Die Europäische Union ist gezeichnet von einem Jahrzehnt der Krisen. Diskussionen über Reformen in zentralen Politikfeldern sind blockiert. Die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat nun für 2020 ambitionierte Vorhaben versprochen, die Klima und Digitalisierung ebenso betreffen wie die globale Positionierung der EU. Zugleich soll eine Konferenz zur Zukunft der EU ins Leben gerufen werden. Wahrscheinlich ist jedoch, dass die fortschreitende Fragmentierung im Europäischen Parlament sowie verhärtete Fronten zwischen Mitgliedstaaten und instabile Machtverhältnisse in mehreren dieser Staaten nur wenige konkrete Fortschritte erlauben. Statt eines neuen (geopolitischen) Auftretens der Union ist eine zusehends stärkere Ausdifferenzierung ihrer Handlungsfähigkeit nach Politikfeldern zu beobachten. Die deutsche Ratspräsidentschaft könnte dem entgegenwirken, indem sie die Suche nach »Paketlösungen« über einen ressortgetriebenen Ansatz in der EU-Politik priorisiert.
2020 steht die EU vor einem Neuanfang. Der Brexit wurde Ende Januar vollzogen, die neue Führung in Kommission, Rat und Europäischem Parlament (EP) hat ihre Arbeit aufgenommen. Doch die vorangegangenen Krisenjahre haben tiefe Narben hinterlassen. Strukturelle Reformen stehen seit Jahren auf der Agenda, wurden aber regelmäßig vertagt. 2020, mit Beginn der neuen Legislaturperiode, will man den Hebel umlegen und gemeinschaftliche Zukunftsprojekte ansteuern. »Ein Europa, das liefert«, ist zwar seit Jahren das Motto aller Entscheidungsträger. Nun soll es aber endlich in die Praxis umgesetzt werden. Angesichts des zusehends unberechenbaren internationalen Umfelds und der Erosion der Union als Rechtsgemeinschaft ist eine status-quo-orientierte Politik mit immer größeren Risiken verbunden.
In der »Neuen Strategischen Agenda 2019–2024« hat der Europäische Rat weitreichende Ziele für den Schutz der Bürger, die Bewahrung des europäischen Wirtschaftsmodells, die Durchsetzung europäischer Interessen in der Welt und die Schaffung eines klimaneutralen Europas skizziert.
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen konkretisierte bereits sechs verwandte Arbeitsschwerpunkte; für vier von ihnen soll es in den ersten hundert Tagen – also bis März 2020 – detaillierte Vorschläge geben: der »Green Deal«, ambitionierte sozialpolitische Maßnahmen (Regeln für den Mindestlohn in der EU, Maßnahmen zur Förderung von Lohntransparenz) sowie ein Regulierungsrahmen für die Künstliche Intelligenz. Im Mai 2020 soll eine Konferenz über die Zukunft Europas ins Leben gerufen werden. Institutionelle Reformen bis hin zu EU-Vertragsänderungen könnten wieder auf die Agenda kommen. Durch seine Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte übernimmt Deutschland dabei besondere Verantwortung.
Schwierige Startbedingungen
Auf absehbare Zeit sind die Chancen jedoch gering, dass die Lähmung der EU überwunden werden kann. Die politische Fragmentierung betrifft mittlerweile beide Stränge der EU-Gesetzgebung: Rat/Europäischer Rat und Europäisches Parlament.
Auf der einen Seite bleiben die Fronten zwischen den nationalen Hauptstädten in zentralen Fragen verhärtet. Spaltungen zwischen Nord und Süd (Eurozone), Ost und West (Migration) erleichtern die Bildung von Sperrminoritäten. Hinzu kommt ein andauerndes Führungsvakuum: Emmanuel Macron bringt zwar wiederholt Vorschläge ein, wie die EU vertieft werden könnte, aber er vermag keine wirksamen Koalitionen mit anderen Mitgliedstaaten zu schmieden. Spanien und Italien bleiben innenpolitisch in einer sehr fragilen Lage, während die Regierungen Polens und Ungarns ihre Abkehr vom Liberalismus konsolidieren. Deutschland schließlich ist es nicht gelungen, jenseits des akuten Krisenmanagements als ausgleichender Garant neuer Integrationsschritte zu wirken.
