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Militärische und patriotische Erziehung in Russland

Kommende Generationen werden auf Regimelinie gebracht

SWP-Aktuell 2025/A 46, 30.10.2025, 8 Seiten

doi:10.18449/2025A46

Forschungsgebiete

Seit 2022 hat Russlands Führung ihre Aktivitäten zur patriotischen und militärischen Erziehung von Kindern und Jugendlichen noch einmal massiv ausgeweitet. Das gilt sowohl für verpflichtende Maßnahmen als auch für Freiwilligenangebote. Trotz einer vordergründigen Vielfalt an Programmen und beteiligten Akteuren stehen diese unter strikter Kontrolle des Kremls. Dessen Ziel ist, die nächste Generation im Sinne der politischen Führung zu erziehen, loyalen Nachwuchs für Regime und Militär zu rekrutieren und kritische Individuen frühzeitig zu identifizieren. Die Maßnahmen erfassen eine wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen und reichen mittler­weile bis in die Kindergärten hinein. Die Betroffenen reagieren darauf mit einer Mischung aus Begeisterung, Indifferenz und Opportunismus. Offener Widerstand ist aufgrund eines hohen Konformitätsdrucks und des repressiven Charakters des Regimes nur punktuell festzustellen.

Zwar ist schon seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zu beobachten, dass militärisch-patriotische Elemente in Russlands Bildungspolitik zunehmen. Unter Wladimir Putin wurden diese jedoch systematisch zu zentralen Mitteln ausgebaut, mit denen die jüngere Generation ideologisch erfasst wer­den soll.

Einen besonderen Schub erfuhren die militärisch-patriotischen Programme im Jahr 2014, nachdem Russland die Krim annektiert hatte und in den Donbas ein­marschiert war. Die Vollinvasion in der Ukraine von 2022 wirkte dann als weiterer Katalysator. Seither wurden Anzahl und Umfang der Programme, deren Finanzierung sowie der Erfassungsgrad von Kindern und Jugendlichen noch einmal deutlich ausgeweitet. Gestärkt wurde dabei insbe­sondere die paramilitärische Komponente der betreffenden Projekte.

Hauptziele: Loyalität und Rekrutierung

Kernbestandteile der militärisch-patrioti­schen Erziehung sind die Interpretation der eigenen Geschichte als permanenter, ruhm­reicher Abwehrkampf gegen äußere – primär aus dem Westen stammende – Bedrohungen, das Selbstbild Russlands als belagerte Festung und die Glorifizierung seines Militärs. Postuliert wird zudem die Existenz einer eigenständigen russischen »Zivilisation«, die in klarer Abgrenzung zu westlich-liberalen Werten definiert wird. Zum eigenen Kanon gehören traditionelle Vorstellungen von Familie, Opferbereitschaft, Heldentum und Loyalität zur Füh­rung, wobei individuelle Interessen denen der Gemeinschaft unterzuordnen sind.

Die russische Führung verfolgt dabei drei Ziele. Erstens geht es darum, die Loyalität der jungen Generation für das Regime zu gewinnen und dieses damit langfristig ab­zusichern. Dem Kreml reicht es nicht, dass die Jugendlichen seinen innen- und außen­politischen Kurs generell mittragen. Viel­mehr sollen sie – über konformistisches Denken hinaus – auch für konkrete Vor­haben des Regimes mobilisierbar sein. Der Krieg gegen die Ukraine und die Konfrontation mit Europa spielen hier eine zentrale Rolle. So rekurrierte Putin bei einer Presse­konferenz am 14. Dezember 2023 auf ein angebliches Bismarck-Zitat, wonach »Kriege nicht durch Kämpfer, sondern durch Lehrer und Priester gewonnen werden«. Damit habe Bismarck vollkommen recht gehabt, so Putin. »Junge Menschen im Sinne des Patriotismus zu erziehen … ist entscheidend.«

Für das Lehrpersonal und ältere regimetreue Jugendliche sind die Maßnahmen zudem eine Möglichkeit, kritische Stimmen leichter zu identifizieren. Dies erhöht die Fähigkeiten des Staates, individuelle Repres­sion gezielt einzusetzen. So führt das »Ros­patriotzentr«, eine Einrichtung der staat­lichen Jugendbehörde, Profiling-Tests an Jugendlichen zwischen 12 und 18 Jahren durch, um »Führungs- und Anti-Führungs­figuren« zu erkennen. In den besetzten Gebieten der Ukraine wiederum dienen die Programme auch dazu, die ukrainische Identität von Kindern und Jugendlichen auszulöschen und sie zu loyalen Staats­angehörigen Russlands zu erziehen.

