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Strategische Souveränität neu denken

Narrative und Prioritäten für Europa nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine

SWP-Aktuell 2022/A 29, 11.04.2022, 8 Seiten

doi:10.18449/2022A29

Forschungsgebiete

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zwingt die Europäer in eine konfrontative Sicherheitsordnung. Damit bekommt auch das Ziel strategische Souveränität eine neue Bedeutung für die Europäische Union. Das gilt zuvorderst für die Verteidigungs­politik, aber auch für Wirtschaft, Technologie, Energiepolitik und Institutionen. Bis­lang lautete ein zentrales Narrativ, dass die EU autonome Handlungsfähigkeit ohne die USA erreichen müsse. Vorrang sollte aber nunmehr haben, wie die EU-Mitglied­staaten geschützt werden können und wie sich gemeinsame europäische Interessen durch­setzen lassen. Dabei steht die Union vor einem Dilemma, das sich auf absehbare Zeit nicht auflösen, sondern nur abmildern lässt: In der neuen konfrontativen Sicher­heits­ordnung Europas steigt ihre sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA wei­ter, während Amerikas langfristige Bündnisfähigkeit mit Fragezeichen behaftet bleibt. Strategische Souveränität muss daher das Streben nach kollektiver Verteidigungsfähigkeit Europas in enger Kooperation und Koordination von EU und Nato einschließen.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukra­ine und die dadurch ausgelösten Verwerfun­gen in der europäischen Sicherheit werden das politische Narra­tiv um europäische stra­tegische Souveränität nachhaltig verändern. Wegen der direkten militäri­schen Bedrohung an den eigenen Grenzen geht es nicht mehr in erster Linie darum, dass die EU größere Autonomie gegenüber den USA erlangt. Vielmehr muss vor allem die Union handlungsfähiger werden, um zum Schutz ihrer Mitgliedstaaten beizutragen sowie europäische Inter­essen in einer von Groß­mächterivalitäten gepräg­ten globalen Poli­tik zu behaupten.

In der Folge des Ukraine-Krieges müssen daher auch die Kernfragen im Zusammenhang mit strategischer Souveränität neu beantwortet werden: Wie kann diese mili­tä­risch abgesichert werden? Wie verschieben sich die thematischen Prioritäten? Welche institutionellen Reformen schaffen mehr Handlungsfähigkeit? Wie geht die EU künf­tig mit ihrer Erweiterungspolitik um? Wie verändern sich die Beziehungen der EU zu Partnern und Drittstaaten?

Europas neue konfrontative Sicherheitsordnung

Im Laufe der letzten drei Deka­den ist die Idee einer europäischen Sicherheitsordnung degeneriert, nämlich von der Hoffnung auf eine »dauerhafte und gerechte Friedens­ordnung von Van­couver bis Wladiwostok« (Hans-Dietrich Genscher) zu einer zunehmend ant­agonistischen Konstellation zwi­schen dem Westen und Russland unter Füh­rung von Präsident Wladimir Putin. Ausdruck dieser Entwicklung waren bereits der Geor­gien-Krieg, die Annexion der Krim und das russische Vorgehen in Syrien.

Mit dem Ukraine-Krieg zeichnet sich der Übergang zu einer konfrontativen europäischen Sicherheitsordnung ab. Diese mani­festiert sich nicht nur in der Ukraine und im Verhältnis zwischen den EU- bzw. Nato-Staaten und Russland, sondern auch in der weiteren Nachbarschaft der EU wie etwa im Westbalkan, im Nahen Osten oder in Mali.

EU und Nato bestehen als wesentliche Säulen der »alten Ordnung« fort und schei­nen infolge des Angriffs sogar, nach innen gestärkt, an Bedeutung zu gewinnen. Gro­ßen Scha­den genommen haben dagegen jene Insti­tutionen, die nicht zuletzt dazu dienten, Russ­land in die europäische Ord­nung einzubinden, allen voran OSZE und Europarat. Nato-Russland-Rat und Nato-Russland-Grundakte sind möglicherweise dauerhaft zerstört.

