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»Net Assessment« als Instrument für Deutschlands Sicherheitspolitik

Stoßrichtung und mögliche Anwendung in der Auseinandersetzung mit Russland

SWP-Aktuell 2025/A 47, 03.11.2025, 4 Seiten

doi:10.18449/2025A47

Forschungsgebiete

Systematisches Nachdenken darüber, wie ein »kalter« militärischer Wettbewerb (peacetime military competition) zum eigenen Vorteil gestaltet werden kann, ist im deut­schen Regierungsapparat nicht institutionalisiert. Auch deshalb ist es in Deutschland unterentwickelt. Mit Russland befindet sich Deutschland aber in einem solchen Wett­bewerb, und das dürfte so bleiben. In den USA wurden auf der Suche nach Ansätzen, um militärische Kräfteverhältnisse zulasten von Gegnern zu ändern, seit den 1970er Jahren sogenannte »Net Assessments« einflussreich: Analysen, die vielfältige Erkenntnisse einbeziehen – von historischen Traumata über industrielle Engpässe bis zu büro­kratischen Dysfunktionalitäten – und die darauf abzielen, Schwachstellen des Gegners im militärischen Wett­bewerb zu ermitteln. Damit zeigen sie Wege auf, wie diese Schwä­chen ausgenutzt werden können. Für Deutsch­lands strategische Aufstellung gegenüber Russland scheint Net Assessment ein vielversprechendes Instrument zu sein.

Sicherheitspolitisch steht Deutschland vor der Aufgabe, für einen langen militärischen Wettbewerb mit Russland »fit« zu werden. Beim Rüstungsoutput und Mobilisieren von Soldaten können Deutschland und Europa aber nicht mit Russland mithalten bzw. nur unter Bedingungen, die politisch unattraktiv sind, etwa Kriegswirtschaft. Wenn der kalte militärische Wettbewerb mit Moskau zahlenmäßig für die Europäer also kaum zu gewinnen ist, müssen sie ihren Vorteil in einer klügeren Politik suchen. Um ein ökonomisches Bonmot zu paraphra­sieren: »If we can’t outnumber the Russians, we must outthink them.« Die Werk­zeuge dafür sind wenig bekannt – es gibt sie aber.

Prämisse: Auch ohne Krieg findet militärischer Wettbewerb statt

Zu realisieren, dass sich das eigene Land bereits in einer Wettbewerbssituation befin­det, ist zentral, um Strategien für diese Aus­einandersetzung zu entwickeln.

Wenn Staaten einen geopolitischen Kon­flikt austragen, geschieht dies immer auch in Form eines militärischen Wett­bewerbs. Das gilt offensichtlich nach dem Beginn von Kriegshandlungen, wie die Gescheh­nisse in der Ukraine zeigen. Aber auch wenn keine direkte kriegerische Aus­einandersetzung besteht, wie zum Beispiel zwischen Nato-Europa und Russland, findet (neben ande­ren Arten der Austragung) ein mili­tärischer Wett­bewerb zwischen den Par­teien statt, bloß eben ein »kalter« und kein »heißer«. Denn in beiden Zuständen ist das militärische Kräfteverhältnis – genauer: seine Wahr­nehmung durch die Kontrahenten sowie durch Dritte – ein wesentlicher Fak­tor bei strategischen Entscheidungen, den Kon­flikt zu entschärfen oder zu verschärfen. Die military balance zu ihren eigenen Guns­ten zu ver­schie­ben, sollte mithin die Ab­sicht von Staa­ten sein, die sich in geo­poli­tischen Riva­litäten befinden. So können sie ihrem Ziel, den Konflikt zu gewinnen (oder nicht zu ver­lieren), näher kommen.

Doch wie verschiebt man die Balance in solchen peacetime military competitions zu seinen Gunsten? Die Forschung darüber hat heraus­gearbeitet, dass Erfolg in geopolitischen Rivalitäten darauf gründet, dass das eigene Einflusspotential (leverage), sprich die Wett­bewerbsposition, suk­zessive ausgebaut wird: indem man sich 1) asymmetrische Vorteile gegenüber dem Gegner erarbeitet und 2) diesem Kosten auferlegt. Um rele­vante Asymmetrien, Vor­teile und Kos­ten zu identifizieren, gibt es Net Assessments.

