Systematisches Nachdenken darüber, wie ein »kalter« militärischer Wettbewerb (peacetime military competition) zum eigenen Vorteil gestaltet werden kann, ist im deutschen Regierungsapparat nicht institutionalisiert. Auch deshalb ist es in Deutschland unterentwickelt. Mit Russland befindet sich Deutschland aber in einem solchen Wettbewerb, und das dürfte so bleiben. In den USA wurden auf der Suche nach Ansätzen, um militärische Kräfteverhältnisse zulasten von Gegnern zu ändern, seit den 1970er Jahren sogenannte »Net Assessments« einflussreich: Analysen, die vielfältige Erkenntnisse einbeziehen – von historischen Traumata über industrielle Engpässe bis zu bürokratischen Dysfunktionalitäten – und die darauf abzielen, Schwachstellen des Gegners im militärischen Wettbewerb zu ermitteln. Damit zeigen sie Wege auf, wie diese Schwächen ausgenutzt werden können. Für Deutschlands strategische Aufstellung gegenüber Russland scheint Net Assessment ein vielversprechendes Instrument zu sein.
Sicherheitspolitisch steht Deutschland vor der Aufgabe, für einen langen militärischen Wettbewerb mit Russland »fit« zu werden. Beim Rüstungsoutput und Mobilisieren von Soldaten können Deutschland und Europa aber nicht mit Russland mithalten bzw. nur unter Bedingungen, die politisch unattraktiv sind, etwa Kriegswirtschaft. Wenn der kalte militärische Wettbewerb mit Moskau zahlenmäßig für die Europäer also kaum zu gewinnen ist, müssen sie ihren Vorteil in einer klügeren Politik suchen. Um ein ökonomisches Bonmot zu paraphrasieren: »If we can’t outnumber the Russians, we must outthink them.« Die Werkzeuge dafür sind wenig bekannt – es gibt sie aber.
Prämisse: Auch ohne Krieg findet militärischer Wettbewerb statt
Zu realisieren, dass sich das eigene Land bereits in einer Wettbewerbssituation befindet, ist zentral, um Strategien für diese Auseinandersetzung zu entwickeln.
Wenn Staaten einen geopolitischen Konflikt austragen, geschieht dies immer auch in Form eines militärischen Wettbewerbs. Das gilt offensichtlich nach dem Beginn von Kriegshandlungen, wie die Geschehnisse in der Ukraine zeigen. Aber auch wenn keine direkte kriegerische Auseinandersetzung besteht, wie zum Beispiel zwischen Nato-Europa und Russland, findet (neben anderen Arten der Austragung) ein militärischer Wettbewerb zwischen den Parteien statt, bloß eben ein »kalter« und kein »heißer«. Denn in beiden Zuständen ist das militärische Kräfteverhältnis – genauer: seine Wahrnehmung durch die Kontrahenten sowie durch Dritte – ein wesentlicher Faktor bei strategischen Entscheidungen, den Konflikt zu entschärfen oder zu verschärfen. Die military balance zu ihren eigenen Gunsten zu verschieben, sollte mithin die Absicht von Staaten sein, die sich in geopolitischen Rivalitäten befinden. So können sie ihrem Ziel, den Konflikt zu gewinnen (oder nicht zu verlieren), näher kommen.
Doch wie verschiebt man die Balance in solchen peacetime military competitions zu seinen Gunsten? Die Forschung darüber hat herausgearbeitet, dass Erfolg in geopolitischen Rivalitäten darauf gründet, dass das eigene Einflusspotential (leverage), sprich die Wettbewerbsposition, sukzessive ausgebaut wird: indem man sich 1) asymmetrische Vorteile gegenüber dem Gegner erarbeitet und 2) diesem Kosten auferlegt. Um relevante Asymmetrien, Vorteile und Kosten zu identifizieren, gibt es Net Assessments.
Net Assessment als Analyserahmen
Am besten lassen sich Net Assessments als ganzheitliche Perspektive zur Einschätzung militärischer Kräfteverhältnisse betrachten. Sie sind ein Analyserahmen – keine Methode, Theorie oder eigene Wissenschaft.
