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Kirgistans dritte Revolution

SWP-Aktuell 2021/A 04, 19.01.2021, 4 Seiten

doi:10.18449/2021A04

Forschungsgebiete

Die Präsidentschaftswahlen vom 10. Januar 2021 und das damit verbundene Ver­fassungsplebiszit sind das Ergebnis einer von Gewalt begleiteten Dynamik, die Kir­gistan seit Oktober 2020 in Atem hält. Mit der Wahl des Populisten Sadyr Japarov zum Präsidenten und der Zustimmung zu der von ihm forcierten Wiedereinführung eines Präsidialsystems wird der Weg bereitet für einen Abbau demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien, mit dem sich Kirgistan den politischen Verhältnissen in den zentralasiatischen Nachbarstaaten annähert. Eine neue Verfassung ist in Vor­bereitung. Der Entwurf trägt die Handschrift von Akteuren, die eine Pfadumkehr unter neo-traditionalen Vorzeichen anstreben. Er düpiert eine junge Generation politischer Kräfte, die für mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eintreten, und ist geeignet, das Land anhaltend zu polarisieren.

Die politische Krise, die zu den vorgezogenen Wahlen führte, wurde ausgelöst durch gewaltsame Proteste, die zum dritten Mal seit 2005 und 2010 einen Machtwechsel er­zwungen haben. Anlass der Proteste waren Stimmenkauf und andere Unregelmäßigkeiten bei den Parlamentswahlen am 4. Ok­tober. In der Folge kamen von den 16 Par­teien, die sich zur Wahl gestellt hatten, nur vier über die Siebenprozenthürde, unter ihnen die Parteien Birimdik und Mekenim Kyrgyzstan. Erstere repräsentierte das poli­tische Establishment um den seit Oktober 2017 amtierenden Präsidenten Sooronbai Jeenbekov, letztere stand in Verdacht, poli­tischer Arm der organisierten Kriminalität zu sein. Außer ihnen schafften nur zwei kleinere Oppositionsparteien den Einzug ins Einkammernparlament, die Jogorku Kenesh.

Aus Empörung über die schon im Vorfeld dokumentierten Wahlmanipulationen ver­anstalteten die Anhänger der unterlegenen Parteien Kundgebungen und verlangten die Annullierung des Wahlergebnisses. Die Zen­trale Wahlkommission kam dieser Forde­rung bereits am 6. Oktober nach, um »Span­nungen zu vermeiden«, und setzte für den Folgemonat Neuwahlen an. Mittlerweile hatten die Proteste aber eine Dynamik ent­faltet, die durch solche Korrekturen nicht mehr zu stoppen war und die offenbarte, dass mehr auf dem Spiel stand als die Neu­wahl des Parlaments. Von nun an dominierten Akteure das Protestgeschehen, die durch eine Kampagne in sozialen Medien mobilisiert worden waren, große Aggressivität an den Tag legten und sich als Anhänger jenes Sadyr Japarov präsentierten, der seither im politischen Bischkek die Spielregeln vorgibt.

Dynamik des Umsturzes

Japarovs politische Karriere begann wäh­rend der »Tulpenrevolution« von 2005, die die Präsidentschaft Askar Akayevs beendete und Kurmanbek Bakiyev zur Macht ver­half. Bakiyev verband eine nationalistische Agenda, die auch die von ihm gegründete Partei Ak Jol verfolgte, mit einem zuneh­mend autoritären Regierungsstil. Im April 2010 wurde auch er durch Massenproteste aus dem Amt vertrieben. Diese zweite Revo­lution war deshalb bedeutsam, weil sie zu einer Verfassungsänderung führte, die die Macht zwischen Präsident, Premierminister und Parlament neu verteilte und einem parlamentarischen System den Weg berei­tete. Japarov – nun Abgeordneter der neu gegründeten Partei Ata-Jurt, einem Sammelbecken der Bakiyev-Anhänger – versuchte weiterhin mit einer nationalistischen Agenda zu reüssieren. Sogar Gewalt wurde eingesetzt, als er 2012 mit Gleichgesinnten den Sitz der Regierung in Bischkek stürmte, um diese zu stürzen. Einer Haftstrafe ent­zog er sich durch Flucht ins Ausland. 2017 wurde er festgenommen, als er nach Kir­gistan einreisen wollte, und zu elfeinhalb Jahren Haft verurteilt.