Net Assessment als Analyserahmen

Am besten lassen sich Net Assessments als ganzheitliche Perspektive zur Einschätzung militärischer Kräfteverhältnisse betrachten. Sie sind ein Analyserahmen – keine Me­thode, Theorie oder eigene Wissenschaft.

Net Assessments sollen Wissen dafür lie­fern, strategische Entscheidungen in einem militärischen Wettbewerb zu treffen. Sie helfen bei der Entwicklung oder Beschaffung passender Waffen, der Aufstellung (posture) der Streitkräfte, deren Einsatz­doktrin. Strategische Entscheidungen kön­nen ferner den Zugang zu Rohstoffen be­tref­fen, Sanktionen, den Eintritt in Verhand­lungen, die strategische Kommunikation oder das Auftragsprofil der Geheimdienste.

Der Netto-Aspekt im Namen speist sich aus zwei Merkmalen von Net Assessments. Erstens analysieren sie Zweierkonstellationen. Ein konkreter Gegner wird in Relation zu einem anderen Land oder Bündnis (zu­meist dem eigenen) beurteilt, etwa das Kräfteverhältnis USA–China oder früher die Balance zwischen Nato und Warschauer Pakt. Zweitens wird das Verhältnis als Reihe von Interaktionen gedacht: Was ist das Netto-Resultat eines Vorgehens, wenn auch die Reaktion des Gegners, die eigene Ant­wort darauf usw. mitkalkuliert werden?

Die für das Verstehen und Beurteilen der Zweierbeziehung analysierten Aspekte sind vielfältig und unterliegen explizit keiner Be­grenzung. Alle Faktoren, die sich auf das mili­tärische Kräfteverhältnis auswirken, gel­ten als relevant; neben den Militär­kapazitä­ten etwa auch öko­nomische, demo­graphi­sche oder geo­graphische Gegeben­heiten. Be­sondere Aufmerksamkeit erfahren in Net Assess­ments – und darin bestand his­torisch ihr Mehrwert gegenüber konventionellen Ansätzen wie Operations Research, System­analysen und bloßem Zählen von Waffensystemen – aber Faktoren, die Staaten von einer nutzenmaximierenden Politik ab­halten und suboptimales Handeln hervor­rufen. Dazu gehören bürokratische Eigen­logiken großer Militärapparate, Ineffi­zien­zen histo­risch gewachsener Institutionen (etwa bei der Rüstung), Biases in der Perzeption als Folge einer strategischen Kultur, dys­funk­tio­nale Prozesse oder ein überpropor­tio­na­ler Einfluss persönlicher Präferenzen.

Net Assessments fragen also dreierlei: 1) Wie konkurrieren zwei Akteure durch die Brille ihrer spezifischen Präferenzen, stra­tegischen Kulturen, Institutionen und bürokratischen Dynamiken militärisch mit­einander? 2) Welche Dinge begrenzen dabei ihre militärische Effektivität? 3) Wie fällt das Kräfteverhältnis aus, auch künftig? Dies zu beantworten, erfordert rele­vante Länder­expertise von großer Tiefe – über den Geg­ner und auch das eigene Land.

Ein Beispiel für derartiges Spezialwissen über suboptimales Verhalten liefert ein Net Assessment des Pentagons aus den 1970er Jahren: Die Analyse besagte, dass die So­wjet­elite durch den Blitzkrieg der Luftwaffe 1941 traumatisiert worden sei und in der Folge eine Art Obsession für Luftverteidigung entwickelt habe. Diese lasse Moskau unverhältnismäßig auf Bedrohungen durch Bomber und Flugkörper reagieren. Zudem untergrüben die Politisierung der sowjetischen Forschung sowie bürokratische Riva­li­täten die Effektivität der eingesetzten Luft­verteidigung. Einsichten wie diese machen Net Assessments enorm wertvoll.

Die Unterschiede zwischen Kontrahenten sind besonders interessant. Net Assessments gehen nicht davon aus, dass der Gegner irra­tional agiert, die eigene Seite aber weise. Die Prämisse lautet eher, dass beide Par­teien Probleme haben, nutzenmaximiert militärisch zu konkurrieren – nur sind die Probleme meist unterschiedlich geartet.

