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Wie Lateinamerika wirtschaftlich wieder den Vorwärtsgang findet

Just Transition als Zielmarke

SWP-Aktuell 2023/A 24, 29.03.2023, 7 Seiten

doi:10.18449/2023A24

Forschungsgebiete

Das traditionelle Bild Lateinamerikas als Krisenregion scheint sich auch nach der Corona-Krise fortzuschreiben, nunmehr im Zeichen der Folgen des Ukraine-Krieges und der Sanktionsmaßnahmen des Westens. Inflationsdruck, Budgetdefizite und die Gefahr eines Abrutschens breiter Kreise der Bevölkerung in die Armut beflügeln Nega­tivszenarien. Es gibt erste Hinweise, dass bereits einige Länder in Zahlungsschwierigkeiten geraten. Auf die Tagesordnung gesetzt werden Forderungen lateinamerikanischer Regierungen nach Schul­denerlass oder Neuverhandlung der Auslandsschulden im Zuge einer Neuausrichtung des Entwicklungsmodells an Nachhaltig­keitskriterien und Klimaschutz. Dies erfordert einen tiefgreifenden Strukturwandel, weg von der traditionellen Rohstoffprägung der Ökonomien und hin zu einem umwelt- bzw. sozialverträglichen Entwicklungspfad. Auf diesem Weg müssen auch Deutschland und Europa einen Schwenk vollziehen, indem sie einen Beitrag zum Erhalt der natürlichen Ressourcen leisten und nicht nur zu deren Ausbeutung.

Die komplexe wirtschaftliche Situation in Lateinamerika und der Karibik (LAK) mit Inflation, steigender Schuldenlast und der Tendenz zur Abwertung nationaler Wäh­rungen weckt schlimme Erinnerungen in der Region. Ein erneutes Abgleiten in makro­ökonomische Instabilität soll unbe­dingt vermieden werden. Mit der Anhebung der Zinsen und hohen Devisenreserven wird versucht, die Gefahren abzuwehren, die der Währungsstabilität infolge der Unsicherheit auf den inter­nationalen Märkten drohen. Damit sollen sta­bile makroökonomische Rahmenbedingungen hergestellt werden. Zudem sind die Regierungen bestrebt, die Folgen der Wirtschaftskrise abzu­mildern, und zwar mit Subventionen für Trans­port sowie Energie- und Lebensmittelpreise, Umsatz­steuersenkungen für sensible Pro­duktpreise sowie selektive Preiskontrollen. Erneut setzen viele Länder auf Exportwachstum, um die Krise zu über­winden. Allerdings bestehen dafür zurzeit nur geringe Chancen. Die globalen Nachfrage­indikatoren weisen nicht in diese Richtung. Selbst wenn es einen Nachfrageboom gäbe, könnte auf­grund eingeschränkter Möglichkeiten, schnell die Produktion auszuweiten, nicht der erhoffte Effekt eintreten.

Erneut tritt China als alternativer Partner auf: Die meisten Länder Lateinamerikas und der Karibik können es sich nicht leisten, den chi­nesischen Markt und die von dort kom­menden Investitionen zu verlieren. Auch hat China in der Vergangenheit lang­fristige Kreditfazilitäten angeboten. Diese ersparten es den LAK-Ländern, bei inter­nationalen Finanzorganisationen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank um Überbrückungskredite zu bitten, die mit hohen Auflagen und Kon­di­tionalitäten verbunden sind. Damit gelang es, den Markt­eintritt chinesischer Unternehmen abzusichern. Traten Zahlungsschwierigkeiten auf, etwa bei den Schuldnerländern Vene­zuela, Argentinien und Ecua­dor, gewährte Peking Zahlungs­auf­schübe und beraumte Gespräche über Restrukturierungsoptionen an. Diese Vorgehensweise wurde in der Region als Langzeitstrategie (»patient capital«) wahrgenommen, obwohl sich die chine­sischen Kreditgeber für einen potentiellen Zahlungsausfall vertraglich an die Spitze der Rückzahlungslinie setzen ließen.

