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Georgien am Scheideweg

Rückbau demokratischer Errungenschaften und Abkehr von prowestlichem Kurs

SWP-Aktuell 2025/A 26, 03.06.2025, 8 Seiten

doi:10.18449/2025A26

Forschungsgebiete

Georgien befindet sich an einer Weggabelung: innenpolitisch durch den Rückbau demokratischer Errungenschaften, außenpolitisch durch eine Rekonfiguration seiner Außenbeziehungen. Beeinflusst werden diese Dynamiken durch geopolitische Dis­ruptionen in der Region und auf globaler Ebene. Im Umgang mit dieser Herausforderung sollte die EU eine bedachtsame Nutzung von Kommunikationskanälen im Sinne der demokratischen und europäischen Zukunft Georgiens prüfen, Kooperations­fragen eng an deren Implikationen für die Bevölkerung knüpfen sowie die Resilienz der georgischen Zivilgesellschaft stärken. Fortschritte anderer EU-Beitrittskandidaten würden EU-skeptische Stimmen schwächen und könnten den gesellschaftlichen Rück­halt für Georgiens europäische Perspektive festigen.

Die Wiedervorlage und Annahme des Gesetzes zur »Transparenz ausländischer Einflussnahme« im Frühjahr 2024 sowie die umstrittenen Parlamentswahlen vom Okto­ber desselben Jahres haben auch außerhalb Georgiens viel Aufmerksamkeit erfahren. Beides ist eher als Symptome denn als Ur­sachen für die politische Krise zu werten. Dennoch handelt es sich um zentrale Weg­marken. Das betrifft vor allem die Staat-Gesellschaft-Beziehungen, die Hinwendung zu autoritären Praktiken sowie die außen­politische Entfremdung Tbilisis von seinen europäischen Partnern. Dass sich Tbilisi weiter von Brüssel distanziert, wurde besonders Ende November 2024 deutlich, als die seit 2012 regierende Partei Georgischer Traum (GT) den EU-Beitrittsprozess des Landes offiziell bis 2028 suspendierte. Begleitet wurden die Entwicklungen auf der politischen Ebene von gesellschaftlichem Protest. Demonstrationen gegen die Ent­scheidung, Georgiens EU-Integration vorerst zu stoppen, halten bis heute an. Die innen­politische Entwicklung in Georgien ist dabei eingebettet in den größeren Umbruch nicht nur der europäischen Sicherheits-, sondern auch der internationalen Ordnung. Daraus ergeben sich spezifische Rückkopplungen.

Innen- und außenpolitische Wende: Maßnahmen, Narrative, Symbolik

Aufschluss über den Kurs des Georgischen Traums geben konkrete Maßnahmen, gezielt verbreitete Narrative sowie Neuerungen bei der politischen Symbolik.

Maßnahmen

Die Parlamentswahl 2024 beschleunigte die Anpassung des politischen Kurses in Geor­gien, die der Georgische Traum schon zuvor eingeleitet hatte, und vertiefte zugleich die innenpolitische Krise. Aus Protest gegen die fragwürdige Durchführung der Wahl haben drei der vier gewählten Oppositionsparteien um die Aufhebung ihrer Mandate gebeten; die vierte boykottiert die Parlamentsarbeit. Sie alle betrachten die Abstimmung als ille­gitim. Das neue Parlament hat sich daher allein aus Abgeordneten des Georgischen Traums konstituiert. Im Februar 2025 ver­ließen drei Abgeordnete die GT-Fraktion. Unter der Bezeichnung »Europäische Sozia­listen« fungieren sie seither als nominelle Opposition. Ein ähnliches Manöver hatten zuvor bereits die Abgeordneten der Partei »Macht des Volkes« vollzogen – zum zweiten Mal, da sie sich auf ähnliche Weise schon 2022 als GT-Ableger ausgegliedert hatten.

Ende 2024 wurde Micheil Kawelaschwili ins Amt des Staatspräsidenten eingeführt. Er folgte Salome Surabischwili, die sich in den letzten Jahren immer stärker und zuletzt klar als Gegengewicht zum Georgi­schen Traum positioniert hatte. Kawela­schwilis Amtsantritt löste Kritik aus, beson­ders bei der politischen Opposition und in weiten Teilen der unabhängigen Zivilgesellschaft. Sie halten das neue Parlament für nicht rechtmäßig – ein Organ, das für die Wahl Kawelaschwilis entscheidend war, nachdem im Zuge einer Verfassungsreform die Direktwahl des Präsidenten durch ein Wahlkollegium ersetzt worden war. Die Personalie Kawelaschwili scheint die außen­politische Kurswende des Georgischen Traums zu bestätigen, steht er doch für EU-kritische und antiliberale Positionen.