Als die Parlamentswahlen am 4. Oktober 2020 stattfanden, befand sich Japarov in einem Hochsicherheitsgefängnis in Bisch­kek. Im Zuge der sich immer stärker aus­weitenden Proteste stürmte am 5. Oktober eine Gruppe von Demonstranten die Haft­anstalt und befreite Japarov ebenso wie eine Reihe weiterer Ex-Politiker. Während diese bald wieder inhaftiert wurden, er­zwangen Japarovs Anhänger innerhalb kürzester Zeit dessen Aufstieg an die Spitze des Staates: Auf Verlangen der mit Gewalt drohenden Demonstranten trat der amtie­rende Premierminister am 6. Oktober zu­rück, und Japarov erklärte sich unter Beru­fung auf den »Volkswillen« zum neuen Regierungschef.

Doch verweigerte ihm das Parlament zunächst die Zustimmung. Aufgrund des Drucks, den Japarovs Anhänger in Straßen­kämpfen mit dessen Gegnern entfalteten, sprach sich das Parlament in einer außer­ordentlichen Sitzung am 10. Oktober schließ­lich für dessen Ernennung zum Premier­minister aus. Die Rechtmäßigkeit der Ab­stimmung war angesichts des verfehlten Quorums von Anfang an umstritten, hatte doch weniger als die Hälfte der Abgeord­neten an der entscheidenden Sitzung teil­genommen. Gleichwohl begann der neue Regierungschef umgehend Fakten zu schaf­fen und Schlüsselpositionen in Staatsanwalt­schaft, Geheimdienst und Regierungsapparat mit Akteuren seines Netzwerks zu beset­zen, viele von ihnen aus dem Umfeld des früheren Präsidenten Bakiyev. Bereits am 12. Oktober fand die erste Kabinettssitzung statt, am 14. Oktober bestätigte das Parla­ment, nun mit ausreichender Anzahl von Stimmen, den selbsternannten Premier­minister in seinem Amt.

Doch dessen Ziel war damit noch nicht erreicht. Japarovs Anhänger, die weiterhin zentrale Plätze in Bischkek besetzt hielten, forderten den Rücktritt von Präsident Jeen­bekov, der mehrfach signalisiert hatte, nicht an der Macht festhalten zu wollen, zunächst aber auf einer geordneten Amts­übergabe bestand. Tatsächlich unterzeichnete er, offenbar unter dem Druck Japarovs und seiner gewaltbereiten Anhänger, schon am 15. Oktober seine Rücktrittserklärung. Parlamentssprecher Kanat Isajev, der qua Verfassung an Jeenbekovs Stelle hätte tre­ten müssen, verzichtete. Am 16. Oktober beauftragte das Parlament Japarov, den das Oberste Gericht am selben Tag von allen An­klagen freisprach, mit der kommissarischen Leitung der Staatsgeschäfte. Japarov übte nun also zwei Ämter in Personalunion aus: das des Premierministers und das des Inte­rimspräsidenten.

Das Parlament als Notariat

Von Anfang an hatte Japarov erklärt, Kirgis­tan wieder ein Präsidialsystem geben, dazu eine neue Verfassung erarbeiten und die Bevölkerung in einem Referendum darüber abstimmen lassen zu wollen. Zunächst aber stand die Neuwahl der Jogorku Kenesh im Raum, die auf Druck von Japarovs Gleich­­gesinnten in den Reihen der Abgeordneten von der Zentralen Wahlkommission unter Berufung auf »höhere Gewalt« erneut, nun auf den 20. Dezember, verschoben worden war. Dies war nicht der einzige Fall eines von kirgisi­schen Rechtsexperten als ver­fassungswidrig bewerteten Umgangs der Legislative mit ihren Befugnissen. Am 22. Ok­tober beschloss eine Mehrheit der Abgeordneten kurzerhand eine Änderung des Wahlgesetzes, die es erlaubte, die Neu­wahl der Jogorku Kenesh bis zum Sommer 2021 hinauszuschieben. Bei der Abstimmung kam es zu groben prozeduralen Verstößen und wohl auch zu Stimmenfälschungen. Doch für den Interimspräsidenten war dieser Schachzug – die Verlängerung der Amtszeit des Parlaments – entscheidend, weil er es möglich machte, durch strategische Allianzen in der Jogorku Kenesh Rücken­deckung für eine rasche Verfassungsänderung zu mobilisieren und so der Gefahr vor­zubeugen, dass ein neues Parlament das Vorhaben blockiert.

