Angesichts der sich vertiefenden Wirtschaftskrise im Land ist zudem die Haltung der Bevölkerung ihnen gegenüber zunehmend feindselig geworden. In der Folge hat die Regierung mehr und mehr Maßnahmen ergriffen, die die Geflüchteten einschränken. So dürfen sie sich nicht mehr in Istanbul aufhalten, son­dern nur noch in jenen Distrikten, in denen sie ursprünglich registriert wurden. An­scheinend wurden Geflüchtete überdies gezwungen, Erklärungen für eine »freiwillige« Rückkehr zu unterzeichnen. Ihnen droht eine Abschiebung unter inhumanen Bedingungen. Nach Angaben des VN-Hoch­kommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) sind von 2016 bis Januar 2020 rund 87 000 Ge­flüchtete aus der Türkei nach Syrien zurück­gekehrt. Es ist davon auszugehen, dass ein großer Teil dies nicht freiwillig getan hat.

Die Rückführung von Geflüchteten spielt zunehmend auch eine Rolle bei Ankaras militärischen Offensiven im südlichen Nach­­barland. Als im Januar 2018 die »Operation Olivenzweig« anlief, betonte Präsident Recep Tayyip Erdoğan in einer Rede, das Ziel des Vorstoßes sei, »Afrin seinen wahren Besitzern zurückzugeben … und dreieinhalb Millionen Syrer in ihre Heimat zurück­zuführen«. Im September 2019 – einen Monat vor der jüngsten Militärinvasion – präsentierte Erdoğan vor der VN-General­versammlung einen Plan für ein Wiederaufbauprojekt, das darauf angelegt ist, rund eine Million Geflüchtete in einer Schutz­zone im Nordosten Syriens anzusiedeln.

Eskalation an der türkisch-griechischen Grenze

Ende Februar 2020 verkündete die türki­sche Regierung, sie werde die Übergänge nach Griechenland öffnen. Sie lockte so Flüchtlinge und Migranten an die Grenze zum Nachbarland und provozierte dort eine humanitäre Notlage. Bei diesem Vorgehen ließ sich Ankara von vier Zielsetzungen leiten: 1) eine höhere finanzielle Unterstützung der EU zum Ausgleich der Kosten, die der Türkei durch die Aufnahme von Ge­flüchteten entstehen; 2) ein stärkeres finan­zielles und diplomatisches Engagement der Europäer angesichts der humanitären Not­lage im syrischen Idlib, das dazu beitragen würde, die Krise vor Ort zu meistern und neue Fluchtbewegungen in die Türkei zu verhindern; 3) eine stärkere politische bzw. militärische Unterstützung der Türkei bei ihrem Ansatz in Nordsyrien und 4) finan­zielle Hilfe für die türkischen Wiederaufbaubemühungen in den von Ankara kon­trollierten Gebieten im Norden Syriens, etwa bei der Schaffung von Infrastrukturen zur Ansiedlung rückgeführter Geflüchteter.

Die griechische Regierung hat den Flüchtlingen und Migranten unter Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen die Einreise nach Griechenland verwehrt und die Möglichkeit, Asyl zu beantragen, für einen Monat ausgesetzt. Laut Presseberichten soll zudem ein geheimes Lager auf dem griechischen Festland dazu genutzt worden sein, neu angekommene Migranten und Flüchtlinge festzuhalten, um sie anschließend – unter Umgehung rechtsstaatlicher Verfahren – in die Türkei zurückzubringen. Zahlreiche EU-Vertreter, auch Kommis­sionspräsidentin Ursula von der Leyen und der Rat der Innenminister, bekundeten klare Unterstützung für die Abwehrmaßnahmen Griechenlands. Frontex, die Grenz- und Küstenwache der EU, wurde beauftragt, die Kontrolle der Land- und Seegrenzen zur Türkei mit zwei Soforteinsätzen zu verstärken und die Rückführungsoperationen zu intensivieren. Für diese und andere Maßnahmen – wie finanzielle Anreizprogramme für freiwillige Heimreisen, die Auf­stockung der Aufnahmekapazitäten in der griechischen Evros-Region und eine Stär­kung der dortigen für Gesundheits- und Sicherheitsscreenings erforderlichen Infra­struktur – hat die EU-Kommission 350 Mil­lionen Euro Soforthilfe bereitgestellt. Wie sie ankündigte, soll dieser Betrag durch eine Haushaltsumschichtung noch verdop­pelt werden. Zeitverzögert und nur zurück­haltend äußerte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson Kritik an den offensichtlichen Verstößen Griechenlands gegen das inter­nationale und europäische Flüchtlingsrecht. Dabei besteht das Risiko, dass Brüssel durch die wachsende operative Beteiligung von EU-Agenturen direkte Mitverantwortlichkeit dafür übernimmt.