Zweitens können über die patriotisch-militärischen Aktivitäten loyale Nachwuchskader für das Regime identifiziert und entsprechend gefördert werden. So veranstaltet die »Bewegung der Ersten« einen Wettbewerb mit dem Titel »Sein, nicht scheinen!«, an dem Mentor:innen ab 16 Jahren teilnehmen und sich im Sinne des Systems bewähren können. Die von der Präsidialverwaltung 2018 gegründete Karriereplattform »Russland – Land der Möglichkeiten« führt im Trainingszentrum »Senesch« regelmäßig Wettbewerbe für künftige Führungskräfte durch. Zu den prominentesten Aufsteiger:innen gehört Olga Zanko. Sie hatte 2015 mit 25 Jahren die Organisation »Freiwillige des Sieges« mitbegründet und wurde 2021 Duma-Abgeordnete.

Drittens haben die Programme den Zweck, Nachwuchs für das Militär zu rekru­tieren. Um Russlands Streitkräfte auf die Zielgröße von 1,5 Millionen Männer und Frauen bringen zu können und genügend Personal für den Krieg gegen die Ukraine zu gewinnen, ist es für das Regime wichtig, Schülern militärische Grundfähigkeiten, ein positives Bild der Streitkräfte und Werte wie Opferbereitschaft oder Heldentum zu vermitteln. Ziel ist es, eine militarisierte Generation heranzuziehen, für die Armee­dienst und Krieg normale Bestandteile des Lebens sind. Darüber hinaus eröffnen die patriotisch-militärischen Programme dem Kreml eine einfache Möglichkeit, um Kriegsveteranen in Aktivitäten des Regimes einzubinden, etwa durch Besuche an Schu­len. Die Rückkehr Hunderttausender ge­walterfahrener Männer aus der Ukraine, die teils an gutes Gehalt gewöhnt sind, stellt eine Her­ausforderung für Putins System dar. Sie zu Multiplikatoren der patriotisch-militäri­schen Erfassung der nächsten Gene­ration zu machen ist ein Weg, um ihnen Wertschätzung, Prestige und Einkommen zu geben.

Abgesehen vom Nutzen für das System weist die militärisch-patriotische Erziehung in Russland auch eine ideologische Kompo­nente auf. Zwar verbietet es Artikel 13 der russischen Verfassung, eine staatliche Ideo­logie festzulegen, doch während Putins Herrschaft haben sich Elemente einer sol­chen herauskristallisiert. Die militärisch-patriotischen Erziehungsmaßnahmen kön­nen als Beitrag dazu gesehen werden. So kehrt Russlands Führung immer stärker zu bestimmten Grundlagen des sowjetischen Systems zurück, obwohl Artikel 13 genau dies verhindern sollte.

Diversität der Maßnahmen

Das Regime setzt bei der militärisch-patrio­tischen Erziehung auf eine Vielzahl an Maßnahmen. Sie unterscheiden sich im Charakter (Pflicht oder Freiwilligkeit), dem inhaltlichen Fokus und der Zielgruppe (Alter, Geschlecht).

So gibt es Maßnahmen, die für alle Schüler:innen sowie für Hochschulstudierende verpflichtend sind. Sie basieren auf einem einheitlichen Lehrstoff. Parallel dazu wird eine ganze Bandbreite außerschulischer Aktivitäten angeboten, die formal auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruhen, wenngleich impliziter Druck durch das Sys­tem sowie praktische Aspekte, etwa man­gelnde alternative Ferienbetreuungsmöglichkeiten, die Entscheidungsfreiheit des Individuums begrenzen. Die außerschulischen Maßnahmen lassen unterschiedliche Schwerpunkte zu, was den Kindern und Jugendlichen innerhalb des eng begrenzten ideologischen Angebots vordergründig eine Auswahl gibt und es erlaubt, das Netz der Erfassung möglichst weit auszuwerfen. Hin­zu kommt, dass junge Russ:innen auch auf anderen Kanälen, etwa in der Popkultur oder der Gaming-Welt, permanent mit ähn­lichen Inhalten in Kontakt kommen.