Doch der Rückgriff auf andere Finanzquellen ist nicht das einzige Instrument im Krisenmanagement. Die Regierungen ver­suchen, regionale Ansteckungseffekte zu vermeiden. Diese können entstehen, wenn alle Länder gleichzeitig ihre Ausgaben redu­zieren und damit die Nachfrage auch in anderen Ländern zusammenbricht. Zudem bemühen sich die Regierungen, die Anfällig­keit für Finanzkrisen zu minimieren, in­dem sie ihre Einnahmen aus Exporterlösen steigern. Der einfache Weg zu­rück in die Rohstoff­ökonomie ist damit vorgezeich­net. Aber zunehmend regt sich Widerstand in der Region gegen dieses etablierte Muster der Krisenbewältigung.

Eine weitere verlorene Dekade für Lateinamerika?

Aufgrund der Covid-19-Pandemie sowie verschärfter wirtschaftlicher und sozialer Herausforderungen wurde der Subkontinent in seiner Entwicklung um viele Jahre zurückgeworfen. Die ohnehin schwachen demo­kratischen Institutionen haben weiter Scha­den genommen, das Misstrauen in die Institutionen ist gestiegen, und der poli­ti­sche und gesellschaftliche Konsens ero­diert. Nicht ohne Grund ist von einer »neuen ver­lorenen Dekade« in Lateinamerika ge­spro­chen worden. Damit wird auf den langen Schatten der lateinamerikanischen Schul­den­krise in den 1980er Jahren Bezug ge­nommen. Während dieser Zeit erreichten die Länder der Region einen Punkt, an dem ihre Auslandsverschuldung weit höher war als die Wirtschaftskraft ihrer Volks­wirtschaften. Weil sie über ihre Verhält­nisse gelebt hatten, erlitten sie einen massiven Wohl­fahrtsverlust und einen Schub in der Armutsrate, was ihre Ent­wicklung erheb­lich beeinträchtigte.

Eine ähnliche Konstellation wird heute wieder befürchtet, angesichts der deutlich abgeflachten Wachstumskurve, des Infla­tionsdrucks und der Schwierig­keiten eini­ger Länder wie Argentinien, Suriname und Ecuador, ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Das jähr­liche Wirtschafts­wachstum in der Region von 2014 bis 2023 lag im Durchschnitt bei 0,9 Prozent, war also nur halb so hoch wie in der »verlorenen Dekade«. Zwar hat der Schuldendienst in der Gesamtregion noch keine bedroh­lichen Dimensionen angenom­men, aber für kleine Staaten wie Belize, Jamaika, Barba­dos, Guyana, Suriname und Panama sind bestehende oder aufkommende finan­zielle Klemmen nicht zu übersehen. Inter­national unterstützte »Buy-Backs« können ein hilf­reiches Gegenmittel sein. Dabei werden öffentliche Gelder eingesetzt, um Schulden von Krisen­ländern weit unter dem Nominal­wert zurückzukaufen und anschließend zu erlassen.

Kurz- bis mittel­fristig sind die Perspektiven wirtschaftlicher Entwicklung in Latein­amerika nur verhalten. Die konjunkturelle Erholung nach der Corona-Pandemie hat an Schwung verloren. Nun sind die Wachs­tumsraten der lateinamerikanischen Volks­wirtschaften in den Krisenjahren 2014 bis 2019 mit durchschnittlich 0,3 Pro­zent pro Jahr auf ein niedriges Niveau zurück­gefallen. In der Folge gingen die Pro-Kopf-Ein­kommen zurück. Pro­jektionen der Welt­bank zufolge wird sich das Wirtschaftswachstum in der Region 2023 verlangsamen, auf 1,3 Prozent gegen­über 3,6 Prozent im Jahr zuvor, und erst in den folgenden Jah­ren wieder an Dynamik gewinnen. Wird aber die Binnen­nachfrage durch inflationsbedingte Straf­fung der Geld­politik gedämpft, kann dies die wirtschaftliche Entwicklung stärker als erwartet drosseln. Sinken die Exportpreise für Rohstoffe deutlich infolge nach­lassender globaler Nachfrage und ver­schlech­terter Konditionen auf den internationalen Finanz­märkten, wächst die Gefahr, dass Währun­gen abgewertet werden und exter­nes Kapi­tal abfließt. Das kann sich nega­tiv auf die Zahlungsbilanzen auswirken. So musste Bolivien bereits auf seine Sonderziehungsrechte beim IWF zurückgreifen, um zusätz­liche Liquidität zur Stüt­zung des festen Wechselkurses der Landes­währung Boliviano gegen­über dem US-Dollar zu erhalten.