Diese neue Konstellation hat unmittel­bare Auswirkungen auf die Möglichkeiten und Grenzen europäischer strategischer Souveränität. Erstens werden die Mitgliedstaaten der EU sowie die europäischen Nato-Partner erhebliche Kosten schultern müssen, um sich von Russland energie­politisch abzukoppeln und zugleich die sicherheits- und machtpolitischen Ambitio­nen des Kremls einzudämmen. Damit blei­ben weniger Aufmerksamkeit und Ressour­cen für Politikfelder, die nicht direkt mit dieser Herausforderung zusammenhängen.

Zweitens hat Putin deutlich gemacht, dass es ihm nicht nur um das Nachbarland geht, sondern um eine grundlegendere Neu­ordnung europäischer Sicherheit. Das hieße auch, die russische Vor­macht im »postsowjetischen Raum« wiederherzustellen. Damit eng verbunden ist ferner das Ziel, die USA politisch und sicherheitspolitisch aus Euro­pa zu ver­drängen.

Drittens müssen EU und Nato klären, wie sie ihre jeweiligen Erweiterungsprozesse und -perspektiven unter den Be­dingungen einer konfrontativen Sicherheits­ordnung fortführen wollen und kön­nen. Auf kürzere und mittlere Sicht wird vor allem in Schwe­den und Finnland über einen schnellen Nato-Beitritt debattiert (siehe SWP-Aktuell 19/2022). Bislang gibt es wenig An­zeichen dafür, dass auch andere bünd­nisfreie EU-Staaten wie Irland, Malta oder Österreich ihren Status ernsthaft überdenken wollen.

Mit neuer Brisanz stellt sich die Frage nach der sicherheitspolitischen Integration der Staaten in der östlichen Nachbarschaft der EU. Die Ukraine, die Republik Moldau und Georgien haben einen EU-Beitritts­antrag gestellt, und die geostrategische Konkurrenz mit Russland im westlichen Balkan spitzt sich zu. Aus­zu­loten ist, wie weit auch im Sinne strategischer Souve­ränität die Grenzen der euro­atlantischen Sicherheit reichen und wie die­se garantiert werden kann. Das ist gera­de auch für jene Staaten von Belang, die abseh­bar keine Aussicht auf Nato-Mitgliedschaft haben.

Was strategische Souveränität jetzt bedeutet

Diese fundamentalen Umbrüche in Europa erfordern es, die Ziele strategischer Souve­rä­nität neu zu definieren. Schon in den letz­ten Jahren war die Debatte um stra­tegische Souveränität, oder – je nach Ver­ständnis – strategische Autonomie Europas ein Fix­punkt des europapolitischen Dis­kurses.

Spätestens seit Gründung der Euro­päischen Union mit ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik waren Grund­züge des Narrativs der »Selbst­behauptung Europas« (Helmut Schmidt) Teil der poli­ti­schen Be­gründung für die europäische Inte­gration. Doch erst Trumps Amtszeit als US-Präsident hat die Frage nach strategischer Autonomie in den Vordergrund gerückt.

Deren Befürworter waren trotz oder wegen der hohen sicherheitspolitischen Abhängigkeit von den USA haupt­sächlich von dem Problem getrieben, wie Europa auto­nom von Dritten seine eigenen Inter­essen und Prioritäten setzen kann (siehe SWP-Studie 2/2019). Das betraf neben den USA auch die anderen »Großmächte« China und Russland. Vor allem das Ziel »Mehr Autonomie gegenüber den USA« hatte zur Folge, dass viele mittel- und ost­europäische Staaten die Idee ablehnten. Mit Blick auf Russland bewerteten sie schon vor Beginn des Ukraine-Krieges das US-amerikanische Bündnisversprechen als existentiell.

Geprägt war die Debatte bisher stark von Disputen über die verschiedenen Defi­nitio­nen von Termini wie »strategische Autonomie«, »offene strategische Autonomie«, »euro­päische (strategische) Souveränität« oder »Handlungsfähigkeit«. Diese Schlüssel­begriffe bezeichnen unterschiedliche An­spruchsniveaus.

Der Begriff Handlungsfähigkeit bezieht sich vor allem auf die politischen und mate­riellen Voraussetzungen der gemeinsamen euro­päischen Außen- und Sicherheitspolitik. Handlungsfähigkeit erfordert politische Institutionen in oder außerhalb der EU, in denen sich möglichst schnell verbindliche Ent­scheidungen treffen lassen. Nötig sind auch hinreichende Ressourcen, um militä­risch, wirt­schaftlich, technologisch oder politisch handeln zu können. Das Ziel Hand­lungsfähigkeit allein sagt aber nichts dar­über aus, mit wem und in welchen Forma­ten die Europäer gemeinsam handeln.