Beispielsweise stellte die Ressourcen­extraktion, das heißt die Militarisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, Regie­rungen der USA in Friedenszeiten wegen der liberalen Tradition und der Gewalten­teilung vor Hürden. Der Kreml hatte diese Sorge in einem autoritären System kaum. Umgekehrt lieferten das Wachstum der US-Wirtschaft und ihre Produktivität Ressourcen für den militärischen Wettstreit, über die Moskau nie verfügte. Im Sowjetsystem schufen auch die Zentralisierung und der Einfluss des Militärs auf Beschaffungsprioritäten größere Probleme. In den USA boten das Primat der Politik und die Forschungslandschaft ein besseres Umfeld für mili­tärische Innovation als in der Sowjetunion.

Um derartige Asymmetrien zu erkennen, helfen Gegenüberstellungen: Nebenein­an­der-Vergleiche (side-by-side) kontrastieren den gleichen Faktor, zum Beispiel die Luft­verteidigungsgeschütze Polens mit denen Russlands. Gegeneinander-Vergleiche (head-to-head) fragen stattdessen nach der Inter­aktion, etwa: Wie würde die Kampfbomberflotte der Nato gegen Russlands integrierte Luftverteidigung abschneiden?

Net Assessments diagnostizieren solche ungleich ver­teilten Stärken und Schwächen nur; in der Folge können diese Asymmetrien jedoch gezielt ausgenutzt werden, um das mili­täri­sche Kräfteverhältnis zu ver­ändern. Die Operationalisierung dieser Auf­gabe des sys­tematischen Ausnutzens erfolgt mit soge­nannten wettbewerbsorientierten Stra­te­gien bzw. competitive strategies.

Von der Schwachstellenanalyse zum Plan: Competitive Strategies

Wettbewerbsorientierte Strategien haben den Zweck, die Auseinandersetzung in Bahnen zu lenken, in denen die eigenen Vorteile bestmöglich zum Tragen kommen, sowie jene Bereiche des Wettbewerbs ein­zufrieren, in denen der Gegner besser auf­gestellt ist. Der Gegner soll also unser »Spiel« spielen. So bestand die von den USA ange­strebte Art des Wettstreits mit der Sowjetunion in einem qualitativen militärischen Ringen, bei dem Amerika seine Innovations­kraft und seinen Technologievorsprung ausspielen konnte. Moskaus »Spiel« wäre ein quantitatives Wett­rüsten gewesen, bei dem sich die Massenproduktion kruderer Waffen und die Milita­risierung der Gesell­schaft ausgezahlt hätten.

Vor allem zwei Typen kompetitiver Stra­tegien sollen den Gegner dazu bringen, sich auf unser »Spiel« einzulassen, Denial- und Cost-Imposing-Strategien: Denial-Strategien wollen dem Gegner die Fähigkeit nehmen, mit den vorhandenen militärischen Mitteln die angestrebten Ziele zu erreichen. Ideale Denial-Strategien ma­chen gegnerische Waf­fen­systeme obso­let, etwa wenn im Bereich Anti-Submarine-War­fare hochentwickelte eigene Ortungs- und Angriffsfähigkeiten die vermeintlich getarn­ten U‑Boote des Gegners verwundbar machen. Damit waren die USA im Ost-West-Konflikt erfolgreich.

Cost-Imposing-Strategien lassen die Kos­ten ansteigen, die ein Gegner für den Wett­bewerb aufbringen muss. Dies soll die Fort­setzung des Konflikts unattraktiv machen. Exportkontrollen etwa können den Stück­preis für Waffen erhöhen oder deren Quali­tät mindern. Cyberwaffen erzwingen den Aufbau teurer Defensivsysteme; und neue Offensivtechnologien (wie Stealth Ende der 1980er Jahre) können aufwendige Anpassungen bei Ab­wehrmaßnahmen auslösen.

Eine Cost-Imposing-Strategie, die auf der Basis eines Net Assessments gewählt wurde, war Ronald Reagans Entscheidung, an der Entwicklung des B1‑Langstreckenbombers festzuhalten. Aufgrund ihrer Obsession für Luftverteidigung gaben die Sowjets zehn­mal mehr für die Abwehr von Bombern aus, als die USA für die B1 einplanten. Das Bom­berprogramm fortzuführen, so die Logik, sei zwar militärisch nicht zwingend nötig, aber ein guter Weg, um Moskaus Kosten in die Höhe zu treiben: Der Kreml würde sein Geld in Defensivmaßnahmen investieren und könnte so sein »Spiel«, Offensivwaffen en masse, weniger erfolgreich umsetzen.