Bis zur Vollinvasion in der Ukraine rich­tete sich die patriotisch-militärische Erzie­hung vor allem an Schüler:innen, Jugendliche und junge Erwachsene. Im Oktober 2024 jedoch drängte Putin darauf, entsprechende Aktivitäten auch in Kindergärten durchzuführen, so etwa Besuche von Vete­ranen, Teilnahme an Paraden oder propa­gandistische Vorträge. Bei den Maßnahmen ist zugleich eine ideologische Komponente hinsichtlich des Geschlechterverhältnisses festzustellen. Während sich die paramilitärischen Teile primär an Jungen richten, spielen Mädchen stärker in jenen Programmsegmenten eine Rolle, bei denen es um »zivile« Fähigkeiten geht. Mädchen wird vermittelt, dass sie prinzipiell alle Berufe ansteuern könnten, die Mutterrolle – im Einklang mit dem traditionellen Rollenbild – jedoch am erstrebenswertesten sei.

An der Planung und Durchführung der Maßnahmen sind eine Vielzahl staatlicher und staatsnaher Organisationen beteiligt. Diese reichen vom Bildungsministerium und der staatlichen Jugendbehörde »Ros­molodjosch« über das Verteidigungsministerium bis hin zu Kosakengruppierungen, Veteranenorganisationen oder formal priva­ten »Militärfirmen«. Die Söldnergruppierung Wagner etwa gründete den Jugendclub »Wagnerjanok« und führte Rekrutierungsgespräche in Schulen, während andere einschlägige Firmen wie E.N.O.T. paramilitärische Jugendlager organisierten.

Dass viele Akteure an der patriotisch-militärischen Erfassung der jungen Gene­ration beteiligt sind, spiegelt ein typisches Management- und Kontrollsystem des Kremls wider. So werden die Kosten der Maßnahmen auf vielen Schultern verteilt, während sichergestellt ist, dass keiner der beteiligten Akteure einen übermäßigen Zugewinn an Finanzmitteln oder Einfluss erzielen kann. Durch Überlappungen, Dup­lizierungen und Konkurrenz bleibt nach dem Prinzip von »divide et impera« die Kon­trolle des Kremls gewährleistet. So zielen die Maßnahmen zwar auf eine Militarisierung der Gesellschaft, das Verteidigungsministerium ist dabei aber nur ein wichti­ger, nicht der alleinige Akteur. Der in Russ­land entstandene Militarismus wird vom Kreml geprägt; eine stärkere Autonomie des Militärs geht damit nicht einher.

Pflichtfächer

Zu Beginn des Schuljahres 2022 wurde das Fach »Gespräche über Wichtiges« eingeführt. Auch wenn es nicht als offizielles Schulfach gilt und keine Zensuren vergeben werden, wird es als verpflichtend wahrgenommen und erstreckt sich auf alle elf Jahr­gangsstufen. Pro Woche gibt es ein Thema, das je nach Alter der Kinder und Jugendlichen behandelt wird. Die »Gespräche über Wichtiges« werden montags in der ersten Stunde durchgeführt, in der Regel direkt nach einer (ebenfalls 2022 neu eingeführten) Zeremonie, bei der die russische Flagge gehisst und die Nationalhymne des Landes gesungen wird.

Der Stoff lehnt sich oft an Feiertage an, wie zum Beispiel den Frauentag (8. März), den Jahrestag des Sieges im Großen Vater­ländischen Krieg (9. Mai) oder den Tag der Einheit der Völker von Russland und Bela­rus (2. April). Die Themen sind vielfältig und decken unter anderem Geographie, Geschichte, Kultur und gesellschaftliche Pflichten ab. Dabei weisen die meisten einen starken oder gar ausschließlichen Be­zug zu Russland auf.