Die Klage kirgisischer Aktivistinnen und Aktivisten, die die Entscheidung des Parla­ments unter Berufung auf eine von der Verfassungskammer des Obersten Gerichts erbetene Stellungnahme der Venedig-Kom­mission des Europarats anfechten wollten, wies die Verfassungskammer zurück. Auch Protestkundgebungen vermochten nicht zu verhindern, dass der offenbar strategisch geplante Umbau des politischen Systems nun Schritt für Schritt umgesetzt wurde. Am 17. November veröffentlichte die Par­lamentswebsite den Entwurf für eine neue Verfassung, der mutmaßlich dem nach wie vor einflussreichen ideologischen Umfeld des ehemaligen Präsidenten Bakiyev ent­stammt; eine 89-köpfige Kommission wurde von Talant Mamytov – er hatte die kom­missarische Leitung der Staatsgeschäfte am 14. November von Japarov übernommen, damit dieser bei den Präsidentschaftswahlen kandidieren konnte – mit der Überarbei­tung des Textes beauftragt. Gleichzeitig wur­den der Termin für die Neuwahl des Präsidenten und das Plebiszit bestimmt, bei dem sich die Kirgisen für eine »Präsidial­republik«, eine »Parlamentarische Repu­blik« oder »keines von beiden« – gemeint war die Beibehaltung des Status quo – aus­sprechen sollten. Während Experten noch darüber stritten, ob es rechtmäßig sei, ein solches Plebiszit abzuhalten, ohne der Öf­fentlichkeit Gelegenheit zu geben, sich gründlich mit dem Entwurf auseinander­zusetzen, schaffte die Legislative erneut Fak­ten: Am 10. Dezember verabschiedete eine Mehrheit willfähriger Parlamentarierinnen und Parlamentarier in einer hastigen Ab­stimmung ein Gesetz, das die Durchfüh­rung des Referendums rechtlich absicherte.

Vorwärts in die Vergangenheit

Fast 80 % der Wählerinnen und Wähler haben am 10. Januar für Japarov gestimmt, mehr noch für die Wiedereinführung des präsidentiellen Regierungssystems. Auch wenn sich nur knapp 40 % der Wahlberechtigten am Urnengang beteiligten, ist das Ergebnis doch eindeutig. Damit ist der Weg frei für die von den neuen Machthabern um Japarov forcierte Neukonzeption der Verfassung. Der Entwurf, der noch nicht endgültig ausgearbeitet ist – die finale Fassung wird wahrscheinlich Gegenstand eines neuerlichen Referendums sein –, ent­hält eine Reihe weitreichender Änderungen. Wie in Präsidialsystemen üblich steht der Präsident, der sich künftig zwei­mal in Folge für je fünf Jahre (statt wie bis­her einmal für sechs Jahre) zur Wahl stellen kann, an der Spitze der Exekutive. Anders als in der geltenden Verfassung von 2010 ist der Regierungschef dem Präsidenten unter­stellt und wird auch von ihm bestimmt. Das Parlament kann den Präsidenten nur im Falle schwerer Gesetzesverstöße oder von Amtsunfähigkeit aus medizinischen Grün­den absetzen.

Wesentliche Artikel des Verfassungs­entwurfs sind neo-traditionalen Konzepten verpflichtet. Während etwa die Zahl der Ab­geordneten des wie bisher aus einer Kam­mer bestehenden Parlaments von derzeit 120 auf 90 (wie vor 2010) verkleinert werden dürfte, soll ein »Volksrat« (Kurultay) nach dem Vorbild der kirgisischen Volkstradition als »oberstes Beratungs- und Koordinationsorgan der Volksherrschaft« fungieren. Die Modalitäten der Wahl bzw. Ernennung der Mitglieder sind noch zu klären; über die Einberufung entscheidet der Präsident, der Empfehlungen des Volksrats zu allen Poli­tik­feldern sowie zu Personalentscheidungen entgegennimmt und ihm Rechenschafts­berichte vorlegt.