Strategische Autonomie geht über reine Handlungsfähigkeit hinaus, denn damit ist im Kern die Fähig­keit gemeint, selbst Priori­täten zu setzen, Entscheidungen zu treffen und diese auch umzusetzen (siehe SWP-Stu­die 2/2019). Impliziert und umstritten ist daher besonders der Aspekt der Autonomie gegenüber den USA mit ihren Sicherheitszusagen für Nato-Europa.

Strategische Souveränität ist das anspruchs­vollste Ziel. Der französische Präsi­dent Emma­nuel Macron hat das Schlagwort während seiner Sorbonne-Rede 2017 in die Debatte eingeführt. Der politische Begriff Souveränität impliziert eine gemein­same politische Autorität, welche in demokratischen Staaten vom Volk ausgeht und Aus­gangspunkt für die staatliche Gewalt ist. Mehr noch als strategische Autonomie er­fordert Souveränität daher ein politisches Konstrukt, das jenseits des Nationalstaates bisher nur die EU bietet. Zwar ist diese weit davon entfernt, ein sou­veräner Staat zu sein. Dennoch ist sie schon heute ein einzig­artiges politisches Gebilde, das dazu taugt, gemeinsam Sou­veränität in der vollen Bandbreite staat­licher Politik auszuüben.

Strategische Souveränität wurde damit auch zu einem zentralen Narrativ für die Vertiefung der Europäischen Union. Nach Beginn des Ukraine-Krieges hat die Idee der Souve­ränität eine neue Bedeutung bekom­men. Die Gewährleistung von Sicher­heit und persönlicher Unversehrtheit gehört zu den Kernaufgaben der Staaten. So wie die Bür­gerinnen und Bürger in der Corona-Pan­demie erwarteten, dass die EU (unabhängig von formalen Kompetenzen) Verantwortung für die öffentliche Gesundheit übernimmt, erwarten sie ange­sichts der russischen In­va­sion der Ukraine, dass die EU für die Sicher­heit ihrer Staaten sowie ihrer Bürge­rinnen und Bürger Sorge trägt.

Trotz dieser Debatte haben die EU-Euro­päer zwischen dem Amts­antritt von Donald Trump als US-Präsident und dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nur wenig konkrete und praktische Fortschritte hin zu mehr Souveränität erzielt. Die Verteidigungshaushalte der meisten EU- und Nato-Staaten sind zwar moderat gestie­gen, blie­ben aber größtenteils weit unter dem in der Nato vereinbarten Ziel von 2 Prozent des BIP.

Die EU hat in Gestalt der Stän­di­gen Struk­turierten Zusammenarbeit (PESCO) und des EU-Verteidigungsfonds institutionelle Verfahren geschaffen, aber ihre mili­tärische Handlungsfähigkeit bis dato kaum gestärkt. Mehr greifbare Fortschritte stehen dagegen in wirtschaftlichen Berei­chen zu Buche, etwa im Rahmen der Initiativen zum Schutz vor wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen, zu technologischer Resilienz und zur Projektion europäischer Wirtschaftskraft außerhalb der EU (Global Gateway).

Mehr, aber nicht nur militärische Sicherheit

Die kurz- und langfristigen Folgen des Ukraine-Krieges werfen auch die Frage auf, welche Prioritäten europäische Politik künftig setzen wird. Das Ziel strategische Souveränität umfasst das gesamte Spektrum außen- und sicherheitspolitischen Handelns, nicht nur die verteidigungspolitische Dimension. Diese wird dennoch in Zukunft eine weitaus prominentere Stellung ein­neh­men als bisher. Das betrifft den Aufbau mili­tärischer Fähigkeiten, die Koordination der wachsenden Verteidigungsausgaben, die Aufrechterhaltung der nuklearen Ab­schre­ckung und die damit verbundene Bei­behal­tung der amerikanischen Bündniszusagen.