Die unmittelbare Krise an der griechischen Außengrenze der EU hat sich Mitte März vorläufig leicht entspannt. Denn die Türkei hat bis auf weiteres davon abgelassen, Schutzsuchende und Migranten aktiv an einzelne Übergänge an der Grenze nach Nordgriechenland zu bringen. Somit scheint die aus europäischer Sicht oftmals als »Erpressungsversuch« beschriebene Politik Ankaras vorerst beendet. Auch die türkische Küstenwache betreibt wieder reguläre Grenzüberwachung. Dies dürfte jedoch Überfahrten auf die griechischen Ägäis-Inseln nicht vollständig stoppen, zumal sie durch mildere Witterungsverhältnisse im Frühjahr begünstigt werden.

Anhaltende Krise auf den griechischen Ägäis-Inseln

Die Lebensbedingungen für Migranten und Geflüchtete auf den griechischen Ägäis-Inseln sind nach wie vor katastrophal. Die seit Ende 2015 mit EU-Unterstützung auf­gebauten Einrichtungen (sogenannte Hot­spots) sind lediglich für gut 6 000 Personen ausgerichtet, beherbergen aber mittlerweile 41 000 Menschen. Die dramatische Über­belegung ist eine – ungeplante – Folge der EU-Türkei-Erklärung von 2016, die unter anderem vorsieht, dass Asylbewerber in der Regel nicht auf das griechische Fest­land verbracht werden dürfen. Gleichzeitig verliefen die Asylverfahren auf den Inseln nur äußerst schleppend, und die in der Erklärung vorgesehenen Rückführungen in die Türkei konnten kaum umgesetzt wer­den. NGOs, UNHCR und verschiedene EU-Institutionen kritisieren seit langem die Zustände in den Aufnahme-Einrichtungen. Zu den Problemen dort zählen neben der Überbelegung auch mangelnde Sicherheit, desolate sanitäre Bedingungen sowie unzu­reichender Zugang zu medizinischer Ver­sorgung und psychosozialer Unterstützung. Immer wieder kommt es zu Unfällen und Bränden, ebenso zu gewalttätigen Ausschreitungen, die bereits mehrere Todes­opfer gefordert haben. Die ersten Fälle von Coronavirus-Infektionen auf den griechischen Inseln könnten die Situation in den dorti­gen Lagern zusätzlich verschärfen.

Die griechische Regierung erwägt bereits seit Monaten, die Menschen auf das Fest­land zu evakuieren. Mittel- bis langfristig will Athen neu auf den Inseln ankommende Asylbewerber in geschlossenen Lagern unterbringen. Deren Bau ist bislang jedoch durch lokale Proteste weitgehend verhindert worden. Mit dem im Januar 2020 in Kraft getretenen Asylgesetz hat Griechenland zudem die Bleibegründe weiter einge­schränkt; durch den Einsatz von Polizei und Militär sollen die Asylverfahren beschleunigt werden. Ob es der griechischen Regie­rung gelingt, abgelehnte Asylbewerber ver­stärkt in die Türkei zurückzuführen, hängt von zweierlei ab. Zum einen haben die griechischen Gerichte zu entscheiden, ob die Türkei als sicherer Drittstaat gilt. Zum anderen kommt es darauf an, dass Ankara zur Kooperation bereit ist – was durch die jüngste Krise an der gemeinsamen Land­grenze grundsätzlich in Frage gestellt wurde.