Auf der anderen Seite ist das Europäische Parlament fragmentierter denn je. Im Frühsommer 2019 überwog noch Erleichterung: Die höhere Wahlbeteiligung belegte das gestiegene Interesse an europäischer Politik, die erwartete Erfolgswelle EU-skeptischer und/oder populistischer Parteien blieb aus. Seither zeigen sich aber lähmende Effekte des Wahlergebnisses. Erstmals in der Geschichte des EP haben die beiden großen Fraktionen Europäische Volkspartei (EVP) und europäische Sozialdemokraten (S&D) ihre gemeinsame Mehrheit verloren. Die nunmehr notwendige Übereinkunft zwischen mindestens drei Fraktionen konnte bislang nicht stabilisiert werden. Gespräche über eine Art »europäischen Koalitionsvertrag« zwischen EVP, S&D, den neu formierten Liberalen (Renew Europe) und europäischen Grünen verliefen im Sommer 2019 im Sande. In der aktuellen Legislaturperiode ist es daher auch im EP deutlich einfacher, Beschlüsse zu blockieren als konstruktive Mehrheiten zu organisieren.
Nicht zuletzt reflektiert die Kommission von der Leyen den Widerspruch zwischen hohen Ambitionen und realen Kompetenzen. Das Arbeitsprogramm der Kommission für 2020 steht im Zeichen der Notwendigkeit, die Angriffsfläche klein zu halten. Im Vergleich zur Juncker-Kommission werden deutlich weniger Legislativprojekte benannt (29 vs. 60 in Jahr 1 der Juncker-Kommission). Die meisten Vorhaben hingegen betreffen denn auch die Koordinierung in der Kommission sowie mit anderen EU-Institutionen.
Die Struktur der neuen Kommission mit drei Hierarchieebenen spiegelt das komplexe politische Umfeld mit seinen vielen Vetospielern wider. Drei »exekutive« Vizepräsidentinnen und ‑präsidenten, die inhaltliche Schwerpunkte voranbringen sollen, vertreten zugleich die drei größten Fraktionen im EP. Weitere fünf Vizepräsidentinnen und ‑präsidenten sollen für mehr inhaltliche Kohärenz sorgen und die EU nach außen besser repräsentieren. Gleichzeitig bilden sie aber auch den Proporz zwischen den Mitgliedstaaten ab, die sich wieder einmal nicht auf die überfällige Verkleinerung der Kommission verständigen konnten.
Die neue Kommission muss also mehr noch als in der Vergangenheit einen Balance-Akt vollführen zwischen dem Selbstverständnis einer »europäischen Regierung« – mit ambitioniertem 100-Tage-Programm – und einer keineswegs leichter werdenden Rolle als »Hüterin der Verträge« und als Vermittlerin zwischen Rat und EP.
Handlungsfähigkeit der EU in zentralen Politikfeldern
Die Voraussetzungen für eine grundlegende Trendwende der EU-Politik sind also denkbar ungünstig. Dabei sind die Blockaden und Handlungsmöglichkeiten der Union je nach Politikbereich sehr unterschiedlich – mit Blick auf Interessenkonflikte der Mitgliedstaaten, Integrationsgrad und Kompetenzen der EU. Eine Analyse der Handlungsfähigkeit der EU muss daher nach Politikfeldern differenzieren. Im Folgenden werden fünf ausgewählte Felder gegenübergestellt: drei der »neuen« Schwerpunktthemen der Von-der-Leyen-Kommission (Klima/Energie, Digitalisierung, Außen und Sicherheit) sowie zwei »Krisenthemen« der letzten Legislaturperiode(n) (Justiz, Inneres und Migration sowie Wirtschafts- und Währungsunion).