Bei den Straßenprotesten gegen den Kurs der aktuellen politischen Führung wurden vielfach Vorwürfe laut, Polizeibeamte oder nicht als solche identifizierbare Sicherheits­kräfte würden unverhältnismäßige Gewalt gegen Demonstrierende anwenden. Hun­derte Demonstrant:innen, darunter Medien­schaffende und Aktivist:innen, wurden im Zuge der Proteste festgenommen. In kürze­ster Zeit verabschiedete das Parlament eine Reihe von Gesetzen, die legalen Protest erschweren: Mit den Gesetzesänderungen wurden der Straftatbestand erweitert, Buß­gelder bei Protesten erhöht und mögliche Administrativhaft von fünf auf sechzig Tage verlängert. Zudem schränkt eine Regierungsverordnung, welche »Autobahnen staatlicher und internationaler Bedeutung« als strategisch bedeutsame Infrastruktur einstuft, den physischen Raum für legalen Protest weiter ein. Kritiker:innen der der­zeitigen politischen Führung sehen in all dem den Versuch, Protest und Mobilisierung einzudämmen. Als Schritte hin zu weiterer Einschränkung des Betätigungsfelds für eine unabhängige Berichterstattung und für die Zivilgesellschaft werten sie auch weitere Initiativen der Regierung. Dazu zählen die keinesfalls minder kontro­verse Nachfolge des umstrittenen Gesetzes zur Transparenz ausländischer Einflussnahme durch eine in den Worten des Geor­gischen Traums »direkte georgische Über­setzung« des amerikanischen Foreign Agents Registration Act (FARA) sowie Maß­nahmen zur stärkeren Regulierung der Medien. Internationale Menschenrechts­organisationen teilen diese Einschätzung.

Die innenpolitische Entwicklung in Georgien hat nicht nur zu Verwerfungen in den Beziehungen mit der EU geführt. Auch das Verhältnis zur Parlamentarischen Ver­sammlung des Europarats (PACE) hat sich stark getrübt. Unter anderem mit Verweis auf demokratische Rückschritte, Menschenrechtsverletzungen im Laufe der Proteste und Zweifel an den Ergebnissen der Parla­mentswahl hat PACE die volle Anerkennung der georgischen Delegation und ihrer Rechte vorerst aufgeschoben. Als Reaktion darauf wiederum hat die georgische Dele­gation ihrerseits einstweilen ihre Teilnahme an PACE eingestellt.

Narrative

Mit Beginn der russischen Vollinvasion der Ukraine im Frühjahr 2022 hat der Georgische Traum das Narrativ verbreitet, es gebe eine »globale Kriegspartei«, die Georgien in einen Krieg mit Russland drängen wolle und von Tbilisi verlange, eine »zweite Front« zu eröffnen. Der Georgische Traum hat es sich als Verdienst zugeschrieben, diesem Drängen durch eine kluge und zurück­haltende Politik stand- und Georgien damit aus Russlands Krieg herauszuhalten.

Zuletzt hat der Georgische Traum sein Narrativ angepasst. Der Gebrauch des Ter­minus »globale Kriegspartei« wird zunehmend überlagert, indem immer öfter von einem angeblich global agierenden, all­gegenwärtigen »Deep State« gesprochen wird. Auf welche Akteure der Georgische Traum mit dieser Chiffre für eine Art (Schatten-)Staat im Staat konkret Bezug nimmt, bleibt ähnlich diffus wie bei ihrem terminologischen Vorgänger »globale Kriegspartei«. Der »Deep State« scheint prin­zipiell überall zu wirken und wird vom Georgischen Traum vor allem dort vermu­tet, wo ihm gegenüber Kritik laut wird. So geschah es nicht zuletzt mit Brüssel, wo das Europäische Parlament im Februar 2025 eine äußerst kritische Resolution verabschiedet hat, in der es der GT-Regierung die Legitimität abspricht.

»Globale Kriegspartei« und »Deep State« drücken wesentliche Topoi des Euroskeptizismus des Georgischen Traums aus. Wäh­rend er sich zunächst immer stärker gegen eine spezifisch liberale Ausprägung von »Europa« positionierte und stattdessen eine »wahre« konservative Version verfocht, wirft die Suspendierung des EU-Beitritts­prozesses grundlegendere Fragen zu Geor­giens außenpolitischer Orientierung auf.