Die Inhalte für die »Gespräche über Wichtiges« werden vom russischen Bil­dungsministerium organisiert, unter Mit­wirkung des Instituts für das Studium von Kindheit, Familie und Erziehung (kurz Institut für Erziehung genannt). Es gibt sehr detaillierte Materialien für jede Stunde, mit Fragen an die Schüler:innen und Antworten der Lehrkraft darauf, methodologischen Empfehlungen sowie einer Reihe von Videos und interaktiven Vorschlägen. Der Einsatz dieser Materialien ist zwar nicht verpflichtend, erleichtert aber den oft über­forderten Lehrenden die Aufgabe und macht es wahrscheinlicher, dass sie keine Probleme wegen ihrer Aussagen oder Lehr­methoden erfahren.

Die »Gespräche über Wichtiges« entwickeln sich immer mehr zum festen Bestand­teil des Bildungssystems. Sie wurden auf Berufsschulen ausgedehnt, und in Kindergärten gab es entsprechende Pilotprojekte. Seit dem Schuljahr 2024/25 veranstaltet das Institut für Erziehung auch einen Wett­bewerb im Rahmen der »Gespräche«, um deren Nutzen als pädagogisches Instrument zu unterstreichen.

Zudem wurde der Sportunterricht ab September 2023 stärker auf paramilitärische Zwecke ausgerichtet. Seitdem müssen Schüler ein verpflichtendes »militärisches Grundlagentraining« absolvieren. Hinzu kommt seit 2024 das Fach »Grundlagen von Sicherheit und Verteidigung des Vaterlandes« (früher: »Grundlagen der Lebens­sicher­heit«), bei dem es unter anderem um den Umgang mit Drohnen geht.

Da die Pflichtveranstaltungen in den Schulen teilweise als langweilig gelten, setzt das Regime darauf, sie durch inter­aktivere Formate zu ergänzen. So kommen Veteranen an die Schulen bzw. Schüler:in­nen besuchen Veteranen zu Hause, tragen zur Erhaltung von Kriegsdenkmälern bei oder schreiben Briefe an kämpfende Solda­ten. Durch Storytelling und Rollenspiele sollen die Kinder und Jugendlichen selbst in den Part von »guten Patrioten« schlüpfen können.

Durch die neu eingeführten und umgemünzten Fächer widmen sich immer mehr Schulstunden patriotisch-militärischen Inhalten. Dies schafft zusätzliche Belastungen für die Lehrenden, während weniger Zeit für traditionelle Schulfächer bleibt. Der Wert des Englischen und weiterer Fremdsprachen wird etwa zunehmend in Frage gestellt.

Auf Hochschulebene gibt es seit Herbst 2023 für Studierende im ersten Semester den Pflichtkurs »Grundlagen russländischer Staatlichkeit«. Er wird als Vorlesung gestal­tet und hebt insbesondere auf Russland als »Staat-Zivilisation« ab, die eine besondere historische Rolle gespielt habe (und weiter­hin spiele) und von bestimmten (vor allem kollektiven) Werten geprägt werde. Der Kurs wird durch eine Serie obligatorischer Videos begleitet, die vom Projekt »Die DNA Russlands« stammen. Letzteres wird von Andrej Polosin geleitet, derzeit Vize-Rektor der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst (RANEPA), die dem russischen Präsidenten unterstellt ist. Polosin ist eng verbunden mit Sergej Kirijenko, dem stellvertretenden Leiter der Präsidialadministration, den er als seinen Mentor bezeichnet.

Die Serie an Filmen wird auf der Website von »DNA Russlands« dargestellt als »ein Zyklus von Videos patriotischen Inhalts, der auf den Kampf gegen die Verfälschung von Geschichte [und auf] die Popularisierung des kulturellen Erbes und traditioneller Werte gerichtet ist«. Die Videos decken ein breites Panorama an Themen ab, von Wer­tebegriffen wie Solidarität, Stabilität und Spiritualität über russische Regionen und Reichtümer bis hin zu politischen und historischen Sachverhalten.

Zudem gibt es ein Lehrbuch für den Kurs, das russische Wissenschaftler:innen unterschiedlich bewerten. Es wird allerdings davon ausgegangen, dass die meisten Studierenden das Buch ohnehin nicht ver­wenden, zumal es nicht gern gesehen wird, jemanden bei diesem Kurs durchfallen zu lassen. Insbesondere Studierende außerhalb der Sozial- und Geisteswissenschaften sol­len wenig Interesse an der Veranstaltung haben. Auch wenn man sich bemüht hat, zügig Lehrende für den Kurs auszubilden, erweist sich diese Aufgabe als schwierig.