Klima und Energie
Der »Europäische Grüne Deal« (European Green Deal) hat erkennbar einen herausgehobenen Stellenwert. Schon am ersten Tag nach ihrem Amtsantritt im vergangenen Dezember kündigte Kommissionspräsidentin von der Leyen ein umfangreiches Paket an, um bis 2050 das Ziel einer »klimaneutralen« EU zu erreichen, also nur noch so viele Treibhausgase auszustoßen, wie durch biologische und technische Senken absorbiert werden können (siehe SWP-Aktuell 38/ 2019). In diesem Kontext präsentierte von der Leyen eine Liste von insgesamt 50 Vorhaben für die Jahre 2020 und 2021. Sie reichen von einem Vorschlag für ein europäisches Klimagesetz und dem Plan zur Verschärfung der EU-Emissionsminderungsziele für 2030 über Nachhaltigkeits-Initiativen in nahezu allen Wirtschaftssektoren bis hin zu einer »Grünen Agenda für den Westbalkan«. Das Konzept des European Green Deal folgt dem in der EU bereits etablierten klimapolitischen Paradigma, drastische Emissionsreduktionen mit dem Versprechen einer volkswirtschaftlichen Modernisierung zu verknüpfen. Doch ob aus dem vielfältigen Bündel an Vorschlägen auch wirklich ein umfassender »Deal« wird – und, falls ja, wer dabei die Konditionen bestimmt –, ist noch längst nicht ausgemacht.
Die erstmalige Ankündigung eines Green Deal war im Juli 2019 nicht zuletzt taktischen Erwägungen geschuldet, hatten doch insbesondere die EP-Fraktionen S&D und Renew Europe ehrgeizigere Klimaziele zu einer Bedingung für eine Wahl von der Leyens erklärt. Ein nicht zu unterschätzendes Problem besteht jedoch darin, dass der Europäische Rat nach wie vor der zentrale Akteur in der EU-Klimapolitik ist. Während Donald Tusk im Juni 2019 noch daran gescheitert war, die Staats- und Regierungschefs zu einer grundsätzlichen Unterstützung eines bis 2050 zu erreichenden EU-Klimaneutralitätsziels zu bewegen, gelang dies seinem Nachfolger Charles Michel schon bei seinem ersten Gipfel. Letztlich stimmte auch Polen den gemeinsamen Schlussfolgerungen zu, ließ aber explizit festhalten, dass sich der Europäische Rat dieser Frage im Juni 2020 erneut annehmen wird. Politisch abgesichert werden soll der noch fragile Kompromiss zum Langfristziel durch den im Januar 2020 vorgelegten Verordnungs-Vorschlag, einen 7,5 Milliarden Euro umfassenden Just Transition Fund einzurichten, der Mitgliedstaaten den Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaftsweise erleichtern soll. Nach den Plänen der Kommission sollen davon mehr als ein Viertel (insgesamt 2 Milliarden) nach Polen gehen. Sowohl der Umfang als auch der Verteilmechanismus des Fonds dürften im Rahmen der Verhandlungen über den Mehrjährigen Finanzrahmen für Auseinandersetzungen sorgen. Die darüber hinaus von der Kommission versprochenen finanziellen Hebelungseffekte sind derzeit noch zu spekulativ, um als politischer Anreiz zu dienen.
Der eigentliche Lackmustest wartet beim ungleich wichtigeren Vorhaben, eine Verschärfung des EU-Emissionsminderungsziels für 2030 durchzusetzen, von derzeit 40 auf 50–55 Prozent (jeweils gegenüber 1990). Auch dies terminierte die Kommission auf Sommer 2020. Die EU hat ihre Emissionen seit 1990 erst um 23 Prozent gesenkt, und viele Mitgliedstaaten befinden sich nicht auf einem Pfad, auf dem sie ihre Minderungspflichten unter der vereinbarten 40‑Prozent-Zielvorgabe erfüllen könnten – darunter auch Deutschland. Eine Anhebung des Ziels um weitere 10–15 Prozentpunkte dürfte im Europäischen Rat kaum konsensfähig sein, auch weil die klimapolitisch progressiven Mitgliedstaaten Nord- und Westeuropas nicht bereit sein werden, den größten Teil der verstärkten Anstrengungen zu übernehmen. Ein politisch gangbarer – klimapolitisch aber möglicherweise fragwürdiger – Ausweg könnte darin liegen, die Zielformel anzupassen. Zum einen ließen sich negative Emissionen aus Land- und Forstwirtschaft erstmals voll auf die Erfüllung des EU-Ziels anrechnen. Zum anderen könnte die EU wieder Emissionsgutschriften für Klimaschutzmaßnahmen zulassen, die mit europäischem Geld in Entwicklungsländern realisiert werden – was beim ursprünglichen Beschluss des 2030-Ziels auf Betreiben der Kommission ausgeschlossen worden war. Dies wird allerdings erst dann möglich sein, wenn in den VN-Verhandlungen zu Marktmechanismen unter dem Pariser Abkommen eine Einigung erzielt werden kann.
