Georgien befindet sich an einer Weggabelung: innenpolitisch durch den Rückbau demokratischer Errungenschaften, außenpolitisch durch eine Rekonfiguration seiner Außenbeziehungen. Beeinflusst werden diese Dynamiken durch geopolitische Disruptionen in der Region und auf globaler Ebene. Im Umgang mit dieser Herausforderung sollte die EU eine bedachtsame Nutzung von Kommunikationskanälen im Sinne der demokratischen und europäischen Zukunft Georgiens prüfen, Kooperationsfragen eng an deren Implikationen für die Bevölkerung knüpfen sowie die Resilienz der georgischen Zivilgesellschaft stärken. Fortschritte anderer EU-Beitrittskandidaten würden EU-skeptische Stimmen schwächen und könnten den gesellschaftlichen Rückhalt für Georgiens europäische Perspektive festigen.
Die Wiedervorlage und Annahme des Gesetzes zur »Transparenz ausländischer Einflussnahme« im Frühjahr 2024 sowie die umstrittenen Parlamentswahlen vom Oktober desselben Jahres haben auch außerhalb Georgiens viel Aufmerksamkeit erfahren. Beides ist eher als Symptome denn als Ursachen für die politische Krise zu werten. Dennoch handelt es sich um zentrale Wegmarken. Das betrifft vor allem die Staat-Gesellschaft-Beziehungen, die Hinwendung zu autoritären Praktiken sowie die außenpolitische Entfremdung Tbilisis von seinen europäischen Partnern. Dass sich Tbilisi weiter von Brüssel distanziert, wurde besonders Ende November 2024 deutlich, als die seit 2012 regierende Partei Georgischer Traum (GT) den EU-Beitrittsprozess des Landes offiziell bis 2028 suspendierte. Begleitet wurden die Entwicklungen auf der politischen Ebene von gesellschaftlichem Protest. Demonstrationen gegen die Entscheidung, Georgiens EU-Integration vorerst zu stoppen, halten bis heute an. Die innenpolitische Entwicklung in Georgien ist dabei eingebettet in den größeren Umbruch nicht nur der europäischen Sicherheits-, sondern auch der internationalen Ordnung. Daraus ergeben sich spezifische Rückkopplungen.
Innen- und außenpolitische Wende: Maßnahmen, Narrative, Symbolik
Aufschluss über den Kurs des Georgischen Traums geben konkrete Maßnahmen, gezielt verbreitete Narrative sowie Neuerungen bei der politischen Symbolik.
Maßnahmen
Die Parlamentswahl 2024 beschleunigte die Anpassung des politischen Kurses in Georgien, die der Georgische Traum schon zuvor eingeleitet hatte, und vertiefte zugleich die innenpolitische Krise. Aus Protest gegen die fragwürdige Durchführung der Wahl haben drei der vier gewählten Oppositionsparteien um die Aufhebung ihrer Mandate gebeten; die vierte boykottiert die Parlamentsarbeit. Sie alle betrachten die Abstimmung als illegitim. Das neue Parlament hat sich daher allein aus Abgeordneten des Georgischen Traums konstituiert. Im Februar 2025 verließen drei Abgeordnete die GT-Fraktion. Unter der Bezeichnung »Europäische Sozialisten« fungieren sie seither als nominelle Opposition. Ein ähnliches Manöver hatten zuvor bereits die Abgeordneten der Partei »Macht des Volkes« vollzogen – zum zweiten Mal, da sie sich auf ähnliche Weise schon 2022 als GT-Ableger ausgegliedert hatten.
Ende 2024 wurde Micheil Kawelaschwili ins Amt des Staatspräsidenten eingeführt. Er folgte Salome Surabischwili, die sich in den letzten Jahren immer stärker und zuletzt klar als Gegengewicht zum Georgischen Traum positioniert hatte. Kawelaschwilis Amtsantritt löste Kritik aus, besonders bei der politischen Opposition und in weiten Teilen der unabhängigen Zivilgesellschaft. Sie halten das neue Parlament für nicht rechtmäßig – ein Organ, das für die Wahl Kawelaschwilis entscheidend war, nachdem im Zuge einer Verfassungsreform die Direktwahl des Präsidenten durch ein Wahlkollegium ersetzt worden war. Die Personalie Kawelaschwili scheint die außenpolitische Kurswende des Georgischen Traums zu bestätigen, steht er doch für EU-kritische und antiliberale Positionen.