Darüber hinaus schließt strategische Sou­veränität alle Politikbereiche ein, in denen eine eigenständige Handlungsfähigkeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten für ihren eige­nen Schutz unter den neuen geopolitischen Vorzeichen relevant sind. Jenseits des Mili­tärischen sind es vor allem drei Themen­fel­der, deren Bedeutung für stra­tegische Sou­veränität nach Beginn des russischen Krie­ges gegen die Ukraine weiter gewachsen ist:

Erstens ist hier die autonome Handels­politik zu nennen. Darin ver­fügt die EU bereits über ausschließliche Kompetenzen und aufgrund ihrer Wirtschaftskraft über wirkungsvolle Machtinstru­mente. Im Kon­text des Ukraine-Krieges stehen die mit Part­nern koordinierten Wirtschaftssanktionen gegen Russland im Blickpunkt, aber auch die Ausweitung von Handelsbeziehungen mit Drittstaaten, um Abhängigkeiten von Russland zu reduzieren. Immer wichtiger mit Blick auf Investitionen ist überdies der Schutz der europäischen Wirtschaft vor strategischen Übernahmen.

Der zweite Themenbereich betrifft die internationale Rolle des Euros und damit die finanzpolitische Souveränität. Gemeinsam mit den USA und Großbritannien hat die EU beispiellose Finanzsanktionen gegen Russland und dessen Zentralbank erlassen. Die größte Wirkung ging dabei jedoch von den USA aus, weil der US-Dollar Dreh- und Angelpunkt im globalen Finanzsystem ist. Langfristig kann Europa hier nur handlungsfähig bleiben, wenn nach dem Brexit ein dynamischer Finanzmarkt in der EU entsteht und der Euro als internatio­nale Leitwährung gestärkt wird.

Kritisch ist drittens die Abhängigkeit Europas bei Energieimporten und weiteren strategischen Rohstoffen. In den vergangenen Jahren hat sich gezeigt, wie an­fällig die EU sein kann, wenn Akteure wie die USA oder China mit Machtpolitik um essentielle Rohstoffe konkurrieren oder wenn sich die EU-Staaten beim Aufbau von Lieferketten zu sehr auf ein­zelne Länder stützen.

Angesichts der aktuellen Sicherheitslage in Europa und der weiterhin existentiellen Herausforderung durch den Klimawandel stellt sich besonders dringlich die Frage, wie Kohle, Öl und Gas aus Russland kurz- und mittel­fristig durch Diversifizierung und Umstellung auf erneuerbare Energien sub­stituiert werden können. Dabei gilt es neue Abhän­gigkeiten gegenüber anderen auto­ritären Regimen zu verhindern.

Neben den drei genannten Themen­feldern bleibt die technologische und digi­tale Eigenständigkeit eine wichtige Dimen­sion strategischer Souveränität. Zumindest kurzfristig droht sie infolge der Heraus­for­derung durch Russland etwas in den Hinter­grund zu treten. Das hängt damit zusammen, dass die tech­nologische und digitale Souveränität ­besonders im Verhält­nis zu China, aber teils auch zu den USA entwickelt und geschützt werden muss. Der Konflikt mit Russ­land hat jedoch vor Augen ge­führt, wie stark über lange Zeit entstandene Ab­hängigkeiten Europas Handlungsspielraum einschränken kön­nen. Das trifft noch weit mehr auch auf das Verhältnis zu China zu. Zu techno­logischer Souveränität gehört schließlich auch die Weltraumpolitik.

Institutionelle Handlungsfähigkeit

Fortschritte hin zu einer größeren strategischen Souveränität Europas hängen wesent­lich auch vom institutionellen Handlungsrahmen und von der institutionellen Hand­lungsfähigkeit ab. Problematisch blei­ben die komplexen institutionellen Struk­turen in der euro-transatlantischen Sicher­heit. Die Mit­glied­schaften von EU und Nato über­lappen sich nur teilweise. Daneben sind noch zahlreiche mini­laterale und Ad-hoc-Koalitionen entstanden. Der Brexit hat dieses Problem verstärkt.

Was die nichtmilitärischen Aspekte stra­tegischer Souveränität anbelangt, bietet nur die EU einen geeigneten institutionellen Handlungsrahmen. Nur sie nämlich ver­bin­det die Kompetenzen, den poli­tischen Rah­men und – wenngleich mit Verbesserungs­potential – die demokratische Legitimität, um weitreichende Ent­scheidungen zu fällen, etwa zu Sanktionen, Ener­giepolitik, Han­dels­politik, Weltraum­programmen und dem Euro als gemein­same Währung.