Außen- und Sicherheitspolitik
Ursula von der Leyen hat explizit formuliert, dass die EU fortan die »Sprache der Macht« lernen müsse. Die zunehmenden Unsicherheiten in Europas Nachbarschaft, der Brexit, die sino-amerikanische Rivalität und die ambivalente Haltung der US-Administration zur EU-Integration haben die Nachfrage nach europäischer Sicherheit markant ansteigen lassen.
Allerdings gibt es keinen realistischen Vorschlag, wie die innereuropäische Kakophonie in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) eingedämmt werden könnte. Nationale Alleingänge beschränken GASP-Initiativen regelmäßig auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner, sei es mit Blick auf Venezuela, die Türkei, Libyen oder den US-Iran-Konflikt. Die zentrale Herausforderung liegt im Innern der EU, wie der neue Hohe Vertreter Josep Borrell hervorhob.
Die relevanten Führungspositionen in Kommission und Europäischem Parlament sind wie üblich mit Kandidaten und Kandidatinnen aus den »alten« Mitgliedstaaten Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien und Spanien besetzt worden. Die geringe Repräsentanz der mittelosteuropäischen Staaten kann dazu führen, dass deren Befindlichkeiten in der Russland- und USA-Politik noch stärker von jenen der westeuropäischen Staaten abweichen. So will Ungarn beispielsweise neben anderen Staaten die Einführung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen in der GASP verhindern. Zugleich könnten sich die Kommissare, deren Arbeitsbereiche Belange des Binnenmarkts betreffen, auch international in den Vordergrund drängen. Dem Hohen Vertreter Borrell, der gleichzeitig Vizepräsident der Kommission ist, werden im neuen Kommissionskollegium drei gleichrangige exekutive Vizepräsidenten an die Seite gestellt. Statt einer »geopolitischen« entwickelt sich insofern eine »geoökonomische« Kommission.
Im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) gibt es bislang 47 Projekte zur Rüstungs- und Entwicklungsforschung im Kontext der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO). Unter der Leitung Thierry Bretons wurde die Generaldirektion »Verteidigungsindustrie und Weltraum« samt einer Rüstungsabteilung geschaffen. Die Generaldirektion wird unter anderem für die Verwaltung des Europäischen Verteidigungsfonds zuständig sein, der nach aktuellem Verhandlungsstand für 2021–2027 mit ungefähr rund 6 Milliarden Euro ausgestattet sein soll. Abgesehen von diesen relativ begrenzten finanziellen Mitteln zur Entwicklung eines gemeinsamen Rüstungsmarkts behalten sich die Mitgliedstaaten in der GSVP die ausschließliche Kompetenz bei Entscheidungen vor, die Einsatz und Export militärischer Fähigkeiten betreffen.
Aufgrund dieser anhaltenden Schwäche der EU-Entscheidungsverfahren und ‑Einsatzmittel wächst die Versuchung, auf alternative intergouvernementale Formate zur Stärkung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu setzen. Ein Beispiel ist die im Juni 2018 auf Anregung Frankreichs beschlossene, außerhalb der EU-Strukturen angesiedelte Europäische Interventionsinitiative (EI2), an der zwölf EU-Mitgliedstaaten sowie Großbritannien und Norwegen teilnehmen. Zweck der Initiative ist es, eine gemeinsame Lagebildanalyse für anspruchsvolle Kriseneinsätze vorzubereiten und die Entwicklung einer Strategie Europas im Kreise dieser Staaten zu fördern. Daneben wird es vielfältige Nato- und VN-Missionen oder Ad-hoc-Koalitionen geben, wie sich etwa mit Blick auf die militärische Terrorismusbekämpfung zeigt. Die EU bleibt auch unter veränderten geopolitischen Bedingungen für die meisten Mitgliedstaaten nur eine von mehreren möglichen Strukturen.