Bei den Straßenprotesten gegen den Kurs der aktuellen politischen Führung wurden vielfach Vorwürfe laut, Polizeibeamte oder nicht als solche identifizierbare Sicherheitskräfte würden unverhältnismäßige Gewalt gegen Demonstrierende anwenden. Hunderte Demonstrant:innen, darunter Medienschaffende und Aktivist:innen, wurden im Zuge der Proteste festgenommen. In kürzester Zeit verabschiedete das Parlament eine Reihe von Gesetzen, die legalen Protest erschweren: Mit den Gesetzesänderungen wurden der Straftatbestand erweitert, Bußgelder bei Protesten erhöht und mögliche Administrativhaft von fünf auf sechzig Tage verlängert. Zudem schränkt eine Regierungsverordnung, welche »Autobahnen staatlicher und internationaler Bedeutung« als strategisch bedeutsame Infrastruktur einstuft, den physischen Raum für legalen Protest weiter ein. Kritiker:innen der derzeitigen politischen Führung sehen in all dem den Versuch, Protest und Mobilisierung einzudämmen. Als Schritte hin zu weiterer Einschränkung des Betätigungsfelds für eine unabhängige Berichterstattung und für die Zivilgesellschaft werten sie auch weitere Initiativen der Regierung. Dazu zählen die keinesfalls minder kontroverse Nachfolge des umstrittenen Gesetzes zur Transparenz ausländischer Einflussnahme durch eine in den Worten des Georgischen Traums »direkte georgische Übersetzung« des amerikanischen Foreign Agents Registration Act (FARA) sowie Maßnahmen zur stärkeren Regulierung der Medien. Internationale Menschenrechtsorganisationen teilen diese Einschätzung.
Die innenpolitische Entwicklung in Georgien hat nicht nur zu Verwerfungen in den Beziehungen mit der EU geführt. Auch das Verhältnis zur Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE) hat sich stark getrübt. Unter anderem mit Verweis auf demokratische Rückschritte, Menschenrechtsverletzungen im Laufe der Proteste und Zweifel an den Ergebnissen der Parlamentswahl hat PACE die volle Anerkennung der georgischen Delegation und ihrer Rechte vorerst aufgeschoben. Als Reaktion darauf wiederum hat die georgische Delegation ihrerseits einstweilen ihre Teilnahme an PACE eingestellt.
Narrative
Mit Beginn der russischen Vollinvasion der Ukraine im Frühjahr 2022 hat der Georgische Traum das Narrativ verbreitet, es gebe eine »globale Kriegspartei«, die Georgien in einen Krieg mit Russland drängen wolle und von Tbilisi verlange, eine »zweite Front« zu eröffnen. Der Georgische Traum hat es sich als Verdienst zugeschrieben, diesem Drängen durch eine kluge und zurückhaltende Politik stand- und Georgien damit aus Russlands Krieg herauszuhalten.
Zuletzt hat der Georgische Traum sein Narrativ angepasst. Der Gebrauch des Terminus »globale Kriegspartei« wird zunehmend überlagert, indem immer öfter von einem angeblich global agierenden, allgegenwärtigen »Deep State« gesprochen wird. Auf welche Akteure der Georgische Traum mit dieser Chiffre für eine Art (Schatten-)Staat im Staat konkret Bezug nimmt, bleibt ähnlich diffus wie bei ihrem terminologischen Vorgänger »globale Kriegspartei«. Der »Deep State« scheint prinzipiell überall zu wirken und wird vom Georgischen Traum vor allem dort vermutet, wo ihm gegenüber Kritik laut wird. So geschah es nicht zuletzt mit Brüssel, wo das Europäische Parlament im Februar 2025 eine äußerst kritische Resolution verabschiedet hat, in der es der GT-Regierung die Legitimität abspricht.