Mit der engeren Anbindung an den euro­päischen Binnenmarkt und an europäische Programme hat die EU zudem ein Angebot der Annäherung für Staaten, die noch kein EU-Mitglied sind. Das betrifft die Ukraine, die Repu­blik Moldau, Georgien und einige Länder des West­balkans. Will die EU mit dem Anspruch eines glo­bal souveränen Ak­teurs auftreten, muss sie gleichwohl in all diesen Bereichen überprüfen, wie die ver­schiedenen Stränge strategischer Sou­ve­räni­tät zusammengeführt und die Entscheidungsprozesse gestärkt werden können.

In absehbarer Zeit jedoch werden die EU und ihre Mitgliedstaaten weder einen nu­kle­­aren Schirm wie den der USA noch eine glaubwürdige konventionelle Beistands­ver­pflichtung nach Artikel 42 (7) des EU-Ver­trags bieten können. Wichtiger noch: Die Debatten über strategische Autonomie und Sou­veränität haben gezeigt, dass es verhäng­nisvoll ist, wenn die Mitgliedstaaten die EU gegen die Nato ausspielen und um­gekehrt. Das blockiert jegli­chen Fort­schritt und reißt tiefe Gräben zwischen den EU-Staaten auf. Stattdessen sollte noch stär­ker auf die Kom­plementarität und Kooperation der beiden Organisationen hingewirkt werden.

Mittelfristig sollte daher klar sein, dass die Nato der Rahmen für kollektive Vertei­digung ihrer Mitglieder bleibt. Jede militäri­sche Integration in der EU sollte daher so eng wie möglich mit der Allianz koordiniert und auch für den Nato-Einsatz ausgerichtet werden. Denn die EU kann einen Beitrag zur Verteidigungsfähigkeit leisten, indem sie auf ihre Stärken setzt: Koordinierung beim Aufwuchs von Verteidigungsausgaben der EU- bzw. Nato-Staaten, Stärkung der europäischen Rüstungsindustrie und der Aufbau eigener integrierter Fähigkeiten, die dann auch der Bündnisverteidigung zur Ver­fügung stehen.

Europäische Verteidigungsfähigkeit in der Nato bedeutet, dass das Bündnis in fünf oder zehn Jahren auch dann noch glaubhaft seine Mitglieder schützen können muss, falls die USA ihr politisches Engagement und ihre militärischen Beiträge in Europa wieder reduzieren.

Neubewertung der Beziehungen zu Partnern und Drittländern

Strategische Souveränität setzt die Zusammenarbeit sowohl mit engen Partnern vor­aus, welche die Werte und Ziele der EU weitgehend teilen, als auch mit Drittstaaten, bei denen das nicht der Fall ist. Der Um­gang mit Russland sowie den wirtschaft­lichen und politischen Folgen des Ukraine-Krieges wird auf absehbare Zeit ein Schwer­punkt, vielleicht sogar der Gra­vitations­punkt für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik sein. Deshalb werden sich auch deren Interaktionsmuster und Ab­hän­gigkeiten verändern.

Die Europäer in EU und Nato werden daher neu bewerten müssen, wofür sie Partner brauchen werden, welchen Stel­len­wert Wertepartnerschaften nach der »Zei­ten­wende« haben und in welchem Maße ein »neuer Realismus« gefordert sein wird.

Partner für die euroatlantische Sicherheit

Eine zentrale Herausforderung für die stra­tegische Souveränität wird sein, das Ver­einigte Königreich einzubinden. Diese Her­ausforderung wird größer, je mehr sich die EU als Handlungsrahmen für strategische Souveränität profiliert. Denn das Ver­einigte Königreich ist nicht einfach aus der EU ausgetreten, sondern die Regie­rung Johnson hat einen harten Brexit mit größt­möglicher Abgrenzung zur EU ausgehandelt. Hierzu gehörte auch, eine strukturierte Zusammenarbeit mit der EU in der Außen- und Sicherheitspolitik bewusst auszuklammern.