Der Brexit und Großbritanniens außenpolitisches Gewicht bieten weitere Anreize, europäische Außen- und Sicherheitspolitik außerhalb der EU zu organisieren. Der deutsch-französische Vorschlag vom Juni 2018, einen EU-Sicherheitsrat unter Beteiligung Großbritanniens zu gründen, ist mit Vorbehalten zu betrachten. Ein Format, das die Prinzipien und Verfahren der GASP umgeht, wird das »Europa der Nationalstaaten« stärken. Wer effizientere Entscheidungsprozesse will, muss darauf verzichten, dass sämtliche EU-Staaten Rückhalt gewähren. Die Zielkonflikte zwischen Stärkung der supranationalen Institutionen auf der einen Seite und der Informalisierung von EU-Außen- und Sicherheitspolitik auf der anderen bleiben für die deutsche Sicherheitspolitik eine große Herausforderung. Es liegt im Interesse Deutschlands als europäischer Zentralmacht, die Gemeinschaftsmethode zu stärken sowie West und Ost ebenso wie Nord und Süd politisch einzubinden. Dieser hohe Anspruch, die europäische Außen- und Sicherheitspolitik auf gemeinschaftlicher und vertraglicher Basis voranzutreiben, sollte unter der deutschen Ratspräsidentschaft zusätzlich durch den Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention untermauert werden.
Digitalisierung
Die grundsätzliche Bedeutung der Digitalpolitik für das europäische Werte- und Wirtschaftsmodell ist auf EU-Ebene wenig umstritten. Alle EU-Institutionen heben den Stellenwert der Digitalisierung für den Binnenmarkt und das europäische Gesellschaftsmodell hervor. Neue Technologien müssen dabei nicht nur effizient sein, sie sollten auch einen Beitrag zu Demokratie und Wahrung der Menschenrechte leisten. Eindrückliche Erfolge der vergangenen Legislaturperiode waren die Datenschutzgrundverordnung und die neuere Cybersicherheitsverordnung (siehe SWP-Aktuell 60/2019). Gleichwohl gibt es Konflikte zwischen einzelnen Mitgliedstaaten, wie sich sehr deutlich an der Debatte um den Ausbau der 5G-Netzwerkinfrastruktur zeigt. Die Kommission schlägt mit der »5‑G-Toolbox« zwar strenge Verfahren zur Risikokontrolle vor, jedoch behalten sich die Mitgliedstaaten ihre individuelle Entscheidungskompetenz vor. Die EU ist gefordert, für die hochgradig komplexen technologischen Entwicklungen Regulierungen zu treffen, die den digitalen Binnenmarkt offenhalten, aber auch schützen (Resilienz). Dies wird nicht zuletzt aufgrund der wachsenden internationalen Konkurrenz um Märkte und Ressourcen schwieriger, die insbesondere zwischen den USA und China herrscht.
Das gilt zuvorderst für die Künstliche Intelligenz (KI). Die Ethik von Algorithmen ist ein zentraler Punkt auf der Digitalisierungsagenda der neuen »geopolitischen Kommission«. Margrethe Vestager, Kommissarin für Digitales und exekutive Vizepräsidentin, wird gleichzeitig für die Wettbewerbspolitik verantwortlich sein. Zugleich kündigt die EU an, »technologische Führerschaft und strategische Autonomie« zu entwickeln. Die damit verbundenen Konflikte sind nicht auf die Beziehungen zwischen dem Westen und China beschränkt. Auch in den transatlantischen Beziehungen prallen kaum noch miteinander vereinbare Wertvorstellungen aufeinander, was die Sammlung und Nutzung von Daten betrifft.
Um digitale Souveränität zu erlangen, beabsichtigt die EU, eine europäische Industriestrategie zu lancieren. Die Kommission will hierzu eine Daten-Strategie und einen Digital Services Act erarbeiten, die durch einen Europäischen Zukunftsfonds finanziell untermauert werden sollen. Ziel sei es, nichtpersonenbezogene Daten über europäische Plattformen und Cloudentwicklungen besser zu nutzen. In der Cybersicherheit will Ursula von der Leyen zusätzlich »eine gemeinsame Plattform schaffen, eine erweiterte Cybersicherheitsagentur«, die auch für kritische Komponenten der IT-Infrastruktur wie 5G zuständig sein soll.