Wie im Fall der »Gespräche über Wich­tiges« hängt viel vom Ansatz der betreffenden Lehrkraft ab. Der Kurs wird übrigens von manchen Lehrenden als eine Art Fort­setzung der »Gespräche« auf Hochschul­niveau wahrgenommen. Andere ziehen eher Parallelen zum Fach »Wissenschaft­licher Kommunismus« der Sowjetzeit.

Außerschulische Maßnahmen

Russlands Führung setzt darauf, dass militä­risch-patriotische Botschaften nicht allein durch die staatlichen Pflichtprogramme verbreitet werden. Vielmehr sollen Kinder auch durch Aktivitäten im außerschulischen Umfeld permanent erreicht werden. Daher wurden der finanzielle Umfang sowie die Zahl der entsprechenden Organi­sationen und Maßnahmen seit 2022 noch einmal stark ausgeweitet.

Zu den wichtigsten noch vor der Voll­invasion gegründeten Organisationen gehö­ren die »Freiwilligen des Sieges« (wolontjory pobedy) sowie die »Jugendarmee« (jun­armija). Die »Freiwilligen des Sieges« gehen auf eine 2015 ins Leben gerufene Initiative zurück, die Aktivitäten zur Erinnerung an den 70. Jahrestag des russischen Sieges im Zweiten Weltkrieg durchführte. Danach wurde die Freiwilligenorganisation institu­tionalisiert. Jugendliche ab 14 Jahren ver­anstalten Gedenkaktionen, pflegen und restaurieren Kriegsgräber sowie Denkmäler, unterstützen Veteranen und organisieren patriotisch-historische Vorträge und Wett­bewerbe. Dabei wird Russlands Geschichte als langer, ruhmreicher Abwehrkampf dargestellt, dessen Helden der heutigen Generation als Vorbild dienen sollen.

Während die »Freiwilligen des Sieges« vor allem der patriotischen Erziehung der Jugend dienen, konzentriert sich die »Jugendarmee« stärker auf paramilitärische Ausbildung. 2016 vom damaligen Verteidigungsminister Sergej Schoigu gegründet, ist sie eng mit dem Militär verwoben. So finan­ziert das Verteidigungsministerium die »Jugendarmee« und ernennt deren Kom­mandeur. Aktuell ist dies Wladislaw Golo­win, der wegen seiner Beteiligung an der Eroberung der ukrainischen Stadt Mariupol mit dem Titel »Held Russlands« ausgezeichnet wurde. Viele der Ausbilder sind aktive Soldaten oder Veteranen. Dementsprechend konzentrieren sich die Maßnahmen der »Jugendarmee« darauf, Kindern und Jugend­lichen zwischen 8 und 18 Jahren nicht nur ein positives Bild der Streitkräfte und Werte wie Opferbereitschaft und Heldenmut zu vermitteln, sondern auch praktische mili­tärische Fähigkeiten. Zu den Aktivitäten gehören Marschtraining, Sportarten wie Ringen und Nahkampf, Navigation, die medizinische Behandlung von Verwundeten sowie Waffenkunde und -training. Ge­übt wird etwa, wie man eine Handgra­nate wirft oder das Sturmgewehr Kalaschni­kow zusammenbaut.

Nach der Vollinvasion wurde 2022 auf Initiative Putins eine weitere Großorganisation gegründet, die »Bewegung der Ersten« (dwischenije perwych). Sie knüpft bewusst an die Pioniere der Sowjetzeit an und ist thematisch breiter als die beiden anderen Organisationen aufgestellt. Die »Bewegung der Ersten« verbindet patriotische Maßnahmen wie das Schmücken von Fenstern an Feiertagen mit aktiver politischer, medi­a­ler und kultureller Arbeit. So werden Tref­fen mit hochrangigen Politikern abgehalten, wobei Putin persönlich auf Kongressen der Organisation auftritt. Die Bewegung hat eigene Medienkanäle, bei denen Kinder und Jugendliche PR-Arbeit im Sinne des Regimes erlernen. Auch kulturelle Festivals folgen den Inhalten der Führung. Zudem werden paramilitärische Elemente angebo­ten, wie die Übung »Sarnitsa 2.0«, die ur­sprünglich aus der Sowjetzeit stammt und erst seit dem letzten Jahr wieder jährlich stattfindet. Nachdem 2024 daran 800.000 Kinder teil­genommen hatten, sollen es 2025 angeblich schon 3,1 Millionen gewe­sen sein.

