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Von gemeinsamen Werten zu komplementären Interessen

Für eine Neukonzeption der Beziehungen Deutschlands und der EU mit Lateinamerika und der Karibik

SWP-Aktuell 2022/A 78, 15.12.2022, 8 Seiten

doi:10.18449/2022A78

Forschungsgebiete

Die Covid-19-Pandemie und Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine haben die Staa­ten Lateinamerikas und der Karibik ebenso wie die Europäische Union – auf unterschiedliche Weise – vor große Herausforderungen gestellt. Zugleich offenbarten diese internationalen Krisen, wie wenig belastbar die Narrative sind, von denen die Bezie­hungen zwischen beiden Regionen normativ geprägt sein sollen: gemeinsame Werte, strategische Partnerschaft, Dialog auf Augenhöhe. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine von Wunschdenken bestimmte Rhetorik, die der Wirklichkeit im wechsel­seitigen Verhältnis immer weniger gerecht wird. Die gemeinsame Grundlage bröckelt, und es fehlt an Projekten, die der Zusammenarbeit Sinn und Zweck ver­leihen. Solche Vorhaben hätten vor allem dann eine Chance auf Erfolg, wenn ab­weichende Sicht­weisen thematisiert und gegenseitige Erwartungen offen verhandelt würden. Anstatt von Gemeinsamkeiten auszugehen, sollte eine zukunftsträchtige Kooperation sich – im Rahmen variabler Formate – verstärkt auf Komplementari­täten stützen.

Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union (EU) und den Staaten Lateinamerikas und der Karibik (LAK) haben vor allem im letzten Jahrzehnt an Intensität und Relevanz verloren. Wechselseitige Er­wartungen werden immer häufiger ent­täuscht, nicht zuletzt aufgrund divergierender Positionen zu geopolitischen Fragen. Zwar ist die LAK-Region überaus heterogen, und ihre Staaten pflegen auf verschiedenen Politikfeldern unterschiedlich starke Bezie­hungen zu Deutschland und der EU. Doch haben sie zuletzt im Kontext von Corona und Ukraine-Krieg ähnliche Erfahrungen mit der EU gemacht, die sich in ein regional weitverbreitetes Bild von Europa einfügen.

Die Covid-19-Pandemie wirkte aus Perspektive vieler LAK-Staaten wie ein Brenn­glas für das europäisch-lateinamerikanische Verhältnis. In der Impfpolitik von EU und Deutschland offenbarte sich demnach die bröckelnde Substanz hinter der europäischen Rhetorik, man strebe mit der Region eine »Beziehung auf Augenhöhe« an und betrachte die dortigen Staaten als »natür­liche Partner«, deren Werte man teile und mit denen zusammen man den Multilateralismus stärken wolle. Vielmehr sahen zahl­reiche LAK-Staaten einen Egoismus Europas manifestiert, der weit abfalle von seinen üblichen Solidaritätsbekundungen.

Im globalen Vergleich bilden Lateinamerika und die Karibik die von der Pandemie am stärksten betroffene Region. Mit nur 8 Prozent der Weltbevölkerung entfallen auf sie etwa 12,5 Prozent aller Covid-Infek­tionen und rund 26 Prozent der Todesfälle (Stand 11.12.2022). Da es hier in der An­fangsphase der Pandemie an eigener Produktion von Corona-Impfstoffen fehlte, war die Region – wo traditionell eine hohe Impfbereitschaft herrscht und ein bedeutendes »Testfeld« für die Pharmaindustrie liegt – auf deren Import angewiesen. Kos­tengünstige Vakzine aus Russland und China konnten von vielen LAK-Staaten besonders schnell und in großem Umfang eingeführt und verabreicht werden. Euro­päische Regierungen – darunter auch die deutsche – kritisierten indes Moskaus und Pekings »Impfdiplomatie« gegenüber dem Globalen Süden aufs Schärfste. Mit restrik­tiven Regulierungen sorgten sie zugleich dafür, dass europäische Impfstoffe in der EU blieben und allein sie – neben jenen aus britischer und US-amerikanischer Her­stellung – für Einreisen in die Union anerkannt wurden. Deutschland und die EU spendeten zwar Gelder und einige Impf­stoffe an den COVAX-Mechanismus der Vereinten Nationen (VN), doch blieb dieser auf ein bescheidenes Hilfsprogramm redu­ziert, weil er an Unterfinanzierung und seiner schwachen Verhandlungsposition gegenüber den Impfstoffherstellern litt. Sofern LAK-Staaten Vakzine bei COVAX erwarben, wurde nur mit erheblicher Ver­zögerung geliefert.