Der Hintergrund der EU-Türkei-Erklärung

Eine Zusammenarbeit zwischen EU und Türkei ist dringend notwendig, für die Versorgung von Schutzsuchenden ebenso wie zur Grenzsicherung. Beide Seiten haben im Verlauf der zurückliegenden Krise be­tont, dass für diese Zwecke die bestehende EU-Türkei-Erklärung von März 2016 – viel­fach auch als »Flüchtlingspakt« bezeich­net – weiterhin als Bezugsrahmen gilt. Nach einem Treffen mit Erdoğan am 9. März 2020 in Brüssel kündigte EU-Ratspräsident Charles Michel an, der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, und der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu sollten gemeinsam über­prüfen, wie die Erklärung besser umgesetzt werden könnte.

Spätestens ab 2014 war es vor allem auf­grund der Eskalation des Bürgerkriegs in Syrien zu einer massiven humanitären Not­lage und zu Versorgungsengpässen seitens des UNHCR gekommen. Die erste Reaktion Brüssels bestand im »EU Regional Trust Fund in Response to the Syrian Crisis« (»Madad Fund«). Der Treuhandfonds ermög­lichte 2014 eine erste finanzielle Unterstützung für mehrere Nachbarländer Syriens, war aber bei weitem nicht ausreichend. Angesichts rasant steigender Flüchtlingszahlen versuchte Brüssel im Herbst 2015, mit dem »EU-Türkei-Aktionsplan« umfassende Stabilisierungsmaßnahmen einzuleiten. Der erste Teil des Plans zielte auf eine Verbesserung der humanitären Lage von Geflüchteten in der Türkei. Erreicht werden sollte dies sowohl durch europäische Hilfs­zahlungen als auch durch gesetzliche und institutionelle Reformen in der Türkei. Vor allem Letztere waren entscheidend dafür, dass geflüchtete Syrer in dem Nachbarland eine mittelfristige Perspektive erhielten. So wurde etwa der türkische Arbeitsmarkt geöffnet, und syrische Kinder konnten zur Schule gehen. Der zweite Teil des Aktionsplans konzentrierte sich auf den Grenzschutz und Kampagnen zur Aufklärung irregulärer Migranten. Dies lag im europäischen wie auch im türkischen Inter­esse. Denn die Türkei wollte vermeiden, langfris­tig als Korridor für Flucht und Migration aus verschiedenen Teilen des Nahen Ostens und Asiens nach Europa zu dienen.

Zur politischen Unterfütterung und operativen Umsetzung der Zusammenarbeit war es aber notwendig, zusätzlich ein brei­teres Maßnahmenpaket zu vereinbaren. Dies geschah im März 2016 mit der EU-Türkei-Erklärung. Darin konkretisierten die Euro­päer ihre finanziellen Zusagen; bis Ende 2018 konnten demnach Mittel in Höhe von maximal 6 Milliarden Euro flie­ßen. Aller­dings sollten im Gegenzug ab einem Stich­tag keine Asylanträge von Syrern mehr angenommen werden, die irregulär auf den griechischen Inseln anlandeten. Sie sollten möglichst umgehend wieder in die Türkei – die hierfür als sicherer Drittstaat defi­niert wurde – abgeschoben werden. Um­gekehrt sollte die EU besonders schutz­­bedürftige Personen aus der Türkei in einem legalen Verfahren der Neuansiedlung über­nehmen, idealerweise in einer Zahl, die exakt jener der rückgeschobenen Syrer von den Inseln entsprechen würde (»Eins-zu-eins-Mechanismus«). Wenn die irregulären Überfahrten über die Ägäis weitgehend ge­stoppt wären, sollte die Aus­sicht auf weite­re humanitäre Übersiedlungen aus der Tür­kei bestehen. Außerdem verpflichteten sich die Europäer, die EU-Beitrittsgespräche mit Ankara neu zu beleben, sich weiter um eine Vertiefung der Zollunion zu bemühen und die Verhandlungen über eine Visa­befreiung für türkische Staatsbürger zu be­schleunigen.