Die Vielzahl an Organisationen dient dazu, ein breites Netz auszuwerfen, um Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Neigungen anzusprechen. Während die Pflichtmaßnahmen im schulischen Be­reich didaktisch eher traditionell ausfallen, werben die außerschulischen Organisationen mit größerer Methodenvielfalt und dem Versprechen auf Abenteuer wie Ge­mein­schaft. So setzt »Milentainment« dar­auf, dass die Teilnehmenden eigene, hoch­gra­dig emotionalisierte Erfahrungen sammeln und sich selbst als Helden des Vaterlandes füh­len können. Dazu tragen Reenactment-Rollenspiele bei, ebenso immersive Akti­vitäten wie Videospiele oder simulierte Kriegsszenarien wie in der erwähnten Übung »Sarnitsa 2.0«, in der sich Kinder und Jugendliche als Sanitäter, Kommandeure oder Drohnenoperateure erproben können. Dieselbe Wirkung hat, dass Mit­glieder der »Jugendarmee« eine eigene Uniform tragen, aus Feldküchen verpflegt werden und Erlebnisse aus erster Hand von Veteranen des Krieges gegen die Ukraine hören. Darüber hinaus werden Mentor:in­nen eingesetzt, die als Rollenmodelle »guter Patrioten« dienen und Kinder und Jugendliche in emotionale Bande jenseits der Fami­lie einweben sollen.

Zwar gehört die klassische Familie zum Kern der sogenannten traditionellen Werte, die Russlands Führung permanent be­schwört. Zugleich greift das Regime immer stärker in die Erziehung des Nachwuchses ein. Dies betrifft nicht nur die Ausbildung spezifischer Fähigkeiten, sondern vor allem den Bereich der Wertevermittlung. Der Familie wird damit eher die Funktion eines emotionalen Stabilitätsankers zugewiesen. Eltern, die sich gegen die militärisch-patriotische Erfassung ihrer Kinder stellen, riskie­ren Repressionen.

Wahrnehmbare, aber begrenzte Kritik

Nach Meinungsumfragen in der russischen Bevölkerung ist die Alterskohorte der 18- bis 24-Jährigen am kritischsten gegenüber der aktuellen Außenpolitik des Regimes eingestellt. Insbesondere der Krieg gegen die Ukraine wird von dieser Gruppe negativ beurteilt. Allerdings ist auch das Interesse an dem Krieg unter jüngeren Men­schen am geringsten. Es herrscht also eine Mischung aus Ablehnung und Apathie. Dennoch ist davon auszugehen, dass die kritischen Meinungen in dieser Altersgruppe einen Teil der Motivation von Russlands Führung ausmachen, die nachwachsende Generation durch die beschriebenen Maß­nahmen zu beeinflussen. Wie erfolgreich das Regime damit ist, lässt sich allerdings nicht leicht messen bzw. evaluieren.

Was die »Gespräche über Wichtiges« betrifft, so haben sie sich nach drei Jahren eingebürgert; sie genießen weitgehende Akzeptanz oder werden zumindest gedul­det. Dennoch finden sich Hinweise auf unterschiedliche Bemühungen von Eltern, ihre Kinder von dem Fach befreien zu las­sen – ob entsprechende Eingaben an die Schule gemacht, informelle Absprachen mit Lehrkräften getroffen oder konkurrierende Aktivitäten organisiert werden. Manche Eltern versuchen, ihre Kinder in eine Klasse zu geben, von der sie wissen, dass die betreffende Lehrkraft die ideologischen Inhalte herunterspielt.

Zwar gibt es Berichte, wonach Lehrende entlassen wurden, weil sie sich geweigert hatten, »Gespräche über Wichtiges« mit den Kindern zu führen, doch handelt es sich hier wohl eher um Ausnahmefälle. Aller­dings hatten einige Lehrer:innen aufgrund ihrer Einstellung zum russischen Krieg gegen die Ukraine bereits früher ihre Stelle verloren bzw. von sich aus gekündigt. Man­che Lehrkräfte reden anscheinend anders über die Inhalte, als die Materialien es vor­geben, oder ziehen das jeweilige Thema anders auf.