Unerhört blieben Appelle aus der Region, die EU möge bei der Anerkennung von Impfstoffen der Weltgesundheitsorganisa­tion (WHO) folgen und so Menschen mit »falschen« Impfungen die Einreise ermög­lichen. Die EU und besonders vehement Deutschland lehnten zudem Initiativen aus dem Globalen Süden ab, Impfstoffe als glo­bale öffentliche Güter zu behandeln und entsprechende Patentrechte für eine befris­tete Zeit zu lockern.

Vergebens suchte man in LAK-Ländern während der Pandemie nach dem solidarischen, multilateral-kooperativen Faktor im euro­päischen Umgang mit der Region. Viel­mehr bekam diese in einer Situation großer Not die Machtasymmetrie im wechselseitigen Verhältnis zu spüren. Corona ließ aus die­sem Blickwinkel die Widersprüche und Inkonsistenzen deutlicher hervortreten, die die LAK-Politik der EU und Deutschlands dominieren und sie immer weniger verläss­lich und glaubwürdig erscheinen lassen. Das Vertrauen zwischen der Region und Europa nimmt stetig ab, und die jeweiligen Positionen entfernen sich zunehmend von­einander.

Diesem Prozess liegt auch eine Diskrepanz in der Wahrnehmung und Interpretation von Weltproblemen zugrunde. Wäh­rend es an Foren und Instrumenten fehlt, um Differenzen, Erwartungen und Frustra­tionen im wechselseitigen Verhältnis zu bearbeiten, machen sich biregionale Span­nungen bei geopolitischen Fragen besonders bemerkbar. Neue Konzepte und Instru­mente in den Bereichen Umweltgovernance, Rohstoffe und Entwicklungsfinan­zierung könnten dagegen wichtige Impuls­geber sein, um eine komplementäre Koope­ration zu fördern.

Geopolitik: Der Imperativ der Zeitenwende

Nach den Divergenzen in der Corona-Krise sieht sich die Region nun mit Erwartungen seitens Deutschlands und Europas konfrontiert, sie möge angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine das Narrativ der »Zeitenwende« und die daraus abgeleitete Politik mittragen. Die von EU und Nato gewählte Gegenstrategie der Stärke, die auf Isolierung, Sanktionen und Aufrüstung setzt, soll demnach von den Regierungen der LAK-Staaten unterstützt werden. Aber­mals wird der Multilateralismus beschworen, damit sich lateinamerikanische Stim­men für die europäische Position auf dem VN-Parkett gewinnen lassen. Das Kooperationsvokabular wird nunmehr herangezogen, um für »Rohstoffpartnerschaften« zu werben, mit denen zugunsten eigener Ver­sorgungssicherheit der Ausfall Russlands und Belarus’ sowie potentiell weiterer Ener­gielieferanten kompensiert werden soll.

Aus Perspektive der LAK-Staaten wird dabei nur die europäische Sichtweise trans­portiert und ein auf Europa beschränktes Kriegsgeschehen zum Wendepunkt der internationalen Politik erklärt. Die atom­waffenfreie und rüstungsschwache Region hat viel zu verlieren in einer Welt, in der Verteidigungsausgaben steigen und Waf­fen, nicht zuletzt nukleare, immer wichti­ger werden. Als Teil einer Peripherie, die in den internationalen Sicherheitshierarchien auf den unteren Rängen angesiedelt ist, pflegen maßgebliche LAK-Staaten einen protektiven und inklusiven Multilateralismus. Das VN-System spiegelt nach ihrer Wahrnehmung zwar bestehende Machtasymmetrien wider, ist aber gleichwohl in der Lage, die Dominanz starker Staaten abzumildern und aufzufangen. Im multi­lateralen Rahmen setzen sich die meisten LAK-Staaten traditionell dafür ein, Sanktio­nen zu verurteilen und den Ausschluss von Mitgliedern aus VN-Institutionen abzuwenden. Exklusion wird als eine Strategie der Mächtigen bewertet, die sich in künftigen Fällen auch gegen das eigene Land richten könnte.