Bisherige Umsetzung des Paktes

Die EU-Gelder wurden vor allem für Maß­nahmen in den Bereichen Bildung, Gesund­heit und humanitäre Hilfe ausgegeben. Waren bis zu 6 Milliarden Euro zugesagt, so wurden laut EU-Kommission bisher Verträ­ge für Leistungen in Höhe von 4,7 Milliarden Euro unterzeichnet, von denen 3,2 Mil­liarden Euro schon ausbezahlt sind. Die Gelder wurden vor allem für Projekte bewil­ligt, die von VN-Organisationen, internationalen Finanzorganisationen und einigen NGOs umgesetzt werden. Gut 1,5 Milliarden Euro sind direkt für staatliche Stellen in der Türkei, allen voran das Bildungsministe­rium, vorgesehen. Der EU-Rechnungshof hob in einer Prüfung Ende 2018 hervor, erforderlich sei ein Übergang von temporär begrenzter humanitärer Hilfe hin zu Maß­nahmen, die langfristig tragfähige Unterstützungsstrukturen schaffen.

Als größte Errungenschaft der EU-Türkei-Erklärung gilt aus europäischer Sicht, dass die Zahl irregulärer Einreisen in die EU reduziert worden ist. Das für viele Befürworter des Paktes wichtigste Argument für dessen Fortsetzung lautet, dass er abschreckend gewirkt und dadurch auch die Zahl der Todesopfer bei Überfahrten drastisch gesenkt habe. Als ursächlich dafür wird immer wieder der Eins-zu-eins-Mechanis­mus genannt. Allerdings erfolgte die Um­setzung dieses Punktes eher symbolisch. Bis Ende Januar 2020 wurden insgesamt nur etwa 2 000 Personen von Griechenland an die Türkei überstellt, ein Bruchteil der Asyl­antragsteller auf den griechischen Inseln. Zugleich übernahm die EU mehr als 25 000 besonders schutzbedürftige Syrer aus der Türkei. Dies war allerdings weniger als die Hälfte des ursprünglich vorgesehenen Kontingents; die Ursachen dafür liegen vor allem in Defiziten der griechischen Verwal­tung. Die größte Gruppe von Rücküberstellten bestand aus Pakistanern, die weder in der EU noch in der Türkei Aussicht auf Schutz haben. Deshalb bleibt umstritten, ob es nicht doch überwiegend anderen Fakto­ren als dem Übernahmemechanismus des Paktes geschuldet ist, dass die Zahl der Überfahrten auf die griechischen Inseln deutlich abgenommen hat. Für diese Ent­wicklung, die sich bereits im Winter 2015/ 2016 abzeichnete, könnten auch die Witte­rungsbedingungen verantwortlich sein, die verbesserte humanitäre Lage in der Türkei sowie die zunehmenden Grenzkontrollen auf der sogenannten Balkanroute. In jünge­rer Zeit wirkten sicher auch die un­mensch­lichen Bedingungen auf den grie­chischen Inseln abschreckend.

Andere Elemente des Paktes, wie etwa die Visaliberalisierung, konnten und kön­nen wegen der innenpolitischen Lage in der Türkei seit dem Putschversuch von Juli 2016 nicht eingelöst werden. Nur die Ver­tiefung der Zollunion erscheint aus techni­scher Sicht noch möglich, auch wenn sich die ökonomischen Voraussetzungen mitt­lerweile stark verändert haben und es Prob­leme in Fragen der Rechtsstaatlichkeit gibt.