Wohlgemerkt sind solche Versuche, die »Gespräche über Wichtiges« zu umgehen bzw. inhaltlich zu modifizieren, bisher nur auf der individuellen Ebene einzelner Fami­lien bzw. Lehrkräfte (seltener einer ganzen Schule) erfolgt und haben keinen organisierten Charakter angenommen. Es ist also davon auszugehen, dass die meisten Kinder an diesen Klassen teilnehmen, ohne dass die Inhalte signifikant infrage gestellt wer­den. Manche Eltern setzen allerdings dar­auf, dass sie zuhause andere Schwerpunkte vermitteln bzw. gegensätzliche Meinungen vertreten können.

Die Reaktionen auf »Grundlagen russländischer Staatlichkeit« sind zweigeteilt, aber auch der Universitätskurs wird von seinen Kritiker:innen wohl eher als notwen­diges Übel gesehen. Es gibt kaum Berichte über Studierende, die sich weigern, die Vorlesung zu besuchen. Handfeste Kritik kommt eher von einem Teil der Lehrenden, die eine Schulung für das neue Fach be­sucht haben. Sie fanden harsche Worte bezüglich des Lehrbuchs, der Begleitvideos und der universitären Anweisungen zu der Vorlesung. Diese wird von den Kritiker:in­nen eher als Propaganda und weniger als ernstzunehmende Lehrveranstaltung wahr­genommen. Manche sehen sie allerdings als eine Möglichkeit für seriöse Gespräche, je nach Gestaltung des Unterrichts. Etliche Lehrkräfte haben sich zudem darüber be­schwert, dass die Aussagen im Lehrbuch unklar seien. Der Schlüsselbegriff »Zivilisation« werde zum Beispiel nicht klar defi­niert. So fällt es nicht nur schwer, die Inhalte adäquat zu vermitteln. Man macht sich als Regimekritiker auch angreifbar, wenn man eine den Machthabern nicht ge­nehme Interpretation vertritt.

Bei den außerschulischen Maßnahmen lässt sich der Erfolg an der Zahl der Teil­nehmer:innen messen. Schließlich handelt es sich um freiwillige Aktivitäten, auch wenn Gruppendynamik und mangelnde alternative Freizeitangebote indirekten Druck ausüben und es Berichte gibt, wo­nach ganze Schulklassen etwa auf entsprechende Ausflüge genötigt wurden. Seit 2022 wuchsen die Mitgliederzahlen von »Jugendarmee« und »Freiwilligen des Sie­ges« von einigen Hunderttausend auf offiziell 1,8 Millionen bzw. eine Million im Jahr 2025, wobei nicht klar ist, ob es sich wirklich um Mitglieder oder nur um Teil­nehmende handelt. An den Aktivitäten der 2022 neu gegründeten »Bewegung der Ersten« sollen nach offiziellen Angaben bereits 13 Millionen Kinder und Jugendliche teilgenommen haben. Auch wenn die Zahlen mit Vorsicht zu behandeln sind, zeigt sich doch, dass der Erfassungsgrad der jungen Bevölkerung deutlich gesteigert wurde. Zudem haben die Maßnahmen be­reits praktischen Nutzen für die Fortführung des Krieges gegen die Ukraine gezeigt. Mehr als 11.000 Alumni der »Jugendarmee« sollen sich seit 2022 für den Einsatz dort gemeldet haben.

Eine neue Generation im Sinne des Kremls

Die Sorge, dass junge Leute regimekritischer sind als andere Altersgruppen, treibt die russische Führung um. So lassen sich die beschriebenen Maßnahmen als Versuch verstehen, die junge Generation durch unterschiedliche Methoden für das Regime zu gewinnen. Dabei zieht das Vorge­hen immer weitere Kreise. Erfasst werden nicht nur Schulen, sondern auch Hochschulen und zunehmend Kindergärten. Hinzu kommt, dass die entsprechenden Programme auf die russisch besetzten Ge­biete in der Ukraine ausgeweitet werden. Dies ist ein besonders perfider Ansatz, da ukrainische Kinder im Sinne der russischen Propaganda umerzogen und geistig wie physisch gegen die Ukraine gerichtet wer­den.