Net Assessments sollen Wissen dafür liefern, strategische Entscheidungen in einem militärischen Wettbewerb zu treffen. Sie helfen bei der Entwicklung oder Beschaffung passender Waffen, der Aufstellung (posture) der Streitkräfte, deren Einsatzdoktrin. Strategische Entscheidungen können ferner den Zugang zu Rohstoffen betreffen, Sanktionen, den Eintritt in Verhandlungen, die strategische Kommunikation oder das Auftragsprofil der Geheimdienste.
Der Netto-Aspekt im Namen speist sich aus zwei Merkmalen von Net Assessments. Erstens analysieren sie Zweierkonstellationen. Ein konkreter Gegner wird in Relation zu einem anderen Land oder Bündnis (zumeist dem eigenen) beurteilt, etwa das Kräfteverhältnis USA–China oder früher die Balance zwischen Nato und Warschauer Pakt. Zweitens wird das Verhältnis als Reihe von Interaktionen gedacht: Was ist das Netto-Resultat eines Vorgehens, wenn auch die Reaktion des Gegners, die eigene Antwort darauf usw. mitkalkuliert werden?
Die für das Verstehen und Beurteilen der Zweierbeziehung analysierten Aspekte sind vielfältig und unterliegen explizit keiner Begrenzung. Alle Faktoren, die sich auf das militärische Kräfteverhältnis auswirken, gelten als relevant; neben den Militärkapazitäten etwa auch ökonomische, demographische oder geographische Gegebenheiten. Besondere Aufmerksamkeit erfahren in Net Assessments – und darin bestand historisch ihr Mehrwert gegenüber konventionellen Ansätzen wie Operations Research, Systemanalysen und bloßem Zählen von Waffensystemen – aber Faktoren, die Staaten von einer nutzenmaximierenden Politik abhalten und suboptimales Handeln hervorrufen. Dazu gehören bürokratische Eigenlogiken großer Militärapparate, Ineffizienzen historisch gewachsener Institutionen (etwa bei der Rüstung), Biases in der Perzeption als Folge einer strategischen Kultur, dysfunktionale Prozesse oder ein überproportionaler Einfluss persönlicher Präferenzen.
Net Assessments fragen also dreierlei: 1) Wie konkurrieren zwei Akteure durch die Brille ihrer spezifischen Präferenzen, strategischen Kulturen, Institutionen und bürokratischen Dynamiken militärisch miteinander? 2) Welche Dinge begrenzen dabei ihre militärische Effektivität? 3) Wie fällt das Kräfteverhältnis aus, auch künftig? Dies zu beantworten, erfordert relevante Länderexpertise von großer Tiefe – über den Gegner und auch das eigene Land.
Ein Beispiel für derartiges Spezialwissen über suboptimales Verhalten liefert ein Net Assessment des Pentagons aus den 1970er Jahren: Die Analyse besagte, dass die Sowjetelite durch den Blitzkrieg der Luftwaffe 1941 traumatisiert worden sei und in der Folge eine Art Obsession für Luftverteidigung entwickelt habe. Diese lasse Moskau unverhältnismäßig auf Bedrohungen durch Bomber und Flugkörper reagieren. Zudem untergrüben die Politisierung der sowjetischen Forschung sowie bürokratische Rivalitäten die Effektivität der eingesetzten Luftverteidigung. Einsichten wie diese machen Net Assessments enorm wertvoll.
Die Unterschiede zwischen Kontrahenten sind besonders interessant. Net Assessments gehen nicht davon aus, dass der Gegner irrational agiert, die eigene Seite aber weise. Die Prämisse lautet eher, dass beide Parteien Probleme haben, nutzenmaximiert militärisch zu konkurrieren – nur sind die Probleme meist unterschiedlich geartet.
Beispielsweise stellte die Ressourcenextraktion, das heißt die Militarisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, Regierungen der USA in Friedenszeiten wegen der liberalen Tradition und der Gewaltenteilung vor Hürden. Der Kreml hatte diese Sorge in einem autoritären System kaum. Umgekehrt lieferten das Wachstum der US-Wirtschaft und ihre Produktivität Ressourcen für den militärischen Wettstreit, über die Moskau nie verfügte. Im Sowjetsystem schufen auch die Zentralisierung und der Einfluss des Militärs auf Beschaffungsprioritäten größere Probleme. In den USA boten das Primat der Politik und die Forschungslandschaft ein besseres Umfeld für militärische Innovation als in der Sowjetunion.