Die Einschränkungen der »Zeitenwende« kommen für die Region zu dem Druck hinzu, den bereits der Großmachtkonflikt zwischen USA und China hervorgebracht hat. Für viele LAK-Staaten bedeutete der Ausbau ihrer (vor allem ökonomischen) Beziehungen zu Staaten wie China, Russ­land und dem Iran eine Chance auf außenpolitische wie außenwirtschaftliche Diversifizierung jenseits der traditionellen Partner USA und EU. Einerseits impliziert das Autonomiestreben der LAK-Staaten, sich einer vorgegebenen Blockbildung zu entziehen. Konzepte wie »relational auto­nomy« und »active non-alignment« bringen die Ambition zum Ausdruck, die eigene Unabhängigkeit zu wahren. Andererseits hat das Bemühen um diversifizierte Außen­beziehungen vor allem bei südamerikanischen Staaten dazu geführt, sich in Handel, Infrastruktur und Technologie stark an China zu binden, was einherging mit einer zunächst ertragreichen Reprimarisierung, also einem wachsenden Anteil von Roh­stoffen in der eigenen Exportpalette. Dies möchte man nicht aufs Spiel setzen.

Der Großmachtkonflikt, die Wahl Joe Bidens zum US-Präsidenten und der Krieg in der Ukraine haben zudem die Annäherung zwischen der EU und Washington gefördert. Aus lateinamerikanischer Per­spektive hat dies zur Folge, dass Europa als »dritte Option« neben den USA und China an Strahlkraft verliert. Gerne sähe man in einer multipolaren Welt die EU als »Alter­native« und gewichtige Akteurin mit eige­nem Profil.

In diesem Kontext gewinnt das Assoziierungsabkommen zwischen dem Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) und der EU an Relevanz. Auf der Suche nach vertieften Wirtschaftsbeziehungen und einer Ebene für den politischen Dialog setzt die EU nachdrücklich darauf, Freihandels- und Assoziierungsabkommen mit LAK-Staaten in unterschiedlichen Formationen zu schließen bzw. zu modernisieren. Doch erweisen sich solche Vereinbarungen heute als ungeeignet, überbewertet oder nicht realisierbar – angesichts übertriebener Er­wartungen, vorhandener Spannungen und nicht bearbeiteter Diskrepanzen zwi­schen und innerhalb der Regionen.

Neue Konzepte für nachhaltige Ressourcennutzung

Beispielhaft dafür steht der Ratifizierungsprozess zum EU-Mercosur-Assoziierungs­abkommen. Hier belasten unter anderem Fragen zum Schutz des Amazonas-Regen­waldes die biregionalen Beziehungen. Neben agrarprotektionistischen Interessen einiger EU-Staaten ist es der Wunsch, die ausgreifende Entwaldung des Amazonas zu beenden, der die Vorbehalte gegen eine Ratifizierung des Abkommens bestimmt. Durch die Politik des brasilianischen Präsi­denten Jair Bolsonaro wurde die Funktion, die dem Amazonas bei der Bewältigung des Klimawandels zukommt, massiv unter­laufen. Bolsonaro hatte nach seinem Amts­antritt 2019 den Regenwald für den Holz­einschlag und die Ausbeutung mineralischer Rohstoffe »freigegeben«. Zwar kün­digte sein gewählter Nachfolger Luiz Inácio Lula da Silva an, sich für den Schutz des Regenwaldes einzusetzen. So soll der Ama­zonienfonds, an dem Norwegen und Deutschland beteiligt sind, wieder aktiviert werden. Doch auch mit Lula werden Inter­nationalisierungsinitiativen, die Brasiliens Souveränität einschränken, keinen Erfolg haben. Zudem dürfte unter seiner Regierung der Regenwald weiterhin dafür ge­nutzt werden, die nationale Entwicklung zu fördern und das Wirtschaftswachstum zu sichern.