»Globale Kriegspartei« und »Deep State« drücken wesentliche Topoi des Euroskeptizismus des Georgischen Traums aus. Während er sich zunächst immer stärker gegen eine spezifisch liberale Ausprägung von »Europa« positionierte und stattdessen eine »wahre« konservative Version verfocht, wirft die Suspendierung des EU-Beitrittsprozesses grundlegendere Fragen zu Georgiens außenpolitischer Orientierung auf.
Symbolik
Auch ikonographisch lässt sich ein Wandel feststellen. Georgiens euroatlantische Ausrichtung seit der Amtszeit Micheil Saakaschwilis als Staatspräsident ab 2004 war symbolisch unterfüttert durch die extensive Verwendung und Präsentation der EU-Flagge. An bedeutenden offiziellen Einrichtungen, inklusive des Parlaments, hing sie neben der georgischen Fahne. Damit wurde zwar nicht der Ist-Zustand der euroatlantischen Integration Georgiens dargestellt – und manche wiesen darauf hin, die Flagge symbolisiere gleichermaßen den Europarat, dessen Mitglied Georgien ist. Dennoch versinnbildlichte ihre Verwendung die politischen Ambitionen der georgischen Regierung, auch lange die des Georgischen Traums, und weiter Teile der georgischen Gesellschaft, nämlich ihr Land in die EU zu führen. In starkem Kontrast dazu steht die visuelle Ausstattung der Inauguration Micheil Kawelaschwilis. Die Bühne zu beiden Seiten war eng gesäumt mit einem Spalier aus weiß-roten Fünfkreuzfahnen. Dagegen suchte man die EU-Farben Blau und Gelb vergeblich. Zwar ist die EU-Fahne in Tbilisis Stadtbild weiterhin allgegenwärtig, allerdings nun oft eher als politisches Graffito oder Statement bei den Protesten denn an offiziellen Gebäuden oder bei offiziellen Anlässen. Die Veränderung in der politischen Bildsprache kann als Teil der politischen Kommunikation gesehen werden und unterstreicht das Narrativ des Georgischen Traums, wonach das Land sich auf sich selbst, seine nationalen Interessen sowie seine Souveränität und nationale Identität besinnen müsse.
Die symbolische Ebene spielt auch in Bezug auf die Außenpolitik des Georgischen Traums eine Rolle. Nicht zuletzt in Form performativen Handelns zeichnet sich dort eine Wende ab, mit viel beachteten Reisen von Vertreter:innen des Georgischen Traums in die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), nach Iran, Zentralasien oder China. Zwar ist über die sechs Milliarden US-Dollar schwere Kooperationsvereinbarung, die Premier Kobachidse Ende Januar 2025 von seiner Reise in die VAE mitbrachte, derzeit noch wenig Konkretes bekannt. Und auch der Stand der bilateralen Beziehungen zu China scheint (noch) hinter dem offiziell vermittelten Bild zurückzubleiben, ungeachtet einer freilich beachtlichen Dynamik in den letzten Jahren. Seit 2023 sind die beiden Länder durch ein strategisches Partnerschaftsabkommen verbunden. Anstelle des ursprünglich vorgesehenen amerikanischen Konsortiums soll nun ein chinesisch-singapurisches den Tiefseehafen in Anaklia bauen. Sowohl wirtschaftliche als auch kulturell-bildungspolitische Verflechtungen nehmen zu. Zusammen mit der weiteren Normalisierung der Beziehungen zu Russland bei Wirtschaft und Handel – ein Bereich, in dem die EU als Partner hinter den in sie gesetzten Erwartungen zurückblieb – scheinen diese Entwicklungen auf eine außenpolitische Neuorientierung hinzudeuten. Tbilisis jahrelange Bestrebungen, Georgien als Teil Europas – und letztlich der EU – zu verankern, werden überschrieben durch neue außenpolitische Verflechtungen, die Georgiens Zukunft, so georgische Kommentator:innen, eher als »eurasisch« oder mindestens »multivektoral« erscheinen lassen.