Auf der anderen Seite hat der Krieg in der Ukraine erwiesen, dass das Vereinigte Königreich essentiell für die europäische Sicherheit bleibt. Nach Russ­land hat es den größten Verteidigungshaushalt in Europa und ist neben Frankreich der europäische Staat mit den größten einsatzfähigen Streitkräften sowie mit einer eigenständigen atomaren Abschreckungsfähigkeit.

Noch vor Kriegsbeginn hat das Vereinigte Königreich die Ukraine mit Waffenlieferun­gen und Ausbildung unter­stützt. Zudem spielt es, besonders wegen London als Finanz­zentrum, eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung westlicher Sanktionen. Für viele mittel- und osteuropäische Partner ist das Vereinigte Königreich zudem ein ver­trauenswürdigerer Sicherheitspartner als Frankreich oder Deutschland (siehe SWP-Aktuell 16/2022).

Die Einbindung Londons wäre ein wei­terer wichtiger Grund dafür, die EU-Nato-Partnerschaft zu intensivieren. Darüber hinaus sollten London und Brüssel die Ent­stehung einer konfrontativen europäischen Sicherheitsordnung zum Anlass nehmen, das Brexit-Zerwürfnis hinter sich zu lassen und eine neue Sicherheitspartnerschaft zu grün­den. Hierfür könnte sich das Vereinigte König­reich an EU-Programmen wie der mili­tärischen Mobilität beteiligen. Aber auch die EU sollte London als bevorzugtem Partner mehr Flexibilität in der Mitwirkung einräumen.

Die USA waren für die EU selbst wäh­rend der Präsidentschaft Trumps stets der wich­tigste außereuropäische Partner. Wegen der sicherheits- und verteidigungspolitischen Folgen des Krieges sowie der abseh­baren Versicherheitlichung zahlreicher nichtmili­tärischer Themenfelder dürfte Europas Ab­hängigkeit von den USA eher wachsen. Das gilt beispielsweise auch für den Energie­bereich.

Die unmittelbaren Reak­tionen der USA auf den Ukraine-Krieg erscheinen aus euro­päischer Sicht ermutigend: Die Biden-Administration unter­mauerte ihr Bekenntnis zur Sicherheit der Nato, indem sie von Anfang Februar bis Ende März 2022 mehr als 11.000 zusätz­liche Soldaten des Heeres und der Luftwaffe nach Europa entsandte. Über­parteiliche Mehrheiten in beiden Häu­sern des US-Kon­gresses unter­stützten zu­dem die humanitäre und militä­rische Hilfe (letztere in Form von Waffen­lieferungen) für die Ukraine.

Dennoch sollte nicht aus dem Blick gera­ten, dass die langfristigen innenpolitischen, wirtschaftlichen und gesellschaft­lichen Probleme, die 2016 maßgeblich zum Wahl­sieg Trumps beitrugen, keineswegs ver­schwunden sind. Dazu zählen besonders die parteipolitische Polarisierung, die wach­sende soziale Ungleichheit und die struktu­rellen Umbrüche in der Wirtschaft zulasten des Industriesektors (siehe SWP-Studie 6/ 2021). Ein Leitmotiv in US-Präsident Bidens »State of the Union«-Rede Anfang März 2022 lautete »Buy American«: So sollten sich die USA von internationalen Lieferketten un­abhängig machen und mög­lichst viele Pro­duktkomponenten in den USA herstellen.

Anders als in Europa wird zudem die Her­ausforderung durch China und das Engage­ment in Asien Hauptschwerpunkt der US-amerikanischen Außen- und Sicher­heits­politik bleiben. Daher sind auch die USA stark daran inter­essiert, dass die Euro­päer lang­fristig ihre Sicherheit so weit wie mög­lich selbst garan­tieren können.

Europa kann sich nicht darauf verlassen, dass 2024 nicht erneut Trump selbst oder ein »Trumpist« zum US-Präsidenten gewählt wird. Zudem könnten die USA gezwungen sein, sich im Falle einer offenen Konfrontation mit China auch kurzfristig stärker auf Asien zu konzentrieren.