Grafik

Quelle: International Monetary Fund, Global Debt Database, Central Government Debt, Dezember 2022, https://www.imf.org/external/datamapper/CG_DEBT_GDP@GDD/SWE

Nicht nur in diesem Andenland ist daher ein höheres Maß an Armut und Ungleichheit zu befürch­ten. Es wird erwartet, dass beides in der Region bis Ende 2023 weiter wachsen wird, vor allem aufgrund der Kon­junkturabschwächung und der steigen­den Inflation gerade bei den Lebensmittelpreisen, welche die Ärmsten in der Bevölkerung besonders hart trifft. Der In­flationsdruck treibt die sozialen Sicherungs­systeme in eine finanzi­elle Klemme, sodass Auseinandersetzungen über die Abfederung der Krisenfolgen vor­hersehbar sind. Bei zuneh­menden fiskali­schen Budgetbeschrän­kun­gen werden Energie- und Nahrungs­mittel­subventionen sowie direkte Transferleistungen für die schwächsten Sektoren der lateinamerikanischen Gesellschaften er­forderlich, um ein Abrutschen in noch größere Armut zu ver­hindern. Bei anhalten­der politischer Insta­bi­lität in Ländern wie Argentinien und Bra­silien sowie stagnierendem oder sinkendem Lebensstandard großer Bevölkerungsgruppen drohen erneut soziale Unruhen mit Streiks und Produk­tionseinschränkungen. Zudem bildet die Wahrnehmung vieler Menschen, nur be­grenzte oder keine wirt­schaftlichen Chan­cen zu haben, den Nähr­boden für fortdauernde Gewalt und ende­mische Korruption.

Deshalb muss über geeignete Instru­mente nachgedacht werden, um diese Miss­stände zu beheben. Es geht darum, Ent­schuldungs­mechanismen in Gang zu setzen und zugleich die negativen Auswirkungen bestehender Finanzierungs­lücken mit Hilfe risikoabgesicherter Kreditfazilitäten (bei­spielsweise gegen­über Wechselkursschwan­kungen) aufzufangen. Sieht man von Staa­ten wie Kuba und Venezuela ab, die sich ohnedies außerhalb der internationalen Kapitalmärkte bewegen, sind Anstrengungen gefragt, die für die besonderen Bedürf­nisse von Ländern mittleren Ein­kommens maßgeschneidert sind. Zu diesen gehört die Mehrzahl der lateinamerikanischen Flä­chen­staaten. Dabei kommt es darauf an, den wiederkehrenden Konjunktur­krisen und der Tendenz, dass alle Maßnahmen prozyk­lisch wirken und dadurch den Ab­schwung verstärken, entgegenzuwirken. Den sich abzeichnenden Liquiditäts­problemen gilt es durch Schuldenstundungen und -streckung zuvor­zukommen. Die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC/CEPAL) befürch­tet, dass erhöhte sozialpolitische Aufwendungen in wich­ti­gen Ländern fiskalische Spiel­räume weiter verengen könnten. Daher warnt die Kom­mission nachdrücklich vor vorschnellen fiskalischen Anpassungen, da sie dazu füh­ren könnten, die schwachen Wachstums­impulse abzuwürgen und die Entwicklungs­anstrengungen entgleisen zu lassen. Gerade das Anlegen großer Devisen­reserven, um sich gegen externe Schocks zu wappnen und die natio­nale Währungsstabilität zu sichern, ist letztlich nur auf Kos­ten des Wirtschaftswachstums ins Werk zu setzen, wie das mexikanische Beispiel zeigt.