Um derartige Asymmetrien zu erkennen, helfen Gegenüberstellungen: Nebeneinander-Vergleiche (side-by-side) kontrastieren den gleichen Faktor, zum Beispiel die Luftverteidigungsgeschütze Polens mit denen Russlands. Gegeneinander-Vergleiche (head-to-head) fragen stattdessen nach der Interaktion, etwa: Wie würde die Kampfbomberflotte der Nato gegen Russlands integrierte Luftverteidigung abschneiden?
Net Assessments diagnostizieren solche ungleich verteilten Stärken und Schwächen nur; in der Folge können diese Asymmetrien jedoch gezielt ausgenutzt werden, um das militärische Kräfteverhältnis zu verändern. Die Operationalisierung dieser Aufgabe des systematischen Ausnutzens erfolgt mit sogenannten wettbewerbsorientierten Strategien bzw. competitive strategies.
Von der Schwachstellenanalyse zum Plan: Competitive Strategies
Wettbewerbsorientierte Strategien haben den Zweck, die Auseinandersetzung in Bahnen zu lenken, in denen die eigenen Vorteile bestmöglich zum Tragen kommen, sowie jene Bereiche des Wettbewerbs einzufrieren, in denen der Gegner besser aufgestellt ist. Der Gegner soll also unser »Spiel« spielen. So bestand die von den USA angestrebte Art des Wettstreits mit der Sowjetunion in einem qualitativen militärischen Ringen, bei dem Amerika seine Innovationskraft und seinen Technologievorsprung ausspielen konnte. Moskaus »Spiel« wäre ein quantitatives Wettrüsten gewesen, bei dem sich die Massenproduktion kruderer Waffen und die Militarisierung der Gesellschaft ausgezahlt hätten.
Vor allem zwei Typen kompetitiver Strategien sollen den Gegner dazu bringen, sich auf unser »Spiel« einzulassen, Denial- und Cost-Imposing-Strategien: Denial-Strategien wollen dem Gegner die Fähigkeit nehmen, mit den vorhandenen militärischen Mitteln die angestrebten Ziele zu erreichen. Ideale Denial-Strategien machen gegnerische Waffensysteme obsolet, etwa wenn im Bereich Anti-Submarine-Warfare hochentwickelte eigene Ortungs- und Angriffsfähigkeiten die vermeintlich getarnten U‑Boote des Gegners verwundbar machen. Damit waren die USA im Ost-West-Konflikt erfolgreich.
Cost-Imposing-Strategien lassen die Kosten ansteigen, die ein Gegner für den Wettbewerb aufbringen muss. Dies soll die Fortsetzung des Konflikts unattraktiv machen. Exportkontrollen etwa können den Stückpreis für Waffen erhöhen oder deren Qualität mindern. Cyberwaffen erzwingen den Aufbau teurer Defensivsysteme; und neue Offensivtechnologien (wie Stealth Ende der 1980er Jahre) können aufwendige Anpassungen bei Abwehrmaßnahmen auslösen.
Eine Cost-Imposing-Strategie, die auf der Basis eines Net Assessments gewählt wurde, war Ronald Reagans Entscheidung, an der Entwicklung des B1‑Langstreckenbombers festzuhalten. Aufgrund ihrer Obsession für Luftverteidigung gaben die Sowjets zehnmal mehr für die Abwehr von Bombern aus, als die USA für die B1 einplanten. Das Bomberprogramm fortzuführen, so die Logik, sei zwar militärisch nicht zwingend nötig, aber ein guter Weg, um Moskaus Kosten in die Höhe zu treiben: Der Kreml würde sein Geld in Defensivmaßnahmen investieren und könnte so sein »Spiel«, Offensivwaffen en masse, weniger erfolgreich umsetzen.