Anders als in der Verfassung von 2010 fehlt in dem Neuentwurf von 2020 das Bekenntnis zur Herrschaft des Rechts. Statt­dessen wird in der Präambel die »Orientie­rung an den Traditionen und Empfehlungen der Vorfahren« sowie »allgemeinmensch­lichen moralischen Prinzipien« betont, die in einem eigenen Verfassungsartikel erläu­tert werden und patriarchale Normen – den Wert von Familie, Brauchtum und Reli­gion – besonders hervorheben. Die Verbrei­tung von Informationen, die den »aner­kannten moralischen Werten und Tradi­tio­nen« widersprechen, ist verboten und wird geahndet. Sollten diese Werte Verfassungs­rang erhalten, steht zu befürchten, dass sie auch in positives Recht überführt werden.

Eine polarisierte Gesellschaft

Diese Änderungen bedeuten eine klare Absage an demokratische und rechtsstaat­liche Prinzipien, die die Revolution von 2010 etabliert hatte. Japarov, der seine Machtübernahme von Anfang an damit legitimierte, dass er den »Willen des Vol­kes« vollziehe, genießt nicht nur den Rück­halt maßgeblicher Teile der Elite, sondern auch einer rasch mobilisierbaren Allianz von Unzufriedenen. Diese lehnen das poli­tische und intellektuelle Establishment ebenso ab wie das parlamentarische Sys­tem. Das Idealbild eines starken Präsiden­ten, der für Ordnung und Gerechtigkeit sorgt, ist offenbar eine attraktive Option für das national- und wertkonservative Milieu, aus dem sich Japarovs Anhängerschaft mehr­heitlich rekrutiert. Diese ist überwiegend im ländlichen Raum verwurzelt, wo weite Teile der Bevölkerung nur schlecht über die Runden kommen. Das populistische Ver­sprechen einer »ehrlichen« Politik findet dort ebenso Anklang wie die einfache Politikauffassung, die Japarov anbietet.

Japarovs Popularität wird durch die Kri­tik an den demokratischen Defiziten seiner Politik nicht geschmälert. Die offene und latente Gewalt, die seinen Aufstieg zur Macht begleitete, spricht in den Augen seiner Anhänger ebenso wenig gegen ihn wie seine aggressive Wahlkampagne und die Tatsache, dass er dafür Staatsressourcen in Anspruch genommen hat. Auch der Ver­dacht, dass prominente Kriminelle Japarovs Wahlkampf finanziert haben und dass sei­ner Popularität durch professionelle Mani­pulation in sozialen Medien kräftig nach­geholfen wurde, scheint seine Fans nicht zu stören.

Doch den Kritikern von Japarovs auto­ritärem Populismus stehen düstere Zeiten bevor. Dies betrifft all jene zivilgesellschaft­lichen Organisationen, Intellektuellen, Me­dienschaffenden und nicht zuletzt die vie­len Frauen, die seit Jahren für die Gewähr­leis­tung der Menschenrechte und für eine demokratische Ordnung streiten. Diese Akteursgruppen sind seit den Ereignissen vom Oktober 2020 Einschüchterung und Gewaltandrohung ausgesetzt, und es steht zu befürchten, dass sie künftig noch mehr unter Druck geraten. Dies gilt vor allem für den Fall, dass Japarov die Erwartungen seiner Anhänger nicht erfüllen kann. Um neuerliche Proteste gar nicht erst aufkommen zu lassen, könnte der amtierende Prä­sident, wie seinerzeit Präsident Bakiyev, versucht sein, Kritik mit zusehends repres­siveren Mitteln abzuwehren.

Deutschland und die EU sollten einer solchen Entwicklung mit allen Mitteln gegensteuern und darauf drängen, dass der Verfassungsentwurf, der gegenwärtig von der Venedig-Kommission begutachtet wird, einer grundlegenden Revision unter­zogen wird. Darüber hinaus sollte die Unterstützung der kritischen Medienöffentlichkeit in den Vordergrund gerückt und zu einem prioritären Thema des politischen Dialogs gemacht werden.

Dr. Andrea Schmitz ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

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