Gemeinsames Handeln gegen Inflationsdruck in der Region

Die linksorientierten Regierungen der Region sehen große soziale Sprengkraft in der steigenden oder auf hohem Niveau ver­har­renden Inflation. Deshalb sind sie be­strebt, gemeinsame Maßnahmen zu ergrei­fen, um die Geldentwertung zu bremsen und Ernährungssicherheit her­zustellen. So bemühen sich die Präsidenten Argentiniens, Brasiliens, Mexikos, Kolumbiens und Kubas darum, eine »Antiinflationsfront in Latein­amerika« zu begründen, um die Preise essentieller Güter in ihren Ländern zu kontrollieren, sei es durch Senkung von Importzöllen oder durch Vorzugsbelieferung der jeweiligen Partnerländer unter­ein­ander. Grundlage dafür soll ein Abkom­men sein, dem sich auch Bolivien, Chile und Honduras anschlie­ßen könnten. Dabei soll der zwischenstaatliche Warenaustausch so organisiert werden, dass über­höhte Preise unter den Ländern durch Zu­lieferungen ausgeglichen werden. Das würde die aktive Beteiligung von Pro­du­zentenorganisationen, Zwischenhändlern sowie Konsumenten und Konsumentinnen verlangen. Allerdings ist ein solches Verfah­ren wohl nur dann rea­listisch, wenn es sich nicht um Produkte handelt, bei denen diese Länder untereinander in Konkurrenz stehen. Mit diesem Muster solidarischen Handelns und gegen­seitiger Hilfe soll es gelingen, die Inflation zu drücken und für die Verbraucherinnen und Verbraucher, vor allem jene in den Armutssektoren, eine Entlastung zu schaf­fen. Gerade für Argen­tinien mit einer In­flationsrate von 95,2 Pro­zent, Kolumbien mit 13,1 Prozent und Kuba mit 39,7 Prozent (jeweils 2022) ist eine solche Option ein zusätzlicher Rettungsanker an­gesichts stei­gender Lebens­mittelpreise.

Die mexikanische Regierung hatte bereits im Oktober 2022 mit 15 Produzenten und Supermarktketten eine nationale Regelung für 24 Pro­dukte des Warenkorbs an Grund­nahrungs­mitteln vereinbart. Dafür setzte sie büro­kratische Hindernisse für Importe, Verteilung und Weiterverarbeitung der vorgesehenen Er­zeugnisse aus. Gleichzeitig ver­hängte sie für bestimmte strategische Güter ein Export­verbot, um die nationale Produktion zu sichern. Mit Hilfe dieser Verein­barung sollen die Kosten der 24 Pro­dukte für die Verbraucherinnen und Ver­braucher um 8 Prozent gesenkt werden. Ergänzend soll die Versorgung mit Dünge­mitteln zu Vorzugspreisen oder sogar kostenlos erfolgen.

Fraglich ist jedoch, wie wirksam die im nationalen wie im regionalen Rahmen angedachten Wege zur Inflationskontrolle sein werden. Zum einen sind die Preisdyna­miken in hohem Maße durch internationale Auswirkungen des Krieges in der Ukraine bedingt. Zum anderen drücken die Preis­kontrollen auf die öffentlichen Haushalte, wenn etwa in Mexiko die Besteuerung von Treibstoffen ausgesetzt wird oder bestimmte Betriebe kostenlos mit Düngemitteln beliefert wer­den sollen. Es steht daher zu befürchten, dass der Plan einer gemein­samen Front gegen die Inflation den Regie­rungen vor allem dazu dient, Handlungskompetenz zu demonstrieren, ohne dass die erwünschten Effekte dauerhaft ein­treten.

Energietransition, Klimawandel und Verschuldung zusammen­denken

Nach Jahren weitreichender Krisenerfahrung sehen sich die Länder der Region vor enorme Herausforderungen gestellt. Kurz­fristig geht es darum, die Ökonomien dieser Länder wetter­fest zu machen, etwa durch Bekämpfung der Inflationstendenzen und Wiederherstellung fiskalischer Handlungsfähigkeit angesichts leerer öffentlicher Kassen. Mittelfristig kommt es darauf an, eine neue Energie- und Produktionsmatrix und die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze im formellen Sektor voranzutreiben. Allerdings gerät die zeitliche Abfolge bei der Verwirklichung dieser Zielgrößen immer wieder ins Wanken, da die Verwerfungen des Ukraine-Krieges und die west­liche Sanktionspolitik zusätzliche Belastungen nach sich gezogen haben. Dabei handelt es sich um Preissteigerungen bei strategischen Gütern (Dün­gemittel) und Lebensmitteln, Produk­tionsausfälle als Folge unterbrochener Lieferketten und Versorgungsprobleme.