Geopolitischer Resonanzraum
Die Entwicklungen in Georgien fallen in eine Zeit geopolitischer Disruptionen sowie globaler Trends, die dem Handeln und der Rhetorik des Georgischen Traums einen spezifischen Resonanzkörper geben. Das sind insbesondere Russlands Vollinvasion der Ukraine, die dadurch bedingte Erosion der europäischen Sicherheitsordnung und die daraus folgende Zunahme sicherheitspolitischer Prekarität sowie der globale Trend zur Autokratisierung. Hinzu kam jüngst der (außen-)politische Kurswechsel der USA unter Präsident Trump. Zwar scheint es dem Georgischen Traum bislang nicht gelungen zu sein, die vormals engen Beziehungen zu den USA unter der zweiten Administration Trump wiederherzustellen. Eigentlich hatte die GT-Führung einen unmittelbaren Reset in den bilateralen Beziehungen angekündigt, sobald die neue US-Administration im Amt ist. Als Grundlage dafür sollten geteilte rechtskonservative Positionen dienen. Trumps Wahlversprechen, Russlands Krieg gegen die Ukraine binnen 24 Stunden zu beenden, präsentierte der Georgische Traum zudem als kongruent mit seinem Diktum, eine »zweite Front« zu vermeiden. Zwar steht ein echter Neustart weiterhin aus, und dieser ist mit der Annahme des kritischen Megobari-Gesetzesentwurfs (Mobilizing and Enhancing Georgia’s Options for Building Accountability, Resilience, and Independence) durch das US-Repräsentantenhaus nicht näher gerückt. Dennoch sucht der Georgische Traum die mittelbare Kongruenz der Positionen mit den USA produktiv zu nutzen. So etwa passt es in und untermauert es das GT-Narrativ, wonach sich das Land vor ausländischer Einflussnahme und »liberalen Ideologien« schützen müsse, wenn die neue US-Regierung die Arbeit von USAID stoppt, zumindest aber stark einschränkt, und das auch damit begründet, dass USAID eine »kriminelle Organisation« sei, eine »Tarnorganisation«, mit der radikale linke Positionen im Ausland verbreitet werden sollen. Ähnliches gilt für die Kürzungen beim Auslandssender Voice of America bzw. Radio Free Europe/Radio Liberty. Auch die Rede vom »Deep State« ist stark anschlussfähig an die Rhetorik der US-Republikaner und ihrer Anhängerschaft. Der US-amerikanische Politikwechsel dürfte in dieser Hinsicht nicht nur den innenpolitischen Kurs des Georgischen Traums stützen, sondern ihm auch Recht geben in seiner Antizipation zukünftiger globaler Machtverhältnisse sowie (supra-)regionaler Ordnungen. Die EU, zumindest als liberal-normative Macht, scheint in dieser Neukonfiguration in der Wahrnehmung des Georgischen Traums kein zentraler Pol zu sein, der ausreichend Anziehungskraft und Einfluss entfalten könnte, zumal angesichts sicherheitspolitischer Herausforderungen, mit denen sich die EU konfrontiert sieht, und bröckelnder euroatlantischer Solidarität. Georgische Kommentator:innen betonen dies hinlänglich. Hinzu kommt freilich, dass die Wiederaufnahme des EU-Beitrittsprozesses mit umfassenden Reformen verbunden ist und quasi einer Kehrtwende gegenüber dem aktuellen Kurs gleichkäme. Dafür gibt es derzeit auf Seiten des Georgischen Traums wenig Anzeichen – und ein geopolitisches Umfeld, das aus seiner Sicht kaum Anreize dafür bieten dürfte.
Gesellschaftliche Stimmungen
Wie blickt die georgische Bevölkerung auf diese Entwicklungen? Wie stark ist die Unterstützung für den Georgischen Traum bzw. die politische Opposition? Und wie hoch ist die Zustimmung in der Gesellschaft zum Protest? Antworten auf diese Fragen werden dadurch erschwert, dass es kaum öffentlich zugängliche aktuelle Meinungsumfragen gibt. Früher waren es die US-finanzierten National Democratic Institute und International Republican Institute, die für Georgien regelmäßig und daher über Zeit vergleichbare repräsentative Bevölkerungsumfragen zu politischen Einstellungen, dem Kurs der aktuellen politischen Führung und den außenpolitischen Präferenzen in Auftrag gaben und die Ergebnisse publizierten. Mittlerweile haben sie diese Aktivitäten jedoch eingestellt – eine Folge des Rückbaus der US-amerikanischen Entwicklungszusammenarbeit.