Drittstaaten: Realpolitische Kompromisse nötig

Der Ukraine-Krieg wird sich auch auf die Beziehungen der EU zu China auswirken. Früher hatte sich die Union gegen das ame­rikanische Anliegen ge­stemmt, China in erster Linie als Systemrivalen zu betrachten und sich in der sino-ameri­ka­nischen Rivali­tät klar an die Seite der USA zu stellen. Stattdessen pflegte die EU eine differenzierte Sichtweise und wertete China je nach konkretem Thema als Kooperationspartner, Konkurrenten oder Gegenspieler.

Nach Beginn des Ukraine-Krieges stellt sich für Europa die Frage, ob es sich wirt­schaftlich nicht nur von Russland, sondern auch von China wird unabhängiger machen müssen und kön­nen. Dies trifft vor allem dann zu, wenn die Partnerschaft zwischen Russ­land und China wie erwartet enger wird.

Zugleich steigt die Bedeutung Chinas auch für Europa, weil die Sanktionen des Westens dauerhaft wohl nicht wirksam sein werden, wenn China sich dazu entschließt, sie systematisch zu umgehen. China könnte sowohl als Nachfrager von russischem Gas, Öl und anderen Rohstoffen einspringen als auch als Lieferant von Aus­rüstungs- und Konsumgütern.

Als wichtiger Exporteur von Öl, Gas, Weizen und Waffen übt Russland weiterhin poli­tischen und wirtschaftlichen Ein­fluss in vielen Ländern aus. Zwar zeichnet sich nicht ab, dass der russische Angriffskrieg die internationale Staatenwelt polari­sieren oder gar spalten könnte. Eine große Mehr­heit der VN-Mitgliedstaaten (141 an der Zahl) verurteilte in der Vollversammlung Anfang März 2022 denn auch den russischen Angriff auf die Ukraine.

Aber das Bild einer geeinten internationalen Gemeinschaft bekam Risse. Immerhin 35 Staaten enthielten sich bei der Ab­stimmung, darunter Indien und Süd­afrika als internatio­nale Schwergewichte und Wertepartner der EU.

Schließlich muss sich Europa in seinem Streben nach weniger Abhängigkeit von russischer Energie zumindest kurz- und mittelfristig in größere Abhängigkeiten von anderen Akteuren begeben, die nur bedingt europäische Werte teilen. So gelten neben den USA und Norwegen auch Algerien, Aser­baidschan, Katar und Ägypten als potentielle Lieferanten, die russisches Gas ersetzen könnten. An­gesichts steigender Ölpreise hofiert der Westen auch wieder verstärkt Länder wie Venezuela und Saudi-Arabien. Die Diversifizierung beim Zugang zu strategischen Rohstoffen erfordert von Europa somit zunächst realpolitische Kom­promisse, bei denen mitunter die Bedeutung von Menschenrechten und Demokratie hintangestellt wird.

Schlussfolgerungen

Das Streben nach europäischer strategischer Souveränität ist durch den neuen großen militärischen Konflikt in Europa dringlicher geworden. Die Transformation hin zu einer konfrontativen euro­päischen Sicher­heitsordnung erfordert jedoch ein Umdenken, mit welchen Zielen, Rahmen, Prioritä­ten und Partnern stra­tegische Souveränität umgesetzt werden kann und soll. Daraus sollte die deutsche und europäische Politik vier Schlussfolgerungen ziehen:

Erstens sollte die EU ihren Kurs ändern. Nicht mehr autonome Handlungsfähigkeit, sondern strategische Souveränität sollte an erster Stelle stehen. Dabei sollte die EU den Schwerpunkt auf die Sicherheit ihrer Mit­glieder legen, mit allen Konsequen­zen. Die EU ist der politische Handlungs­rahmen, in dem strategische Souveränität in ihrer ge­samten Breite wirken könnte, etwa in Berei­chen wie Handels­politik und Sanktionen, Energiesicherheit und Minderung der Ab­hängigkeit von strategischen Ressourcen, Digitales und Technologie sowie Wirtschaft und Finanzpolitik. Hier kann und sollte die EU ihre Stärken aus­spielen.