Trotz dieser kom­plexen Gemengelage wird in Lateinamerika gegenwärtig eine Debat­te geführt, wie diese umfassende wirt­schaftliche und wirtschafts­politische Agenda mit dem Natur- und Energiekapital der Region so verknüpft werden kann, dass da­raus innovative industriepolitische Impulse gewonnen werden. Es geht darum, dieses Kapital so in Wert zu setzen, dass damit das Produktivitätswachstum gefördert und die Entwicklung neuer Wirtschaftszweige im Bereich »grüner Wirtschaft« unterstützt werden. Ein solcher Übergang erfordert in einer roh­stoff­reichen Region besonders hohe poli­tische Entscheidungskraft, denn dafür müssen umfangreiche Finanzmittel mobilisiert werden, die bislang vor allem durch Roh­stoffausfuhren erwirtschaftet wurden.

Die Neigung, in der traditionellen Rolle eines Rohstoffexporteurs aus der Krise herauszukommen, ist dabei in der latein­amerikanischen Debatte ebenso präsent wie das Inter­esse, die Weichen neu zu stellen, das heißt umzusteuern hin zu umfassenderer Wert­schöpfung durch Weiterverarbeitung im eigenen Land oder in der Region. Daher sind schwierige und kon­flikt­reiche Prozesse der gesellschaftlichen Verständigung über diese Zielstellungen zu erwarten, erste Auftakte dazu hat es bereits in Chile und Kolumbien gegeben. Da viele Länder weiterhin von Einnahmen aus dem Öl­geschäft leben – Argentinien, Brasilien, Ecuador, Mexiko, Peru, Guyana, Trinidad und Tobago, Vene­zuela –, besteht eine große Pfad­abhängigkeit, deren Überwindung beträchtliche Anstrengungen erfor­dern wird. Den Ab­schied von fossilen Brennstoffen und die Dekarbonisierung der nationalen Energiematrix können die Regierungen ohne breite nationale Unterstützung und das entsprechende Investitionskapital kaum bewerkstelligen.

Als Grund­lage für diesen Wandel verfügt die Region über eine strate­gische Position, denn sie kann wichtige Mineralien für die Energiewende nutzen und liefern. Im Jahr 2017 besaßen Latein­amerika und die Kari­bik 61 Prozent der Lithium-, 39 Prozent der Kupfer- und 32 Prozent der Nickel- und Silberreserven der Welt. Nur die internatio­nale Nachfrage nach diesen Rohstoffen zu bedie­nen ist heute aus Sicht der Regierungen in Chile, Kolumbien und anderer Länder nicht mehr sinnvoll. Sie wollen das Produktionsprofil grundlegend umgestalten, was nichts weni­ger bedeutet als eine wirtschaftliche und politische Umkehr: Es gilt, neue industriepolitische Impulse zu setzen, um das alte Muster rohstoffexportierender Ökonomien hinter sich zu lassen. Vor dem Hintergrund einer restriktiven internationalen Geld­politik und reduzierter Kapitalflüsse in die Region sind daher auch steuerpolitische Maßnahmen gefragt, um den notwendigen Kapitalbedarf zu decken. Zusätzlich sind die nationalen und multi­lateralen Entwicklungsbanken und der Privatsektor gefordert, Investitionskapital zu günstigen Bedingungen zu mobilisieren.

Zielgröße: Just Transition

Der normative Horizont eines sozialverträglich gestalteten, gerechten Übergangs (Just Transition) zu einer nachhaltigen Wirt­schaft ist in der entwicklungspolitischen Debatte fest verankert. Dabei soll es vor allem gelingen, in den jeweiligen Gesellschaften auch soziale Resilienz zu sichern und Verwerfungen zu vermeiden, die der Wechsel des Entwicklungspfades hin zur Nachhaltigkeit mit sich bringen könnte.

Doch das Zusammendenken von Energietransition, Klimawandel und Schulden­politik weist auch auf vielfältige Zielkonflikte hin: So gibt es kein Patentrezept für eine Just Transition, die konkrete Ausformung muss den lokalen Bedingungen angepasst werden. Es sind also spezifische Ansätze für den jeweiligen Kontext von­nöten, die oftmals nicht im Einklang mit den allgemeinen Förderprinzipien etwa der Entwicklungszusammenarbeit stehen. Nebenfolgen können sich zu erheblichen Hindernissen auswachsen: In Mexiko und Brasilien sind Windparks auf den Widerstand ländlicher Gemeinden gestoßen, die Konsultationen vor dem Bau der Anlagen einklagen. In Ecuador hat die Nachfrage nach Balsaholz, einem der wich­tigsten Mate­rialien für den Bau von Windturbinen­flügeln, den Druck auf die Wälder im Ama­zonasgebiet erhöht. In Argentinien folgen Tausende von Menschen auf der Suche nach Arbeitsplätzen dem Ruf der »fossilen Energie« in die Ölindustrie nach Vaca Muerta. Diese geologische Formation er­streckt sich über mehrere Provinzen und enthält zudem einige der weltweit größten Schiefergas­vorkommen.