Es fällt auf, dass die politische Opposition in den letzten Monaten kaum in Erscheinung getreten ist. Schon die Parlamentswahlen hinterließen den Eindruck, dass die Oppositionsparteien auf die Zeit nach der Wahl und auf verschiedene mögliche Szenarien strategisch wenig vorbereitet waren. Zwar gab es vor und nach den Parlamentswahlen Bemühungen, gemeinsame Positionen zu finden, nicht zuletzt vis-à-vis dem Georgischen Traum, um mittels Geschlossenheit zu punkten. Doch sie scheinen wenig gefruchtet zu haben. Vielmehr erhärtet sich das Bild der politischen Opposition als notorisch uneins und fragmentiert. Die Vereinte Nationale Bewegung, Partei des früheren Präsidenten Saakaschwili, ist jenseits ihrer Kernklientel für viele Georgier:innen nicht wählbar. Vor allem zum Ende von Saakaschwilis Amtszeit 2013 hatte sie sich in der Wahrnehmung vieler durch autoritäre Praktiken diskreditiert. Aber auch den anderen Parteien ist es nicht gelungen, in der Breite positive Resonanz und Zuspruch zu erzeugen. Salome Surabischwili, die versucht hatte, sich als einigende Kraft auf Seiten der Opposition zu positionieren, und den Prozess eines strategischen Zusammenschlusses forcierte, hat mit Auszug aus dem Präsidentenpalast erheblich an Sichtbarkeit verloren. Folglich mangelt es in der politischen Opposition an überzeugendem Führungspersonal und strategischer Ausrichtung.
Gemäß einer Umfrage des georgischen Institute of Social Studies and Analysis (ISSA) vom Januar 2025, dem einzigen derartigen Survey, der seit den Parlamentswahlen veröffentlicht wurde, befinden fast zwei Drittel der Befragten, dass sich das Land in die falsche Richtung entwickelt. Knapp 78 Prozent sehen den Grund für die politische Krise beim Georgischen Traum. Bei anderen innenpolitischen Aspekten offenbart sich die gesellschaftliche Polarisierung, etwa in der Frage nach der Legitimität der Regierung oder des Präsidenten. Laut der Umfrage unterstützt eine Mehrheit der Befragten die Proteste. Nichtregierungsorganisationen dagegen – die eine unüberhörbare Stimme im Protest gegen die Regierung sind – werden nur von etwas mehr der Befragten (36 Prozent) positiv statt negativ (30 Prozent) gesehen. Überlagert werden innenpolitische Themen allerdings wie schon früher von sozioökonomisch bedingten Sorgen: Als drängendste Probleme wurden in der Umfrage am häufigsten und mit weitem Abstand hohe Preise (46,5 Prozent) und Arbeitslosigkeit (42,1 Prozent) genannt. Georgische Ökonom:innen blicken aufgrund der politischen Situation und besonders des ausgesetzten Beitrittsprozesses durchaus pessimistisch in die Zukunft. Gleichzeitig blieben die Reaktionen aus der Wirtschaft auf die aktuellen politischen Entwicklungen eher verhalten. Die im Zuge der Proteste ausgerufenen Streiks erhielten nur zeitlich und örtlich begrenzten Zulauf.
In der Vergangenheit haben Meinungsumfragen Unterschiede zwischen Stadt, allen voran der Hauptstadt Tbilisi, und Land aufgezeigt. Gemäß dem Caucasus Barometer von April/Mai 2024 etwa nahmen Befragte in der Hauptstadt die politische Instabilität im Vergleich öfter als zentrale Herausforderung wahr und äußerten sich unzufriedener mit dem innenpolitischen Kurs des Landes. Auch zwischen den Generationen bildeten sich Unterschiede ab, etwa im geringeren Anklang des Georgischen Traums bei der jüngeren Generation. Diese Aspekte dürften weiterhin relevant sein.