Im Fall des Amazonas-Regenwaldes sind vielmehr Konzepte und Mechanismen der internationalen Zusammenarbeit nötig, die unter zwei Aspekten – Partnerstruktur und Themenschwerpunkt – über bisherige Ansätze hinausgehen. Zum einen sollten sie nicht nur Brasilien zum Partner haben. 60 Prozent des Regenwaldes befinden sich auf brasilianischem Territorium, während sich die übrigen 40 Prozent auf Peru, Boli­vien, Kolumbien, Venezuela, Ecuador, Guyana, Französisch-Guyana und Surinam verteilen. Außerdem gibt es eine Reihe regionaler Organisationen wie OCTA (Organización del Tratado de Cooperación Amazónica), mit denen sich eine verstärkte Zusammenarbeit empfiehlt. Zum anderen sollte beim Umweltschutz in Staaten mit hohen Armutsraten über eine rein be­wah­rende Zielsetzung hinausgegangen werden – zugunsten eines Ansatzes, der die Ent­wicklungsnotwendigkeiten dieser Länder mitberücksichtigt. Erarbeitet werden soll­ten Projekte, die es ermöglichen, Konzepte einer nachhaltigen Nutzung von Natur­ressourcen gemeinsam mit den Gesellschaften der entsprechenden LAK-Länder zu verwirklichen.

Die Suche nach Partnern für die Rohstoffversorgung

Mit dem Krieg in der Ukraine und den europäischen Sanktionen gegenüber Russ­land hat sich die Suche nach alternativen Quellen zur Rohstoffversorgung in Europa verschärft. Für Deutschland war Russland vor allem als einer der weltweit größten Exporteure metallischer Rohstoffe, darunter Vanadium, Palladium, Aluminium, Nickel und Titan, von Bedeutung. Nicht zuletzt ist die deutsche Stahl- und Automobilindustrie auf den Import von Nickel, Aluminium und Titan aus Russland angewiesen. So wurden bislang etwa 44 Prozent an raffiniertem Nickel und 17 Prozent an Aluminium von dort eingeführt. Bei Titan, das zur Produktion von grünem Wasserstoff eingesetzt wird, kommen je nach Verarbeitungsgrad 33 bis 41 Prozent der deutschen Importe aus Russland.

Für Deutschland sind wichtige Länder Lateinamerikas und der Karibik vor allem deshalb als Partner in den Blick geraten, weil sie Zugang zu essentiellen Rohstoffen für die Automobilherstellung und die Ener­giewende bieten. Auf der Interessenliste stehen Eisen und Stahl, Aluminium, Kup­fer, Blei, Zink und das für Elektro-Autos zunehmend wichtige Lithium. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Rohstoffe aus der LAK-Region oftmals zur Weiterverarbeitung erst nach China geliefert werden, be­vor sie dann nach Deutschland gelangen.

Unter dem Aspekt der Substitution bis­lang von Russland gelieferter Rohstoffe ist vor allem Brasilien attraktiv, das bereits eine dominante Rolle als Exporteur von Eisenerz spielt und daneben nun auch die Ausbeutung von Nickel intensivieren will. So soll der Bau der Araguaia Nickel Mine im Bundesstaat Pará ein erster Schritt sein, um die eigene Exportstruktur bei mineralischen Rohstoffen zu diversifizieren. Aller­dings sind die gegenwärtigen Ausfuhrmengen etwa bei Aluminium und Nickel aus Brasilien bzw. Jamaika und Kuba für die Bundesrepublik nicht geeignet, bisherige Importe aus Russland unmittelbar zu erset­zen; sie bieten lediglich die Chance einer weiteren Diversifizierung der deutschen Importstrukturen.

Was Chile angeht, entfielen im vergangenen Jahr 44 Prozent der Gesamtexporte nach Deutschland auf den Bereich Bergbau, wobei Kupfer und Lithium am stärksten vertreten waren. Entsprechende Erweiterungsmöglichkeiten in der Rohstoffversorgung bestehen auch bei Argentinien, Peru und Bolivien.