Was diese Politik ergeben wird, bewerten Beobachter:innen unterschiedlich. Manche erwarten eine erfolgreiche Gleichschaltung von großen Teilen der russischen Bevölkerung. Andere vermuten, dass die Maßnahmen mittelfristig Protest hervorrufen wer­den, weil Teile der Zielgruppe sich bevor­mundet fühlen. Wiederum andere verwei­sen auf eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft, die durch Mobilisierungs­versuche und Propaganda verstärkt werde. Nimmt man die Parallele zur Sowjetzeit ernst, erscheint es plausibel, dass es gege­benenfalls einige Zeit dauern wird, bis die Opposition zu den Maßnahmen über eine kleine marginalisierte Minderheit hinausgeht. Selbst wenn die Welt heute eine völlig andere ist, gelingt es Moskau, große Teile der eigenen Bevölkerung informationstechnisch weitgehend abzuschotten und Miss­trauen gegenüber westlichen Medien in den Köpfen zu verankern. Dies liegt nicht nur an den Kontrollmöglichkeiten des Regimes, sondern auch daran, dass ein Umdenken für die meisten Bürger:innen unangenehm oder gar schmerzhaft wäre.

Man kann also nicht davon ausgehen, dass die nächste Generation in Russland eine deutlich positivere Beziehung zum Westen befürworten wird. Dies gilt insbe­sondere für jene, die sich derzeit einen Weg in die politische Elite des Landes bahnen. Vielmehr ist anzunehmen, dass die vermit­telten Werte ihren Niederschlag finden, zumal sie mit handfesten Anreizen unter­mauert werden. Wer den Krieg als Norma­lität akzeptiert, wird ihn eher unterstützen und leichter Opfer in Kauf nehmen. Wer Helden verehrt, dürfte ihnen oftmals nach­eifern. Da viele der Organisationen nicht nur die eigenen Mitglieder indoktrinieren, sondern auch die breitere Bevölkerung zu erreichen suchen, geht ihre Wirkung über die Alterskohorte der Kinder und Jugendlichen hinaus. Eine militarisierte Gesellschaft wird leichter den bellizistischen Ansatz des Kremls und dessen risikoreiche Außen­politik unterstützen.

Wichtig ist auch, dass ideologische Ele­mente mit praktischen Vorteilen für die jungen Menschen kombiniert werden, die sich an den Maßnahmen beteiligen. Wenn man darin eine Vorstufe zur Aufnahme an der gewünschten Hochschule oder zum Einstieg in den ersehnten Beruf sieht, fällt es leichter, sich mit den Inhalten anzufreunden und sie nicht infrage zu stellen. Dieser Effekt wird dadurch potenziert, dass sich Netzwerke bilden und mit der Zeit ver­stärken. Die Teilnehmenden begegnen sich also in anderen Kontexten wieder und unterstützen einander beruflich oder pri­vat. Sie akzeptieren die ideologischen Vorgaben oder nehmen diese eher in Kauf, weil damit Zugehörigkeitsgefühl und sozia­ler Aufstieg einhergehen.

Mit seinen Maßnahmen versucht der Kreml, den Rückhalt in der Bevölkerung für die bisherige außenpolitische Linie langfris­tig abzusichern. Es wird auch in Zukunft russische Bürger:innen geben, die in Oppo­sition zu diesem Kurs stehen. Sie werden aber aller Wahrscheinlichkeit nach in der Minderheit bleiben und dürften sozio-öko­nomischen Milieus angehören, die wenig Einfluss auf das politische Geschehen im Land haben. Diejenigen, die Russlands Poli­tik prägen werden, werden aus Überzeugung oder (eher) aus Opportunismus die Ideologie befürworten, die sich durch die militärisch-patriotischen Erziehungs­maßnahmen der letzten Jahre informell durchgesetzt hat. Sie diffamiert den Westen und verherrlicht den Krieg. Ein anderes Russland wäre also eher eine Frage von Generationen als von Jahren.

Dr. Margarete Klein ist Leiterin der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien. Dr. Susan Stewart ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

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