Von den neun Punkten des Paktes wurde letztlich nur die europäische Zusage finan­zieller Hilfen eingehalten – und das mit beträchtlichen Verzögerungen. Die EU kann darauf verweisen, dass der allergrößte Teil der Finanzmittel vergeben ist und bis­lang nicht abgeflossene Gelder im Rahmen längerfristiger Projekte noch ausgezahlt werden. Dessen ungeachtet kann die Türkei auf dringend notwendige Zukunftsperspektiven pochen, da die ersten Projekte zur direkten Unterstützung syrischer Geflüchteter im Herbst 2020 auslaufen werden. Die EU konnte sich bisher nicht darauf einigen, neue Mittel für die Türkei zu mobilisieren. Dies hängt auch damit zusammen, dass sich die Verhandlungen über den nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen der EU (2021–2027) insgesamt schwierig gestalten. Die Corona-Krise dürfte die Lage noch einmal dramatisch verschärfen, da nun in den Mitgliedstaaten der EU vordringlich umfassende Not- und Nachtragshaushalte verabschiedet werden, um wirtschaftliche Schäden einzudämmen.

Vorschläge zur Reform der EU‑Türkei-Erklärung

Es liegen einige Vorschläge zur Überarbeitung des Flüchtlingspaktes vor. Ansatzpunkt sind dabei die Defizite des bisher be­stehenden Rahmens, die je nach Perspek­tive unterschiedlich bewertet und gewichtet werden. Zu den bemängelten Punkten zäh­len unter anderem die unwürdigen Auf­nahmebedingungen auf den griechischen Inseln, die ungenügende Qualität und zu lange Dauer der Asylverfahren, das Fehlen von Mechanismen zur Überwachung der Vereinbarungen und die unzureichende Zahl an Rückführungen in die Türkei bzw. an Geflüchteten, die von den EU-Mitglied­staaten aus der Türkei direkt übernommen werden. Insgesamt würden, so der zentrale Vorwurf, die wichtigsten Bestimmungen nicht umgesetzt – der Pakt funktioniere als Ganzes nicht.

Um Abhilfe zu schaffen, wurden kleinere oder größere Reformen empfohlen. Sehr weitgehende Vorschläge stammen von der European Stability Initiative (ESI), die sich als Initiatorin der EU-Türkei-Erklärung ver­steht. Die ESI plädiert für eine Neuauflage des Flüchtlingspaktes, eine »EU-Türkei-Erklärung 2.0«. Dafür seien kurz- und mit­telfristige Maßnahmen nötig. Die vordringlichen Ziele müssten darin bestehen, den humanitären Notstand auf den griechischen Inseln durch sofortige Leerung der dortigen Lager zu beenden und eine neue humanitäre Katastrophe auf dem griechischen Festland zu vermeiden.

Um einem solchen Ansatz zum Erfolg zu verhelfen, müssten die griechischen Behör­den zweierlei unternehmen. Zum einen müssten nach Auflösung der bestehenden Lager neue menschenwürdige Aufnahmezentren und Unterkünfte bereitgestellt werden. Zum anderen wäre ein System zu schaffen, das innerhalb von zwei Monaten zu Asylentscheidungen in zweiter Instanz gelangt. Bei Planung und Umsetzung bräuchte Griechenland die Unterstützung anderer EU-Staaten. Für Syrerinnen und Syrer, die nach den Vorschlägen der ESI ohne ein Asylverfahren in die Türkei zurückgeschickt werden sollten, wäre ge­meinsam mit Ankara ein Überprüfungs­mechanismus einzurichten, der sicherstellt, dass die Menschen dort gemäß internationalen Standards behandelt werden. Diese Maßnahmen könnten die Situation stabili­sieren und die Zahl irregulärer Einreisen wieder reduzieren. Im Gegenzug sollten die EU-Staaten ihr Versprechen einlösen, Flücht­­linge direkt aus der Türkei umzusiedeln. Dies müsste allerdings einen größeren Um­fang haben als bisher, innerhalb des ersten Jahres beispielsweise 50 000 Menschen. Er­gänzend wären weitere 6 Milliarden Euro an die Türkei zu zahlen, um sie bei der Auf­nahme und Versorgung syrischer Ge­flüch­teter – deren Zahl in den nächsten Jahren weiter steigen dürfte – zu unterstützen.