Implikationen für die EU
Die EU steht angesichts der Entwicklungen in Georgien vor einer Reihe drängender Fragen, für die sie rasch überzeugende Antworten finden sollte.
Der georgische Fall verdeutlicht, dass selbst in der eigenen Nachbarschaft der transformative Ansatz der EU auf politischer Ebene nur begrenzte Wirkkraft hat. Dass Brüssels Einfluss, wenn der politische Wille auf Partnerseite fehlt, gering ist, hatte 2021 bereits der Verzicht der GT-Regierung auf die an Reformen gekoppelte EU-Makrofinanzhilfe nahegelegt. Auch die in den letzten Monaten als Reaktion auf den Kurs der georgischen Führung unternommenen Schritte haben bislang nicht zu einer Kursänderung des Georgischen Traums geführt. Zu den Maßnahmen auf EU-Ebene gehören das Einfrieren der bilateralen Budgetunterstützung und der Hilfe im Rahmen der European Peace Facility sowie das Aussetzen der Visumsfreiheit für georgische Amtspersonen und Diplomat:innen. Einzelne EU-Mitgliedstaaten haben zudem etwa Einreisesperren für individuelle Offizielle verhängt und in der Entwicklungszusammenarbeit gekürzt. Auf weitergehende Schritte wie etwa EU-weite personenbezogene Sanktionen konnten sich die EU-Staaten nicht einigen, weil dafür Einstimmigkeit notwendig gewesen wäre. Unterhalb der EU-27 fehlte es ebenfalls oft an Kohärenz und klarer Strategie.
Wie weiter?
In Reaktion auf die demokratischen Rückschritte hatte die EU im Sommer 2024 Kontakte auf höchster Ebene mit offiziellen Vertreter:innen Georgiens eingestellt. Ob die EU den Georgischen Traum nach der Parlamentswahl als legitime Regierung anerkennt, ist offen; das Weimarer Dreieck, also Berlin, Paris und Warschau, vermeidet etwa in seinen Statements eine solche Festlegung. Einerseits verringert der aufs Minimum reduzierte Kontakt der westlichen Partner den internationalen Handlungsspielraum Georgiens und hält die Zweifel an der ordnungsgemäßen Durchführung der Wahl aufrecht. Andererseits stellt sich die Frage, ab wann dieser Status quo den Einfluss der EU eher noch schmälert. Unter der Administration Trump scheinen die USA ihre »Kontaktsperre« zumindest gelockert zu haben. Im Frühjahr traf sich die US-Botschafterin in Tbilisi zum einen mit der georgischen Außenministerin, zum anderen mit dem Wirtschaftsminister des Landes, der zugleich als Erster Vizepremierminister amtiert. Auch angesichts der Differenzen zwischen Brüssel und Washington, die sich unter Präsident Trump offenbaren, könnte der fortgesetzte Verzicht auf direkte Kommunikation und Dialog die EU weiter ins Abseits bringen – und damit möglicherweise dem erklärten Ziel, die georgische Gesellschaft in ihrem Streben nach enger Anbindung an die EU zu unterstützen und demokratische Kräfte zu stärken, einen Bärendienst erweisen. In Brüssel sollte man daher mit Blick auf die aktuellen Dynamiken überlegen, ab wann, auf welche Art und Weise sowie zu welchen Themen eine Wiederherstellung direkter Kanäle für politisch-diplomatischen Austausch im eigenen Interesse und im Sinne der demokratischen und europäischen Zukunft Georgiens wäre. Wichtig für effektive Kommunikation, die zudem keiner Rückkehr zum »Business as usual« gleichkäme, wäre eine klare Positionierung und möglichst große Geschlossenheit der EU, nicht zuletzt damit einzelne Mitgliedstaaten oder die EU-Institutionen nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Auch in anderer Hinsicht steht die EU vis-à-vis Georgien vor der Herausforderung, Zielkonflikte zwischen normativen Ansprüchen und real- bzw. geopolitischen Ansätzen durch eine konsequente, vorausschauende und anpassungsfähige Politik auszubalancieren. Georgische zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenrechte oder Medienfreiheit engagieren – also Themen, die auch auf der Agenda der EU stehen und Teil des weiter bestehenden Assoziierungsabkommens mit Georgien sind –, sehen eine normativ ausgerichtete EU als Partner. Folgerichtig messen sie die Union an ihrem normativen Anspruch