Auf solche Verwerfungen muss die Ent­wicklungszusammenarbeit Deutschlands und Europas ein­gehen. Die Schwächen der lateinamerikanischen Produktionsketten und ihre laxeren Umwelt- und Arbeitsstandards haben jedoch den Abschluss von Handelsabkommen wie etwa des Mercosur mit der EU erschwert. Immer vernehm­licher ertönen Stimmen aus der Region, die Bedenken hin­sichtlich eines möglichen »grünen« Protek­tio­nismus und übergriffiger extraterritorialer Regulierung äußern, welche die EU mit ihren Grundsätzen und Standards durch­setzen könnte. Diese Argu­mentation – die auch mit dem Begriff »regulatorischer Imperialismus« operiert – sollte nicht unterschätzt werden, da sie an den Arg­wohn in den lateinamerikanischen Ländern gegenüber ihren europäischen Partnern anschließt, diese verteidigten mit Umweltargumenten marktprotektionistische Inter­essen. Je wei­ter sich die globale Energiewende durchsetzt, desto mehr neue geo­politische Zu­ord­nungen und Rivalitäten entstehen, die es zu mana­gen gilt.

Um mög­lichst viele davon zu vermeiden oder zu entschärfen, sollten die Staaten der EU sich gemeinsam mit den Ländern der Region daran machen, geteilte Standards zu er­arbeiten. Damit würden sie einen Beitrag dazu leisten, dass etwa Elemente des Escazú-Abkommens (siehe SWP-Aktuell 1/2021) auch Bestandteil der europäischen Regel­werke werden und damit ein Prozess der gegenseitigen Wei­terentwicklung von Nor­men und Verfahren einsetzt. Auf diesem Wege kann es gelin­gen, aus der Gewinner-Verlierer-Logik herauszukommen, die angesichts der massiven internationalen Umschichtungen im Zuge der Energie­transi­tion Platz greifen dürfte. Deutschland und Europa sollten die Formulierung einer gezielten Industriepolitik in den LAK-Staaten unterstützen und die existierenden Finan­zierungslücken für die Just Transition schließen helfen. Das bedeu­tet zum einen, Schul­den umzuwandeln und sich dabei an der Zielmarke Just Transition zu orien­tieren, wohl wissend, dass auch die Länder mittleren Einkommens in Lateinamerika nicht robust genug sind, um den Krisensymptomen trotzen zu können. Die meisten LAK-Länder erfüllen nicht die Voraus­setzun­gen für die bestehenden Schulden­umwandlungs­fazilitäten. Zudem sind diese Fazilitäten meist an vorherige Verein­barun­gen mit dem Pariser Club gebun­den, so dass deren Wirkungen zur Entlastung der Haus­halte sehr begrenzt sind.

Schulden-für-Klima-Swaps wären als Weiterentwicklung der am Beispiel Belize 2021 praktizierten Debt-for-Nature-Swaps ein geeignetes Instrument, um den Weg hin zu einer koh­lenstoffärmeren Wirtschaft zu erleichtern und gleichzeitig Haushaltsspielraum zu schaffen, damit die LAK-Länder in soziale Resilienz und nachhaltige Entwicklung investieren können. Diese Neuorientierung wird indes nur tragfähig sein, wenn sehr viel mehr Aufwand betrie­ben wird, die vorhandenen Rohstoffe in der Region zu schützen, statt mit dem Interesse an deren Ausbeutung eine neue Partnerschaft zwischen Europa und Latein­amerika zu begründen.

Literaturhinweis

Günther Maihold / Tania Muscio Blanco / Claudia Zilla, Von gemeinsamen Werten zu komplementären Interessen. Für eine Neu­konzeption der Beziehungen Deutschlands und der EU mit Lateinamerika und der Karibik, Berlin: SWP, Dezember 2022 (SWP-Aktuell 78/2022)

Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP. Dieses Papier entstand im Rahmen des Projekts »Die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf Lateinamerika/Karibik und die Beziehungen zu Deutschland und Europa«.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023

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DOI: 10.18449/2023A24