Einzelne dieser Reformvorschläge sind sinnvoll und zumal im Zeichen der Corona-Krise unbedingt zu verwirklichen. Dies betrifft insbesondere die Leerung der Lager auf den Inseln, die Unterstützung Griechenlands bei der Bearbeitung von Asylanträgen, mehr Umsiedlungen vom griechischen Festland in andere EU-Staaten und weitere finanzielle Zuwendungen an die Türkei. Wenig sinnvoll ist es jedoch, auch aus Sicht der ESI, den Eins-zu-eins-Mechanismus fortzuführen. Gleichwohl geht die ESI nach wie vor davon aus, dass jede Person, die nach Inkrafttreten einer Neuauflage der EU-Türkei-Erklärung in Griechenland ankommen würde, in die Türkei zurückgeführt werden könnte. Die bisherigen Erfahrungen zeigen aber, dass gerade diese Erwartung so voraussetzungsvoll ist und so viele Unwäg­barkeiten enthält, dass eine Umsetzung der Verpflichtungen unter den bestehenden Rahmenbedingungen nicht zu erwarten wäre. Deshalb sollte auf diese Komponente verzichtet werden.

Ein umfassender Ansatz

Offensichtlich wäre es nicht ausreichend, lediglich die EU-Türkei-Erklärung zu refor­mieren. Vielmehr sollte sie von europäischer Seite in einen umfassenderen Ansatz eingebettet werden. Zu diesem Zweck muss die EU erstens Griechenland entschiedener unterstützen. Der anhaltende Ausnahmezustand auf den Inseln sollte durch Eva­kuierung auf das Festland so schnell wie möglich beendet werden. Auch können die fast 90 000 offenen Asylverfahren nicht ohne EU-Hilfe bearbeitet werden. Das Euro­päische Asylunterstützungsbüro (EASO) hat bereits angekündigt, die Zahl der nach Grie­chenland entsandten Beamten im Jahr 2020 auf über 1 000 zu verdoppeln. Für anerkannte Flüchtlinge sind Programme zur Um­siedlung in andere Mitgliedstaaten erfor­der­lich. Aufgebaut werden sollte dabei auf der von sieben EU-Staaten angekündigten Initiative, freiwillig 1 600 unbegleitete Min­der­jährige aufzunehmen. Für abgelehnte Asyl­bewerber sind – soweit es die Lage im Her­kunftsland erlaubt – EU-finanzierte Rück­kehrprogramme denkbar. Nur wenn Grie­chenland wirksam unterstützt wird, haben auch die Vorschläge für eine grund­legende Reform des Gemeinsamen Europäi­schen Asylsystems eine Aussicht auf Erfolg – ein Unterfangen, das die EU-Kommission mit dem »Pakt für Migration und Asyl« für das Frühjahr 2020 angekündigt hat.

Es liegt zweitens im europäischen Inter­esse, sich noch stärker in den Nachbarstaaten Syriens zu engagieren. Dabei gilt es, die materiellen und gesellschaftlichen Kosten der Hauptaufnahmestaaten für syrische Geflüchtete (Türkei: 3,6 Millionen, Libanon: 900 000, Jordanien: 650 000, Irak: 250 000) zumindest teilweise aufzufangen, Verteilungskonflikten in diesen Ländern effektiv entgegenzuwirken und vorschnelle Rück­führungen in eine Situation der Unsicherheit in Syrien zu verhindern, mit denen zudem die Hilfsorganisationen dort völlig überlastet würden. Stattdessen sollten die Europäer viel entschlossener als bisher in das Humankapital der syrischen Bevölkerung in der Diaspora investieren. Nach Angaben von UNICEF wird derzeit etwa die Hälfte der syrischen Kinder in dem Land selbst und den Nachbarländern nicht be­schult. Unabhängig davon, ob Geflüchtete nach Syrien zurückgehen oder auf Dauer in den derzeitigen Aufnahmestaaten bleiben, sind ausreichende Schulbildung, Ausbildung und Versorgung essentiell, damit sie nicht langfristig von Hilfe abhängig blei­ben. In diesem Sinne sollte die EU mit den Aufnahmestaaten auch einen Dialog dar­über führen, wie die Maßnahmen effektiver gestaltet werden können.