Wasserstoff – eine Chance zu neuer Verständigung

Auf dem Feld der Energieversorgung geht es im deutschen Verhältnis zu Lateinamerika akut um Kohle, die krisenbedingt aus Kolumbien und Brasilien importiert wird, darüber hinaus aber insbesondere um grünen Wasserstoff und seine Derivate wie Methanol oder Ammoniak. Bislang wird Wasserstoff (H2) nicht auf Märkten gehan­delt, und die Transportinfrastruktur ist weltweit nur gering entwickelt. Daher be­steht bisher keine Machtasymmetrie zwi­schen Produzenten und Nutzern hinsichtlich Preisen und Verfügbarkeiten. Aus europäischer Sicht ist bislang eine Präferenz für jene Produktionsstandorte erkenn­bar, die dank einer Pipeline-Anbindung kostengünstig liefern können, was etwa für Nordafrika gilt. Nach Modellrechnungen beträgt die jährliche Transportkapazität eines Schiffes auf Distanzen von bis zu 5000 Kilometer weniger als ein Drittel der Pipelinekapazität, was lateinamerikanische Exporthubs in eine schwierige Marktposi­tion bringen würde.

Dessen ungeachtet erhoffen sich viele LAK-Länder große Chancen auf zukünftigen Wasserstoffmärkten. Sie verfügen über günstige Bedingungen, um Energie aus erneuerbaren Quellen zu erzeugen, und wollen sehr schnell grünen Wasserstoff bereitstellen. Gegenwärtig ist jedoch eher von Potentialen als von bestehenden Liefer­fähigkeiten zu sprechen, da viele Länder noch mit Planungsaufgaben befasst sind oder ihre Strategien und Entwicklungspläne für H2 überhaupt erst formulieren. Para­guay, Uruguay und Costa Rica, aber auch Brasilien, Ecuador und Kolumbien rangie­ren weltweit unter den Staaten mit dem höchsten Anteil erneuerbarer Energien in ihrer Produktionsmatrix. Mögliche Über­schüsse könnten zur Erzeugung von Was­serstoff eingesetzt werden, wofür auch private Investoren deutliches Interesse sig­na­lisiert haben. Zudem ergeben sich Optio­nen für die Dekarbonisierung von bestehender Wasserstoffproduktion in Trinidad und Tobago, Mexiko, Brasilien, Chile und Argen­tinien. Eine weitere Nut­zung von H2 als Energieträger in Form von Methanol oder Ammoniak könnte daraus entwickelt wer­den.

Doch bestehen vor allem zwei entscheidende Hindernisse. Um sich am Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft beteiligen zu können, benötigt ein Land erstens eine ausgebaute Infrastruktur an Häfen, Trans­portschiffen, internen Pipeline-Systemen und geeigneten Lagerungsfazilitäten. Mit­unter kann dabei auf vorhandene Anlagen zur Herstellung von grauem Wasserstoff aus Erdgas zurückgegriffen werden, die aber deutlich zu erweitern wären. Zweitens ist es im Falle der LAK-Länder erforderlich, Schiffe so auszurüsten, dass sie für den Kühltransport von grünem Wasserstoff und Derivaten über große Entfernungen geeig­net sind; dies macht einen hohen Kapitaleinsatz notwendig.

Die Region steht damit zwar als mög­licher Partner im Bereich der Wasserstoff­ökonomie zur Verfügung, besitzt aber ge­wisse Kosten- und Standortnachteile gegen­über Konkurrenten, die näher am europä­ischen Markt liegen. Zunächst könnte ange­boten werden, Mischprodukte aus grauem und grünem Wasserstoff inne­rhalb der etablierten Lieferketten für Erdgas (etwa aus Trinidad und Tobago) zu liefern. Doch wird Lateinamerika nur dann in der Lage sein, die Produktion grünen Wasserstoffs als Exportgut zu vertiefen, wenn die einzelnen Länder von einer gesicherten Perspektive deutscher und europäischer Nachfrage aus­gehen können.

Die Bundesregierung hat mit Chile als dem regionalen Vorreiter bei der H2-Pro­duktion im Rahmen einer bilateralen Ener­giepartnerschaft eine »Task Force Wasserstoff« eingerichtet und damit ein erstes Zei­chen gesetzt. Das Land verfügt bereits über eine Hafeninfrastruktur, darunter Terminals für Flüssigerdgas (LNG), die allerdings noch erheblich auszubauen sind. Länder wie Brasilien, Kolumbien oder Panama könnten als H2-Hub fungieren, um Trans­portwege zu verkürzen und zusätzliche Vorteile zu generieren. Brasiliens Pilot­projekte zu grünem Wasserstoff sind auf den Export nach Europa ausgerichtet, ebenso entsprechende Anstrengungen in Argentinien, wie private Einstiegsinvesti­tionen erkennen lassen. Allerdings ist dar­auf zu achten, dass die H2-Erzeugung aus regenerierbaren Energien nicht mit der lokalen Stromversorgung in Konkurrenz gerät und eine »Just Energy Transition« möglich ist.