und damit auch an ihrem Umgang mit den aktuellen Entwicklungen in Georgien. Entsprechend ihrer Ankündigung hat die EU begonnen, Finanzhilfen, die ursprünglich an die Regierung hätten gehen sollen, zugunsten der georgischen Zivilgesellschaft umzuleiten. Die Zivilgesellschaft und die unabhängigen Medien stehen stark unter Druck, vor allem durch die vom Staat betriebene Verengung ihres Betätigungsfelds, aber auch durch den massiven Rückzug von USAID. Vor diesem Hintergrund ist es konsequent, dass die EU zivilgesellschaftliche Akteure verstärkt finanziell unterstützen möchte, und die Bedarfe sind infolge des Wegfalls von USAID umso größer. Die Unterstützung sollte möglichst unbürokratisch bereitgestellt werden und Kritik an zurückliegenden Programmen aufnehmen – zum Beispiel was die Ballung von Initiativen in der Hauptstadt, hohe bürokratische Hürden für Graswurzel-Organisationen und geringer budgetierte Projekte oder die Ausrichtung an Geberagenden betrifft, die mitunter an den dringenden Bedürfnissen der Menschen vor Ort vorbeigehen. Zudem sollte darauf geachtet werden, dass unterstützende Maßnahmen in der Zivilgesellschaft selbstbestimmte Entwicklung statt Abhängigkeit fördern. Auch dies stärkt letztlich die zivilgesellschaftliche Resilienz.
Gleichzeitig allerdings stellt sich für die EU die Frage, welche Spielräume es unter den jüngst verabschiedeten gesetzlichen Änderungen für derartiges Engagement künftig überhaupt geben wird und wie sich die vorhandenen Spielräume und Kapazitäten erhalten lassen. Gezielte Mobilitätsprogramme könnten beispielsweise den Austausch zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren aus Georgien, der EU und anderen Ländern der Östlichen Partnerschaft fördern, etwa über Erkenntnisse (lessons learned) aus dem Umgang mit vergleichbaren politischen und gesetzlichen Rahmenbedingungen.
Kooperation kann auch dazu dienen, der Entfremdung zwischen Georgien und der EU, wie sie sich auf der politischen Ebene abbildet, entgegenzuwirken. Jahrzehntelanger enger Austausch hatte zur Folge, dass die Bindungen gerade auf der gesellschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Ebene eng sind und von gemeinsamen Werten getragen werden. Laut dem letzten EU Neighbours East Survey der EU vom März 2024 haben 60 Prozent der Befragten ein positives Bild von der EU, über 80 Prozent gaben an, ihr zu vertrauen. Als Reaktion auf die innenpolitischen Entwicklungen in Georgien haben mehrere europäische Länder, darunter Deutschland, ihre Kooperation zurückgefahren, zuvorderst solche mit Regierungs- und staatlichen Strukturen. Die Herausforderung besteht darin, diese Schritte, etwa im Bildungsbereich oder in der Entwicklungszusammenarbeit, so zu kalibrieren, dass negative Konsequenzen für die georgischen Bürger:innen und die gesellschaftlichen Verflechtungen möglichst gering bleiben.
Die EU sollte strategischer agieren und dazu verstärkt das Instrument der strategischen Vorausschau nutzen. Das würde es ihr erlauben, sich besser auf mögliche zukünftige Entwicklungen einzustellen, konkrete Handlungsoptionen zu entwickeln und für deren Umsetzung intern die Voraussetzungen zu schaffen – wo Einstimmigkeit nicht zu erreichen ist, gegebenenfalls auch durch eine Koalition unterhalb der EU-27. Betreffen könnte das nicht nur den schwindenden Raum für zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit und für unabhängige Medien und damit verbundene Aspekte von Risikominimierung für die Partner, sondern auch die Frage, wie die EU auf ein Verbot der georgischen Oppositionsparteien reagieren würde. Die Möglichkeit eines solchen Verbots haben GT-Vertreter:innen seit 2024 immer wieder kolportiert. Jüngst hat sich ein mögliches Verbot weiter konkretisiert, nachdem eine parlamentarische Untersuchungskommission eingerichtet wurde, welche die Regierungsjahre der Vereinten Nationalen Bewegung (2004–2012) sowie deren Zeit in der Opposition kritisch durchleuchten soll.
