Nach Luftangriffen auf kurdische Ziele in Syrien und Irak droht der türkische Präsident mit einer Bodenoffensive. Erdoğan versucht damit, sich innen- und geopolitisch besser aufzustellen, meint Aslı Aksoy.
Seit der Nacht auf den 20. November greift das türkische Militär kurdische Milizen in Nordsyrien und im Nordirak an – als »Vergeltung« für einen Terroranschlag in Istanbul eine Woche zuvor. Für die Tat macht die türkische Regierung die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien verantwortlich, die sie als syrischen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei (PKK) sieht. Beide, PKK und YPG, haben jegliche Verantwortung für den Anschlag zurückgewiesen. Sie werfen dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan vor, einen Vorwand für die lange geplante Offensive zu schaffen. Die Türkei hat seit 2016 vier Militäroperationen in Syrien durchgeführt und Teile des Grenzgebietes unter ihre Kontrolle gebracht. Mit einer fünften Bodenoffensive drohte die Türkei bereits im Mai dieses Jahres. Allerdings bekam sie kein grünes Licht von Russland und den USA. Die USA unterstützen die Kurden im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) in der Region. Nun will die Türkei aber offenbar mit einer Bodenoffensive die Kontrolle entlang der Grenze mit Syrien ausweiten.
Die Hintergründe der Luftangriffe und möglichen Bodenoffensive sind vielfältig. Erstens will die Türkei ein autonomes Kurdengebiet unter der Führung der kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) um jeden Preis verhindern. Ankara fordert die Kontrolle über eine 30 Kilometer tiefe »Sicherheitszone« entlang der syrischen Grenze, um die Kurdenmiliz von dort fernzuhalten. Zweitens will die türkische Führung syrische Flüchtlinge in diese Pufferzone umsiedeln, weil die feindselige Stimmung gegen diese im eigenen Land wächst. Drittens rechnet Ankara damit, dass sie mit der Kontrolle über Teile Nordsyriens ein Druckmittel in der Hand hat, um anderen Akteuren in Syrien wie Russland, Iran oder dem syrischen Regime Zugeständnisse abzuringen.
Kurz nach Beginn der Luftangriffe sandte Präsident Erdoğan Zeichen der Versöhnung an den syrischen Machthaber Baschar al-Assad. Ein Treffen sei möglich, hieß es. Dahinter steckt innenpolitisches Kalkül. Mit der Versöhnung kann Erdoğan zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: die Rückführung der Flüchtlinge und Verhinderung der PKK-Aktivitäten in Syrien. Im Sommer 2023 stehen die nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an. Angesichts schlechter Zustimmungswerte der Regierung und einer schwächelnden Wirtschaft ist der Kampf gegen kurdische Gruppen ein geeignetes Mittel, um die niedrigen Zustimmungswerte zu erhöhen.
Im Mittelpunkt der Spannungen zwischen Ankara und Washington steht die Unterstützung der USA für die SDF. Bei früheren Konflikten hatten sich die USA bemüht, Eskalationen zwischen der Türkei und SDF zu verhindern. Diesmal fielen die Reaktionen jedoch bemerkenswert zurückhaltend aus. Die Drohungen der Türkei waren »viel lauter« als die verurteilenden Erklärungen »unserer Verbündeten«, kritisierte SDF-Kommandeur Mazlum Kobane die fehlende Unterstützung Ende November.
Durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist die strategische und geopolitische Bedeutung der Türkei gewachsen. Mehrmals brachte sich Erdoğan als der Staatschef eines Nato-Mitglieds mit guten Verbindungen nach Kiew und Moskau und somit potenziellen Friedensstifter und Vermittler ins Spiel. Zusammen mit den Vereinten Nationen trug die Türkei zur Verlängerung des Getreideabkommens bei. Daneben vermittelte sie bei einem Gefangenenaustausch. Der Ukraine liefert Ankara Kampfdrohnen, hält aber gleichzeitig auch die Sanktionen gegen Russland nicht ein. Die USA rechnen der Türkei ihre Vermittlerrolle im Ukraine-Krieg hoch an. Im November kamen die Direktoren des amerikanischen (CIA) und des russischen Auslandsgeheimdienstes (SWR) in Ankara zusammen, um unter anderem über den Vertrag zur Begrenzung von Atomwaffen (New Start) zu sprechen.
Ein weiterer Grund für die Zurückhaltung der USA ist die potenzielle Nato-Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands. Beide Länder hatten nach dem russischen Angriff auf die Ukraine einen entsprechenden Antrag gestellt, bis jetzt haben alle Mitgliedsländer außer der Türkei und Ungarn zugestimmt. Die Türkei blockiert die Beitritte, solange die beiden Länder nicht auf ihre Forderungen eingehen. Ankara wirft vor allem Schweden mit Blick auf Mitglieder der PKK vor, ein Zufluchtsort für »Terroristen« zu sein. Am Rande des Nato-Gipfels im Juni hatte die Türkei mit Schweden und Finnland ein Memorandum zur Intensivierung der Zusammenarbeit bei der Terrorbekämpfung unterzeichnet, darunter auch die Auslieferung von Terrorverdächtigen.
Ähnlich zurückhaltend wie die USA zeigte sich auch Russland. Alexander Lawrentjew, Syrien-Beauftragte des russischen Präsidenten, mahnte die Türkei »von einer exzessiven Gewaltanwendung auf syrischem Staatsgebiet abzusehen«. Russland braucht die Türkei, um die sanktionsbedingten Exportbeschränkungen zu umgehen und versucht, die SDF davon zu überzeugen, ihre Kämpfer aus der Stadt Tell Rifaat abzuziehen, damit das syrische Regime in dem Grenzgebiet die Kontrolle übernehmen und so eine türkische Bodenoffensive verhindert werden kann.
Angesicht der innenpolitischen Kalkulationen und internationalen Lage ist es aber sehr wahrscheinlich, dass Erdoğan eine Bodenoffensive in Nordsyrien anordnet und den Konflikt weiter eskaliert. Das stellt den Westen auf die Probe: Es gilt, ein Gleichgewicht zwischen einem wichtigen Partner bei der Terrorismusbekämpfung im Nahen Osten und einem zentralen geopolitischen Verbündeten im Krieg in der Ukraine herzustellen. Doch die Zeit drängt. Während Ankara den Spielraum in Nordsyrien erweitert, verlieren die Kurden stückweise ihre mühsam erkämpfte Autonomie.
Competing strategies, rising threat perceptions, and potentials for conflict
doi:10.18449/2022C58
Wie Erdoğan sich den Ukrainekrieg zunutze macht
doi:10.18449/2022C37
Humanitarian Deterioration and Risks of Disrupting a Volatile Status Quo
doi:10.18449/2022C32
Sinem Adar and Hürcan Aslı Aksoy hold that, even with a change in government in Ankara, Turkey’s main interests in Syria will remain unchanged, in particular, preventing Kurdish autonomy under the leadership of the Democratic Union Party (PYD)/YPG, warding off a new influx of refugees in Turkey, and resettling Syrian refugees in Syria.
Syria, Libya, and Nagorno-Karabakh
doi:10.18449/2021RP05