Die Frage der Institutionalisierung
Staatlicher Vorreiter bei Net Assessments sind die USA. Im Pentagon wurde 1973 das Office of Net Assessments (ONA) geschaffen. Fachleute attestieren ihm große Erfolge. Mit Bezug darauf haben die Verteidigungsministerien in Großbritannien (2018) und Australien (2023) Referate für Net Assessment eingerichtet, und die Nato hat ihre diesbezügliche Arbeitseinheit gestärkt. Die Trump-Regierung hielt ONA für unnötig und löste es im März 2025 auf – um es im Oktober nach Kritik wiederzubeleben.
Im deutschen Regierungsapparat fehlen Einheiten wie ONA. Der Planungsstab im Auswärtigen Amt befasst sich mit akuten Krisen und internationalen institutionellen Zukunftsfragen. Die Strategie- und Planungsreferate und ‑ämter des Verteidigungsministeriums fragen, wo die Bundeswehr aufholen muss, weil der Gegner so stark ist – nicht, wo dessen Schwachstellen liegen. Der Bundesnachrichtendienst klärt die Stärken und Schwächen jedes Gegners auf, diejenigen der eigenen Seite hingegen nicht.
Die diversen Expertise-Bausteine für Net Assessment wären in der Bundesregierung zwar vorhanden. Ohne Institutionalisierung findet die Integration solcher Kompetenzen aber nicht statt, wie die Forschung zeigt. Die Frage, wo diese Analyseeinheit angesiedelt werden sollte, ist zweitrangig. Ihr Erfolg basiert auf Zugängen und Unabhängigkeit. Die Stabsstelle Nationaler Sicherheitsrat im Kanzleramt läge daher nahe. Die Einheit im Büro des Verteidigungsministers oder des Generalinspekteurs zu installieren, könnte jedoch ebenso gut funktionieren.
Großes Potential für Deutschland
Die Bundesregierung sollte selbst Net Assessment praktizieren und nutzen. Die kompetitiven Strategien würden dann wohl meist im Verbund der Nato- und EU-Länder umgesetzt. Net Assessments über Russland versprechen besonders hohe Erträge.
Russlands Militärapparat ist groß, durchläuft eine tiefe Transformation und Modernisierung und steht durch den Ukrainekrieg stark unter Druck. Das sind Idealbedingungen für die Entstehung jener Dysfunktionalitäten und Ineffizienzen, die Net Assessments offenlegen.
Auch Russlands politisches System bietet gute Voraussetzungen. Weil der Clique Putins keine Vetospieler gegenüberstehen, schlagen ihre Biases und Fehlannahmen, etwa zur Resilienz der Ukrainer, voll auf Russlands Politik durch. Ihre Toleranz für größte Brutalität (wie in Butscha) verprellt in Europa alte Sympathisanten und schweißt Europäer und Ukrainer zusammen: Das schwächt Moskaus Fähigkeit, mit militärischen Mitteln außenpolitische Ziele zu erreichen. Weil die Führung opportunistisch ist, kann sie zu »Gelegenheiten« – wie der Intervention in Syrien – nicht Nein sagen. Dies erleichtert es, Putins Russland mit Net Assessment bzw. kompetitiven Strategien zu selbstschädigendem Verhalten zu verleiten.
Für Deutschland wäre es auch ein Mehrwert, die Grundhaltung dieses Ansatzes zu institutionalisieren. Immer wieder zu fragen, wo Europa im Wettbewerb steht, wo die Schwächen des Gegners liegen und wie sie gezielt ausgenutzt werden können, macht nicht nur die Priorisierung bei der Beschaffung leichter. Es ist das Mindset, um den militärischen Wettbewerb, den Putin den Europäern aufzwingt, aktiv zu Europas Vorteil zu gestalten und friedlich auszutragen.
Zu Recht wird strategische Vorausschau in Berlin immer mehr beachtet, Wargaming ebenso. Genauso wichtig sollte aber das Nachdenken über jenes Szenario sein, das zeitlich vor dem Beginn eines Krieges liegt und zugleich das wahrscheinlichste ist: der kalte militärische Wettbewerb.
Dr. Jonas Schneider ist Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Das Aktuell entstand im Rahmen des Projekts STAND (Strategic Threat Analysis and Nuclear (Dis-)Order).
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DOI: 10.18449/2025A47