Wie viel Kompetenzen in der Cyberaußen- und Sicherheitspolitik an die EU-Ebene abzutreten wären, wird kontrovers diskutiert. Unter deutscher Ratspräsidentschaft soll die seit 2016 angekündigte Strategie zur Internationalen Cyberpolitik auf den Weg gebracht werden. Derzeit verhandeln fünf EU-Staaten, die in der UN Group of Governmental Experts vertreten sind, wie sich die Budapest-Konvention zur Cyberkriminalitätsbekämpfung des Europarats auf VN-Ebene übertragen lassen könnte.
Während es politische Erklärungen zur Rolle der EU als ethischer Vorreiter im Cyberraum gibt, erodieren die Fundamente der Rechtsstaatlichkeit. Europäische Überwachungstechnik wird an menschenrechtsfeindliche Regime geliefert und untergräbt Demokratisierungsprozesse in manchen Regionen der Welt. In einigen EU-Mitgliedstaaten werden unterdessen illiberale Entwicklungswege mit digitalen Technologien befördert, die dazu beitragen, die öffentliche Debatte zu polarisieren. Gleichzeitig droht nach wie vor eine Schwächung staatlicher Ordnungsansprüche im digitalen Raum. Einzelne Mitgliedstaaten blockieren ein europäisches System zur Besteuerung von Internetgiganten. Die Verlagerung der Kontrolle über Netzinhalte auf Private ist ebenso problematisch wie die Umsetzung der Urheberrechtsrichtlinie durch Einführung von Uploadfiltern.
Justiz, Inneres und Migration
Der Widerspruch zwischen Reformambitionen und politischer Lähmung ist bei der Migrationspolitik der EU besonders ausgeprägt. Die irreguläre Zuwanderung hat in den vergangenen Jahren die Handlungsfähigkeit der EU am stärksten in Frage gestellt. Eine grundlegende Reform des sogenannten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) mit dem Ziel, die Problematik ebenso solidarisch wie fair zu regeln, kam trotz zahlloser Versuche nicht zustande. Als kleinster gemeinsamer Nenner wurden primär die Kooperation mit Drittstaaten intensiviert und der Schutz der Außengrenzen verstärkt. Der letzte große Erfolg der EU-Kommission unter Jean-Claude Juncker war die Reform von Frontex, das in den kommenden Jahren über bis zu 10 000 EU-Grenzschutzkräfte verfügen soll (siehe SWP-Aktuell 66/2019).
Die neue Kommission hat einen »Neustart« in der Migrations- und Asylpolitik versprochen, bisher aber bewusst keine Details bekanntgegeben. Der bisherige Ansatz einer umfassenden Reform des GEAS dürfte aufgegeben werden. Zunächst wird man lediglich restriktive Maßnahmen fördern, etwa beschleunigte und erleichterte Rückführungen abgelehnter Asylbewerber. Die sogenannte Lastenteilung und die Revision des Dublin-Regimes werden sich auf absehbare Zeit nur in freiwilligen Koalitionen realisieren lassen. Deutschland hat im Vorgriff auf seine Ratspräsidentschaft vorgeschlagen, im Rahmen einer solchen Koalition neue Erstankunftszentren für irreguläre Zuwanderer in einigen EU-Außengrenzstaaten einzurichten. Nach einer Vorprüfung von Asylanträgen könnten Personen, deren Anträge gute Erfolgsaussichten haben, von diesen Zentren aus an andere EU-Mitgliedstaaten verteilt werden. Ein Erfolg dieser Initiative ist zweifelhaft, nicht zuletzt weil es kaum positive Anreize für jene Staaten gibt, die bisher vergleichsweise wenig von der Migrationskrise betroffen waren. Auch eine »Neugründung« Schengens – wie sie Macron wiederholt angesprochen hat, um alle Mitgliedstaaten zu einem umfassenden Engagement in der Flüchtlingspolitik zu bewegen – ist keine glaubwürdige Option.