Zweitens offenbart der russische Krieg gegen die Ukraine einmal mehr die Achilles­ferse der EU als Handlungsrahmen für strategische Souveränität, nämlich die weiterhin schwache gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Es ist absehbar, dass die EU- und Nato-Staaten ihre indi­viduellen und kollektiven Verteidi­gungsanstrengungen deutlich ver­größern werden. Dennoch dürften Jahre vergehen, bis diese Mittel – darunter das im Februar 2022 von Bundeskanzler Olaf Scholz angekündig­te Sondervermögen Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro – in spür­bar gesteigerte militärische Fähigkeiten über­setzt werden.

Zudem bleibt abzuwarten, inwiefern die neue sicherheitspolitische Lage den politi­schen Willen und die Ko­hä­renz in der EU erhöht, um ge­mein­sam Fähigkeiten auf­zu­bauen und im Krisen- oder Kriegsfall auch einzusetzen. So bleiben auf mittlere Sicht die USA und mit ihr die Nato unverzicht­bare verteidigungspolitische Akteure für die Verteidigung der territorialen Integrität auch der EU.

Strategische Souveränität in ihrer Gesamt­heit kann also nur euro-atlantisch gedacht werden – mit dem Ziel, europäische Handlungs- und Verteidigungsfähigkeit im Bündnisrahmen sukzessive zu stär­ken. Angesichts der Unsicherheit über die langfristige Ausrichtung US-amerika­nischer Sicherheitspolitik müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten dieses Ziel noch konsequenter verfolgen. Der im März 2022 verabschie­dete Strategische Kompass der EU hat dafür leider nicht das erforderliche Ambitions­niveau. Ein wesentliches Defizit des Kom­passes liegt darin, dass die EU-Mitglied­staa­ten im sicherheits- und verteidigungs­poli­ti­schen Bereich dort weiterhin stark auf das zivile und militärische Krisen­management abheben.

Drittens ist zu betonen, dass strategische Souveränität nicht über kleinere Reformen auf europäischer Ebene erlangt werden kann. Es reicht nicht, nur auf den – nach wie vor blockierten – Wechsel hin zu Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik zu drängen oder an den Stellschrauben der PESCO-Projekte zu drehen. Vielmehr braucht die europäische Politik ihre eigene Zeitenwende, in der sämt­liche Anstrengungen unternommen werden, um EU-Politiken auf gemeinsame strategische Souveränität auszurichten. Dies kann zu einem einenden Narrativ für die europäische Integration werden, mit dem sich auch die Interessen der EU-Mit­gliedstaaten zusammenbringen lassen.

Die Bürgerempfehlungen bei der Konferenz zur Zukunft Europas deuten zudem darauf hin, dass auch viele Bürgerinnen und Bürger der EU Sicherheit und Selbst­behauptung als tragende Säule für die Union im 21. Jahrhundert sehen. Hierfür müsste die strategische Souveränität aber gemeinsam mit der wirtschaftlichen Trans­forma­tion im Sinne eines Green Deal und der Digitalisierung als drittes Leitmotiv der europäischen Poli­tik gedacht und umgesetzt werden.

Viertens schließlich erfordert das Streben nach strategischer Souveränität auch mehr Führungsverantwortung von Deutschland. Die Initiativen für strategische Souveränität gingen bis dato vor allem von Paris aus, während Berlin eher eine abwartende Rolle gespielt hat.

Als größte europäische Wirtschaftsmacht kommt Deutschland eine besondere Füh­rungsverantwortung zu – sowohl mit Blick auf die nichtmilitärischen Komponenten strategischer Souveränität innerhalb der EU als auch auf die Koordinierung und Inte­gration bei der Stärkung militärischer Hand­lungsfähigkeit in EU und Nato. Stra­tegische Souveränität, etwa durch Reduzierung von Abhängigkeiten bei Energieimporten und strategischen Rohstoffen, wird sich nur durch interne Lastenteilung und mehr Haus­haltsflexibilität herstellen lassen.

Aus Sicht vieler mittel- und osteuro­pä­ischer Partner markiert der russische Angriffskrieg aber auch das Scheitern der deutschen Außenpolitik eines »Wandels durch Handel«, und die Glaubwürdigkeit Deutschlands hat im Vorfeld des Krieges stark gelitten. Soll strategische Souveränität erfolgreich vorangetrieben werden, müssen Berlin und Paris die Inter­essen aller Mit­gliedstaaten im Blick haben und diese Inter­essen europäisch gemeinsam schützen.

Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa. Dr. Marco Overhaus ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Amerika.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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