Zunehmend wird erkennbar, dass Deutschland und Europa angesichts globa­len Wettbewerbs nicht nur traditionelle Rohstoffpartnerschaften eingehen können. Die Kooperation muss vielmehr auf eine breitere Grundlage gestellt werden. Erfor­derlich dafür sind technologische Zusammenarbeit, Investitionsmöglichkeiten für privates Kapital und das Angebot erweiterter Wertschöpfungschancen in den Produ­zentenländern oder im regionalen Rahmen. Hier sind Anstrengungen gefragt, das wirt­schafts-, entwicklungs- und außenpolitische Handeln so zusammenzuführen, dass Deutschland ein neuer Auftritt in der Re­gion gelingen kann. Dabei gilt es ein Ange­bot zu formulieren, das sich deutlich von den Mustern anderer Konkurrenten abhebt.

Überwindung traditioneller Entwicklungsfinanzierung

Viele lateinamerikanische Länder zählen inzwischen zu den »Middle Income Coun­tries« (MIC), solchen mit mittlerem Einkom­men also, oder wurden kürzlich aus dem Status des Entwicklungslandes »graduiert« – jeweils mit der Folge, dass die Entwicklungsfinanzierung (ODA) für sie ausläuft. Dennoch sind diese Länder nach wie vor mit tiefgreifenden sozioökonomischen Problemen konfrontiert. Weiter verschärft hat sich ihre Lage durch die Corona-Pande­mie, den Krieg in der Ukraine und das damit verbundene Sanktionsregime. Hinzu kommt eine stetig steigende Inflationsrate, die bisherige Entwicklungsgewinne zu­nichtemacht. Weil die öffentlichen Kassen leer sind, lassen sich Ausgleichsmaßnah­men weit­hin nicht finanzieren.

Auf Seiten der Gebernationen wiederum haben sich die Prioritäten in den öffent­lichen Haushalten durch rüstungs- und militärpolitische Entscheidungen verschoben, was die verfügbaren Mittel für Ent­wicklungszusammenarbeit einschränkt. Dennoch ist eine Partnerschaft zwischen EU- und LAK-Ländern ohne finanzielle Kooperation nicht denkbar. Es bedarf daher neuer Finanzierungsinstrumente jenseits der klassischen ODA-Kriterien. Dies gilt be­sonders mit Blick auf die produktive Rolle der graduierten Staaten, denn sie fun­gieren oftmals als (Know-how-)Multi­plika­toren für Entwicklungsländer, etwa im Bereich der Agrarinnovation. Angesichts der hohen Inflation und des Krieges in der Ukraine muss ein Übergang zu alternativen Finan­zierungsquellen erfolgen, der den neuen Umständen auch jenseits begrenzter Etat­spielräume Rechnung trägt.

Zu berücksichtigen ist, dass die Bedeutung Chinas in der Entwicklungsfinanzierung wächst. Dies unterstreicht in geostrategischer und wirtschaftlicher Hinsicht den Bedarf für Deutschland und Europa, auf diesem Feld als verlässliche Kooperationspartner und sichtbare Geber aufzutreten. Abseits der ODA-Kriterien wäre auf inno­vative Instrumente zurückzugreifen, die private und öffentliche Gelder kombinieren und sich proaktiv an den Bedürfnissen der Partnerländer ausrichten lassen. Solche Werkzeuge sollten im EU-Rahmen wie auch in der deutschen bilateralen Zusammen­arbeit entwickelt werden.