Das EP ist wie viele nationale Parlamente in der Migrations- und Identitätspolitik gespalten. Auch wenn populistische Parteien bei der letzten Wahl schwächer abgeschnitten haben, als befürchtet worden war, droht ein höheres Maß an Fragmentierung und Unvorhersehbarkeit der Entscheidungsfindung. Beispielsweise scheiterte im Oktober 2019 eine kritische Resolution des neuen Parlaments zur Seenotrettung an einigen wenigen Abweichlern der neugeformten liberalen Fraktion (Renew Europe).
Angesichts der anhaltenden kollektiven Handlungsschwäche in der Migrationspolitik muss die neue EU-Kommission die Rechtsstaatlichkeit in der gesamten EU-Innenpolitik bewahren. In den letzten Jahren hat die Aushöhlung der Unabhängigkeit der Justiz in einigen Mitgliedstaaten ein kritisches Ausmaß erreicht. Deshalb steht die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im sogenannten Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zusehends unter Vorbehalt.
Wirtschafts- und Währungsunion
Die andauernden geopolitischen Spannungen, insbesondere die erratische US-Handelspolitik und der Brexit, wirken sich negativ auf die Geschäftsbedingungen und die kollektive Handlungsfähigkeit der EU aus. Das Hauptproblem ist aber nicht nur das langsamste Wachstum in der EU seit 2013, sondern auch dessen ungleiche Verteilung. Während die mittel- und osteuropäischen Länder der EU und Irland nach wie vor relativ hohe (aber sinkende) Wachstumsraten aufweisen, sind sie in vielen westlichen Volkswirtschaften sehr niedrig. Die Länder der südlichen Eurozone stehen noch immer vor erheblichen strukturellen Herausforderungen. Ungeachtet stark asymmetrischer Interessen und seit langem verfolgter Projekte zur wirtschaftlichen Integration (z. B. Bankenunion oder Kapitalmarktunion) will die Kommission zahlreiche neue, ambitionierte Initiativen starten, um den Binnenmarkt im Bereich Dienstleistungen zu vertiefen. Dazu zählen eine neue Industriepolitik – als Reaktion auf die digitale Revolution –, die Gewährleistung einer gerechten und wirksamen Besteuerung, die Unterstützung des grünen Wandels und die Verringerung der gegenwärtig in der EU bestehenden Investitionslücke.
Zugleich herrscht eine gewisse Müdigkeit bei der Agenda zur Reform der Eurozone, die erst auf dem Euro-Gipfel im Juni 2019 erneut bekräftigt wurde. Insbesondere dass Matteo Salvini die vorgesehene Reform des Europäischen Stabilisierungsmechanismus auf innenpolitischer Bühne für seine antieuropäische Rhetorik nutzt, engt den Spielraum für Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten ein. Ein weiteres Beispiel für politische Blockaden im Euroraum ist das Haushaltsinstrument für Konvergenz und Wettbewerbsfähigkeit, dessen Einfluss aufgrund seiner begrenzten Größe jedoch nur symbolisch sein kann. In diesem schwierigen Umfeld wird der Präsident der Eurogruppe nicht mehr tun können, als Möglichkeiten für Fortschritte beim Europäischen Einlagensicherungssystem auszuloten.
Paolo Gentiloni, der neue EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung sowie für Steuern und Zollunion, wird die Bedeutung unterstreichen, die der Vollendung der Bankenunion zukommt, und eine flexible Auslegung des Stabilitäts- und Wachstumspakts unterstützen. Eine Gelegenheit, die EU-Fiskalregel zu diskutieren, wird die Überprüfung der »two-pack«- und »six-pack«-Gesetzgebung bieten, deren Ergebnis die Kommission im ersten Quartal 2020 veröffentlichen wird. Gentiloni wird auch eine wichtige Rolle als Leiter der Verhandlungen mit der italienischen Regierung spielen müssen, sollten die Renditen italienischer Staatsanleihen weiter steigen. Christine Lagarde, die neue Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), versucht unterdessen, einen breiteren Konsens über die Geldpolitik wiederherzustellen. Auch für die EZB bleibt die Situation in Italien auf absehbare Zeit die größte Herausforderung.