Über bilaterale Fragen hinaus
Georgien war über lange Zeit der engste Partner der EU – und auch der Nato – im Südkaukasus, Standort für regional ausgerichtete europäische Initiativen und ein regionaler Fürsprecher der engeren Anbindung an die EU. Die politischen Entwicklungen im Land und als Folge auch im Verhältnis zwischen Brüssel und Tbilisi haben daher über die bilaterale Ebene hinaus Auswirkungen auf die Rolle der EU und auf deren zukünftiges Engagement in der weiteren Region.
Der georgische Fall ist zugleich im Kontext europäischer Sicherheit und Stabilität sowie einer künftigen europäischen Sicherheitsordnung zu betrachten. Dass sich Russlands imperiale, destabilisierende Politik auch auf den Südkaukasus richtet, hat die Vergangenheit gezeigt. Es ist im Interesse der EU, diesen destabilisierenden Einfluss einzudämmen, zumindest aber die Länder dabei zu unterstützen, ihre Abhängigkeiten von Russland zu verringern. Auch jenseits von Russlands Rolle ist die EU herausgefordert, in einer Nachbarschaft zu agieren, in der eine ganze Reihe weiterer Akteure, die das normative Profil der EU nicht teilen, an politischem Gewicht zulegen. Mit Beginn der Vollinvasion der Ukraine und den daraus resultierenden Anpassungen von Transport- und Transitrouten sind der Südkaukasus und Georgien zudem im Lichte wirtschaftlicher Konnektivität stärker ins Blickfeld der EU gerückt. Fragen nach normativen Standards (etwa in Form von Rechtssicherheit), der Heterogenität hieran beteiligter Akteure und regionaler Stabilität überschneiden sich auch bei diesem Thema.
Welche Rolle die EU künftig in und für Georgien und die Region spielen kann, dürfte nicht nur von ihren Instrumenten und Maßnahmen im bilateralen Verhältnis abhängen. Vielmehr scheint diese Rolle eng damit verknüpft zu sein, wie überzeugend die EU in einer sich wandelnden globalen Ordnung agiert und als Akteur in der Region wahrgenommen wird. Das gilt erst recht in einem konfliktiven Umfeld, in dem sich verschiedene, oft nicht der EU gleichgesinnte Akteure zu profilieren suchen, sowie angesichts russischer Hegemonieansprüche, die sich auch auf den Südkaukasus erstrecken.
Die Attraktivität der EU und das Vertrauen in sie ließen sich gegebenenfalls auch mittelbar stärken, nämlich wenn die Integrationsprozesse der weiteren EU-Beitrittskandidaten Erfolgsbeispiele liefern. Dazu müssten diese Prozesse auch auf Seiten der EU mit Elan vorangetrieben werden. Auf diese Weise könnten der EU-skeptischen Diktion des Georgischen Traums der argumentative Boden entzogen und ein positives Narrativ gegenübergestellt werden. Die EU muss daher die Wechselwirkungen ihrer Politik in verschiedenen Regionen im Blick behalten – positive wie negative.
Es gilt, sich durch eigene Konsolidierung, überzeugende Angebote sowie konsequente und zielstrebig umgesetzte Maßnahmen als starker und stringenter Partner aufzustellen und dieses Bild erfolgreich zu vermitteln. Nur dann dürfte die EU als externer Akteur für Georgien – und in der eigenen Nachbarschaft – relevant bleiben.
Dr. Franziska Smolnik ist Senior Fellow der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien. Giorgi Tadumadze ist Forschungsassistent in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
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DOI: 10.18449/2025A26