Eine Übergangsstrategie für Länder mittleren Einkommens

Vor dem Hintergrund der abnehmenden Relevanz der EU in Lateinamerika gilt es, in Europa einen Kompromiss zwischen dem Wunsch nach einer gesamtregionalen Perspektive und der Realität wachsender Beziehungen auf bilateraler Ebene zu fin­den. Zu diesem Zweck sollte sich das deut­sche Engagement bei der Programmierung und Prioritätensetzung von Finanzierungsinstrumenten stärker darauf konzentrieren, bilaterale und regionale Zusammenarbeit besser zu integrieren. Damit würde es möglich, weiterhin mit jenen Ländern zu kooperieren, die aufgrund ihres mittleren Einkommens aus der finanziellen Unterstützung der EU und ihrer Mitgliedstaaten herausfallen.

Um dieses Ziel umzusetzen, eignet sich besonders das von der EU im Jahr 2021 geschaffene Finanzierungsinstrument »Neighbourhood, Development and Inter­national Cooperation Instrument (NDICI) – Global Europe«. In seinem Rahmen sind einige LAK-Projekte bisher nur in Planung. Das NDICI vereint zuvor fragmentierte EU-Finanzierungsprogramme wie etwa das Europäische Nachbarschaftsinstrument (ENI) oder den Europäischen Entwicklungsfonds (EEF). Mit einem Volumen von 79,5 Milliarden Euro ermöglicht das neue Instrument für den Zeitraum bis 2027 eine Zusammenarbeit mit allen Ländern, un­abhängig von deren Durchschnittseinkommen. Europäische Regierungen sehen darin eine Chance für MICs, neue Formen der finanziellen Kooperation zu erreichen, da­mit sich internationale Anliegen wie der Klimaschutz oder die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) voranbringen lassen.

Basierend auf einem »Policy First«-Ansatz umfassen entsprechende Partnerschaften bilaterale, länderübergreifende und regio­nale Finanzunterstützung, die mit dem politischen Dialog gegenüber der Region und dem betreffenden Land verknüpft ist. Da Programmierung und Umsetzung des NDICI flexibel sind, lässt sich die Zusammenarbeit zwischen Empfängerländern und EU innovativer gestalten. Dies ermög­licht der EU, nicht nur eine Rolle als Ent­wicklungsakteurin einzunehmen, sondern auch als strategische Partnerin für MICs zu agieren. Im bilateralen oder biregionalen Feld kann das NDICI dabei helfen, gemeinsame Initiativen auf Basis eines politischen Dialogs und gemeinsamer Interessen, wie integrativen Wachstums, zu verfolgen.

Für diesen Ansatz spricht, dass er die politische Zusammenarbeit mit strategischen Verbündeten erleichtern oder zur Finanzierung spezifischer Maßnahmen, für die es nur begrenzte Ressourcen gibt, bei­tragen kann. Im Rahmen der thematischen Säule und der Krisenreaktionssäule des NDICI lassen sich individuelle Prioritäten berücksichtigen und die Kohärenz von Maßnahmen gewährleisten. Verantwort­liche der EU kritisieren jedoch, dass die damit verbundenen Mittelzuweisungen zu gering seien, um die drängendsten sozialen Probleme wie Armut und Ungleichheit be­kämpfen zu können. Denn die LAK-Staaten leiden trotz gestiegenen Pro-Kopf-Ein­kommens nach wie vor unter massiven Governance-Defiziten, die eine zusätzliche Belastung in den aktuellen Krisenzeiten bedeuten und die soziale Lage weiter ver­schärfen.

Will Deutschland in der heterogen agierenden Region weiterhin präsent sein, muss es jetzt im Bereich finanzieller Zusammenarbeit eine Übergangsstrategie für jene Länder vorlegen, die in den MIC-Status graduieren. Solche Länder erhalten Zugang zu nichtkonzessionären Krediten, die höher verzinst sind. Eine attraktive Alternative dazu bildet für verschiedene Kooperationsbereiche der Weg zu Fonds, die aus Anleihen finanziert werden.