Die Frage der Institutionalisierung

Staatlicher Vorreiter bei Net Assessments sind die USA. Im Pentagon wurde 1973 das Office of Net Assessments (ONA) geschaffen. Fachleute attestieren ihm große Erfolge. Mit Bezug darauf haben die Verteidigungsministerien in Großbritannien (2018) und Australien (2023) Referate für Net Assessment eingerichtet, und die Nato hat ihre diesbezügliche Arbeitseinheit gestärkt. Die Trump-Regie­rung hielt ONA für unnötig und löste es im März 2025 auf – um es im Oktober nach Kritik wiederzubeleben.

Im deutschen Regierungsapparat fehlen Einheiten wie ONA. Der Planungsstab im Auswärtigen Amt befasst sich mit akuten Krisen und internationalen institutionellen Zukunftsfragen. Die Strategie- und Pla­nungs­referate und ‑ämter des Verteidigungsminis­teriums fragen, wo die Bundeswehr auf­holen muss, weil der Gegner so stark ist – nicht, wo dessen Schwachstellen liegen. Der Bun­des­nachrichtendienst klärt die Stärken und Schwächen jedes Gegners auf, diejenigen der eigenen Seite hingegen nicht.

Die diversen Expertise-Bausteine für Net Assessment wären in der Bundesregierung zwar vorhanden. Ohne Institutionalisierung findet die Integra­tion solcher Kompetenzen aber nicht statt, wie die Forschung zeigt. Die Frage, wo diese Analyse­einheit ange­sie­delt werden sollte, ist zweit­rangig. Ihr Er­folg basiert auf Zugängen und Unabhängig­keit. Die Stabsstelle Nationaler Sicherheitsrat im Kanzleramt läge daher nahe. Die Einheit im Büro des Verteidigungs­ministers oder des Generalinspekteurs zu installieren, könnte jedoch ebenso gut funk­tionieren.

Großes Potential für Deutschland

Die Bundesregierung sollte selbst Net Assess­ment praktizieren und nutzen. Die kompe­ti­tiven Strategien würden dann wohl meist im Verbund der Nato- und EU-Länder um­gesetzt. Net Assessments über Russland ver­sprechen besonders hohe Erträge.

Russlands Militärapparat ist groß, durchläuft eine tiefe Transformation und Moder­nisierung und steht durch den Ukrainekrieg stark unter Druck. Das sind Idealbedingungen für die Entstehung jener Dysfunktio­nalitäten und Ineffi­zienzen, die Net Assess­ments offenlegen.

Auch Russlands politisches System bietet gute Voraussetzungen. Weil der Clique Putins keine Vetospieler gegen­überstehen, schlagen ihre Biases und Fehlannahmen, etwa zur Resi­lienz der Ukrainer, voll auf Russlands Poli­tik durch. Ihre Toleranz für größte Bruta­lität (wie in Butscha) verprellt in Europa alte Sympathisanten und schweißt Euro­päer und Ukrainer zusammen: Das schwächt Moskaus Fähigkeit, mit militärischen Mit­teln außenpolitische Ziele zu errei­chen. Weil die Führung opportunistisch ist, kann sie zu »Gelegenheiten« – wie der Inter­vention in Syrien – nicht Nein sagen. Dies erleichtert es, Putins Russland mit Net As­sess­ment bzw. kompetitiven Strategien zu selbstschädigendem Verhalten zu verleiten.

Für Deutschland wäre es auch ein Mehrwert, die Grundhaltung dieses Ansatzes zu institutionalisieren. Immer wieder zu fra­gen, wo Europa im Wettbewerb steht, wo die Schwächen des Gegners liegen und wie sie gezielt ausgenutzt werden können, macht nicht nur die Priorisierung bei der Beschaf­fung leichter. Es ist das Mindset, um den militärischen Wettbewerb, den Putin den Europäern aufzwingt, aktiv zu Europas Vor­teil zu gestalten und friedlich auszutragen.

Zu Recht wird strategische Vorausschau in Berlin immer mehr beachtet, Wargaming ebenso. Genauso wichtig sollte aber das Nach­denken über jenes Szenario sein, das zeitlich vor dem Beginn eines Krieges liegt und zugleich das wahrscheinlichste ist: der kalte militärische Wettbewerb.

Dr. Jonas Schneider ist Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Das Aktuell entstand im Rahmen des Projekts STAND (Strategic Threat Analysis and Nuclear (Dis-)Order).

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