Es ist drittens im europäischen Interesse, schnell und massiv zu einer Linderung des Flüchtlingselends in der umkämpften Pro­vinz Idlib beizutragen und einer Ausbreitung von Covid-19 unter den Geflüchteten vorzubeugen. Daher sollten die Europäer – in Kooperation mit UNHCR, der Weltgesund­heitsorganisation (WHO), dem Welt­ernährungsprogramm (WFP), internationalen NGOs sowie der Türkei – sofort Hilfs­lieferungen und Notunterkünfte für jene bereitstellen, die unter menschen­unwür­digen Bedingungen nahe der türki­schen Grenze ausharren. Gleichzeitig muss es darum gehen, gegenüber Russland dar­auf zu drängen, dass der grenzüberschreitende Zugang für humanitäre Hilfe auch nach dem 10. Juli 2020 erhalten bleibt, wenn die entsprechende Sicherheitsrats­resolution ab­läuft. Und die Europäer sollten sich gegen­über Moskau und Ankara dafür einsetzen, den Waffenstillstand in Idlib auszuweiten und zu verstetigen, damit sich auf dem Verhandlungswege Regelungen für die diversen Konfliktpunkte (territoriale Kon­trolle, Schutz für die Zivilbevölkerung, Umgang mit bewaffneten Kämpfern etc.) finden lassen.

Viertens wäre es in diesem Zusammenhang sinnvoll, wenn sich Russland und die Türkei darauf verpflichteten, im Norden der Provinz Idlib eine Schutzzone für Binnen­vertriebene zu schaffen und zu sichern. Für die Einrichtung einer solchen Zone soll­ten die Europäer Unterstützung anbie­ten, sofern bestimmte Minimalbedingungen gewährleistet sind. In der Zone dürften sich nur unbewaffnete Zivilisten aufhalten; sie dürfte nicht zum Ausgangspunkt militärischer Operationen werden und ebenso wenig der Rückführung von Geflüchteten aus der Türkei dienen. Ein militärisches Engagement der Europäer oder gar der Nato, wie von Ankara gefordert, würde von Moskau (wie Damaskus) abgelehnt und daher kein Mandat des VN-Sicherheitsrats erhalten. Solche Schritte liefen damit Ge­fahr, die Situation weiter eskalieren zu las­sen, statt zu einer Beruhigung beizutragen. Auch sollten die Europäer die Militäroperationen und politischen Ambitionen der Türkei im Norden Syriens weder diplomatisch noch finanziell oder militärisch unter­stützen. Zwar hat die Türkei ein legitimes Interesse daran, ihre Grenze zu Syrien zu sichern und potentielle Angriffe auf ihr Territorium aus dem Nachbarland abzuwehren. Ihre Militärinvasionen und die Besetzung syrischen Territoriums verstoßen aber klar gegen Völkerrecht.

Dr. Sinem Adar ist Wissenschaftlerin am Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) an der SWP. CATS wird gefördert durch die Stiftung Mercator und das Auswärtige Amt. Dr. Steffen Angenendt ist Leiter der Forschungsgruppe Globale Fragen. Dr. Muriel Asseburg ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika. Dr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU/Europa. David Kipp ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Globale Fragen und arbeitet in dem vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geförderten Projekt »Flucht, Migration und Entwicklung – Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten für deutsche und europäische Politik«.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364