Sektorale Entwicklungsfonds aus Anleihen

Aus Anleihen gespeiste Fonds können den Ausfall von Darlehensströmen und Zu­schüssen abmildern, den lateinamerikanische Staaten durch ihre Graduierung erfah­ren. In eine solche Richtung weist der in das NDICI integrierte »Europäische Fonds für nachhaltige Entwicklung Plus« (EFSD+). Über ihn werden aus dem öffentlichen wie privaten Sektor zusätzliche Investitionen für nachhaltige Entwicklung mobilisiert. Profitieren sollen davon Bereiche wie klima­freundliche Infrastruktur, erneuer­bare Energien und digitale Transformation. Ebenso aktiviert die Kreditanstalt für Wie­deraufbau (KfW) seit November 2021 priva­tes Kapital für klimafreundliche Investitionen in Lateinamerika. Der neue Fonds, der durch Green Bonds, also fest­verzinsliche Anleihen finanziert wird, hat ein niedriges Investitionsrisiko und ist somit für den Privatsektor attraktiv. Dabei setzt man auf eine Hebelwirkung – jeder Euro aus öffent­licher Hand soll weitere Mittel vom Kapital­markt oder von anderen Förderbanken nach sich ziehen. Solche Fonds, die privat­wirtschaftliche Interessen und Investitionen in der LAK-Region för­dern, sollten für wei­tere Themenbereiche ausgebaut werden, in denen große Finan­zierungslücken bestehen. Neben Klima gilt dies in Deutschlands bilateraler Finanz­kooperation primär für die Sektoren der guten Regierungsführung und der Primärversorgung der Bevölkerung (Wasser, Ab­wasser), für Verkehr und Mobi­lität sowie digitale Wirtschaft.

Ein erneuertes Engagement mit der Region bedeutet auch, über alternative Finanzierungen in der Entwicklungshilfe nachzudenken. Haushaltsbeschränkungen dürfen kein Grund sein, MICs zu vernachlässigen, die für Deutschland und die EU bereits jetzt eine strategische Rolle spielen. Auf europäischer wie nationalstaatlicher Ebene bedarf es daher einer Neukonzeption der Außenfinanzarchitektur. Diese sollte sich an den Bedürfnissen der Empfängerländer und dortigen Finanzierungslücken orientieren.

Das Format der Klima- und Entwicklungs­partnerschaften, die vom Bundesministe­rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) zwischenstaatlich vereinbart werden, um die Pariser Klima­ziele zu fördern, ist dabei nicht umfassend genug gedacht. Gleiches gilt für den Ama­zonienfonds. Regionale Initiativen nach Vorbild des »Pacto de Leticia por la Amazo­nía«, den sieben LAK-Staaten zur gemeinsamen Bekämpfung von Abholzung und Waldbränden unterzeichnet haben, könn­ten dagegen gezielter und ganzheitlicher unterstützt werden. Ziel sollte hier aber nicht sein, lediglich alte Pläne zu reaktivieren. Vielmehr gilt es neue Initiativen der multilateralen Zusammenarbeit durch eine Umstrukturierung der Entwicklungsfinanzierung anzuregen, die auch möglichen Regierungswechseln standhalten kann.

Grundlagen eines Neustarts für eine gealterte Beziehung

Ohne eine grundlegende Neuorientierung wird sich das deutsche und europäische Verhältnis zu Lateinamerika nicht revita­lisieren lassen. Dafür ist es notwendig, alte Sprachschablonen zu überwinden und sich an konkreten Interessensüberschneidungen zu orientieren. Die LAK-Staaten sind gefor­dert, entsprechende Anknüpfungspunkte für die europäische und deutsche Seite weiter auszubauen. Dass Europa wiederum seine historischen Bindungen nicht mehr wie früher bespielen und damit einen quasi selbstverständlichen »Goodwill« in der Re­gion erwarten kann, haben die vergangenen Monate gezeigt. Jenseits abgestandener symbolischer Gesten und einer Beschwörung der Vergangenheit gilt es jetzt in zukunftsorientierter Weise aufeinander zu­zugehen. Dabei sollte man keine Gemeinsamkeiten unterstellen, wo diese geschwun­den sind, sondern Interessenkoinzidenzen entwickeln, die als tragfähige Fundamente eines gemeinsamen Handelns dienen könn­ten. Ansatzpunkte dafür sind vorhanden – sie auszugestalten ist Aufgabe der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik.

Dieses Papier entstand im Rahmen des Projekts »Die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf Lateinamerika/Karibik und die Beziehungen zu Deutschland und Europa«. Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP. Tania Muscio Blanco ist Forschungsassistentin im genannten Projekt. Dr. Claudia Zilla ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Amerika.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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