Ausblick
Obgleich in der Bevölkerung die Zustimmung zur EU insgesamt wieder gestiegen ist, hat die Union ein schwieriges Erbe zu bewältigen. Der Blick auf fünf ausgewählte Politikfelder erlaubt drei Schlussfolgerungen für die deutsche Europapolitik:
Erstens ist die Strategie der neuen EU-Führung, die Aufmerksamkeit auf Zukunftsthemen wie Klimawandel und Digitalisierung zu lenken, ein kalkuliertes Wagnis. Supranationale, auf dem Mehrheitsprinzip beruhende Verfahren treffen auf starke Regulierungskompetenzen der EU, nicht allzu tiefe Gräben zwischen den Mitgliedstaaten und eine breite Unterstützung im Parlament. Die Aussichten auf wegweisende Beschlüsse sind also in diesen Bereichen besser als in den bekannten Krisenfeldern der Asyl- oder Wirtschaftspolitik. Aber auch in der Klima- und Digitalpolitik nehmen inhaltliche Differenzen mit der Präzisierung der Agenda deutlich zu. Diese Politikfelder können darum nicht allein als Zugpferde herhalten für eine »EU, die liefert«.
Zweitens bleiben erhebliche Zweifel, ob die EU und vor allem die Kommission ihrem »geopolitischen« Anspruch gerecht werden können. Anfang 2020 haben die Konflikte im Iran/Irak sowie in Libyen gleichsam die Notwendigkeit und die Grenzen einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erneut verdeutlicht. Deutschland kann hier entgegenwirken, indem es sich zunächst einmal mit Frankreich darüber verständigt, wie ein inklusives Vorgehen mit einem Europa der wechselnden Koalitionen in der EU-Außen- und Sicherheitspolitik zu vereinbaren ist.
Drittens müssen in den übrigen Politikbereichen neue Ansätze zur Überwindung festgefahrener Widerstände gefunden werden. Ein Blick auf die Felder Justiz, Inneres und Migration sowie Wirtschafts- und Währungsunion lässt erkennen, dass die EU zwar jahrelang Interessengegensätze verwalten kann, ohne auseinanderzubrechen. Sie bleibt aber offenkundig verwundbar gegenüber künftigen Krisen. Notwendig sind politikfeldübergreifende Impulse. Diese können 2020 aus zwei Richtungen kommen: Auf der einen Seite wird der Mehrjährige Finanzrahmen 2021–27 verhandelt, der nach derzeitigem Stand bis 2027 auf etwa 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens beschränkt bleiben wird. Umso größer ist der Druck, politikfeldspezifisch neue Finanzinstrumente und Anreize zu gestalten, wie etwa beim bisher vage definierten Just Transition Fund des Green Deals.
Auf der anderen Seite kann die Verschränkung einzelner Politikfelder gestärkt werden. Die neue Struktur der Kommission fördert politikfeldübergreifende Ansätze, um Reformprozesse strategisch zu verknüpfen. Damit Blockaden aufgelöst werden können, müssen aber auch die Mitgliedstaaten (und das EP) zu größeren »Paketlösungen« für eine gemeinschaftliche EU-Politik nach dem Brexit zurückkehren.
Die deutsche Europapolitik ist dabei mehr denn je gefordert: Zum einen werden in der deutschen Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2020 die ersten großen Vorhaben der neuen EU-Legislaturperiode verhandelt, etwa der Green Deal. Auch die Zukunftskonferenz soll ab Mitte 2020 ihre Arbeit aufnehmen. Die ersten Vorstellungen der Kommission dazu müssen von der deutschen Ratspräsidentschaft mit Elan weiterentwickelt werden. Zum anderen sollte Deutschland verstärkt über seinen nationalstaatlich klassischen Ressortansatz in der EU-Politik hinauskommen. Allgemeine Beteuerungen, den Zusammenhalt in der EU stärken zu wollen, reichen nicht aus. Für einen neuen Interessenausgleich zwischen möglichst vielen EU-Mitgliedstaaten gilt es vor allem, übergeordnete Prioritäten zu setzen und diese auch mittels der Bereitschaft zur Aufgabe »roter Linien« voranzutreiben, wie sie etwa in der Wirtschafts- und Währungsunion bestehen. Die maßgeblichen Ziele einer solchen Europapolitik sind in Deutschland weitgehend akzeptiert: die geopolitische Selbstbehauptung und die Bewahrung der normativen Grundprinzipien der EU.
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