Symbolik

Auch ikonographisch lässt sich ein Wandel feststellen. Georgiens euroatlantische Aus­richtung seit der Amtszeit Micheil Saaka­schwilis als Staatspräsident ab 2004 war symbolisch unterfüttert durch die extensive Verwendung und Präsentation der EU-Flagge. An bedeutenden offiziellen Einrich­tungen, inklusive des Parlaments, hing sie neben der georgischen Fahne. Damit wurde zwar nicht der Ist-Zustand der euroatlantischen Integration Georgiens dargestellt – und manche wiesen darauf hin, die Flagge symbolisiere gleichermaßen den Europarat, dessen Mitglied Georgien ist. Dennoch ver­sinnbildlichte ihre Verwendung die politi­schen Ambitionen der georgischen Regie­rung, auch lange die des Georgischen Traums, und weiter Teile der georgischen Gesellschaft, nämlich ihr Land in die EU zu führen. In starkem Kontrast dazu steht die visuelle Ausstattung der Inauguration Micheil Kawelaschwilis. Die Bühne zu bei­den Seiten war eng gesäumt mit einem Spalier aus weiß-roten Fünfkreuzfahnen. Dagegen suchte man die EU-Farben Blau und Gelb vergeblich. Zwar ist die EU-Fahne in Tbilisis Stadtbild weiterhin allgegenwärtig, allerdings nun oft eher als politisches Graffito oder Statement bei den Protesten denn an offiziellen Gebäuden oder bei offi­ziellen Anlässen. Die Veränderung in der politischen Bildsprache kann als Teil der politischen Kommunikation gesehen wer­den und unterstreicht das Narrativ des Georgischen Traums, wonach das Land sich auf sich selbst, seine nationalen Interessen sowie seine Souveränität und nationale Identität besinnen müsse.

Die symbolische Ebene spielt auch in Bezug auf die Außenpolitik des Georgischen Traums eine Rolle. Nicht zuletzt in Form performativen Handelns zeichnet sich dort eine Wende ab, mit viel beachteten Reisen von Vertreter:innen des Georgischen Traums in die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), nach Iran, Zentralasien oder China. Zwar ist über die sechs Milliarden US-Dollar schwere Kooperationsvereinbarung, die Premier Kobachidse Ende Januar 2025 von seiner Reise in die VAE mitbrachte, derzeit noch wenig Konkretes bekannt. Und auch der Stand der bilateralen Beziehungen zu China scheint (noch) hinter dem offiziell vermittelten Bild zurückzubleiben, un­geachtet einer freilich beachtlichen Dyna­mik in den letzten Jahren. Seit 2023 sind die beiden Länder durch ein strategisches Partnerschaftsabkommen verbunden. An­stelle des ursprünglich vorgesehenen ame­rikanischen Konsortiums soll nun ein chi­nesisch-singapurisches den Tiefseehafen in Anaklia bauen. Sowohl wirtschaftliche als auch kulturell-bildungspolitische Verflechtungen nehmen zu. Zusammen mit der weiteren Normalisierung der Beziehungen zu Russland bei Wirtschaft und Handel – ein Bereich, in dem die EU als Partner hinter den in sie gesetzten Erwartungen zurückblieb – scheinen diese Entwicklungen auf eine außenpolitische Neuorientierung hinzudeuten. Tbilisis jahrelange Bestrebungen, Georgien als Teil Europas – und letztlich der EU – zu verankern, werden überschrieben durch neue außen­politische Verflechtungen, die Georgiens Zukunft, so georgische Kommentator:in­nen, eher als »eurasisch« oder mindestens »multivektoral« erscheinen lassen.

Geopolitischer Resonanzraum

Die Entwicklungen in Georgien fallen in eine Zeit geopolitischer Disruptionen sowie globaler Trends, die dem Handeln und der Rhetorik des Georgischen Traums einen spezifischen Resonanzkörper geben. Das sind insbesondere Russlands Vollinvasion der Ukraine, die dadurch bedingte Erosion der europäischen Sicherheitsordnung und die daraus folgende Zunahme sicherheitspolitischer Prekarität sowie der globale Trend zur Autokratisierung. Hinzu kam jüngst der (außen-)politische Kurswechsel der USA unter Präsident Trump. Zwar scheint es dem Georgischen Traum bislang nicht gelungen zu sein, die vormals engen Beziehungen zu den USA unter der zweiten Administration Trump wiederherzustellen. Eigentlich hatte die GT-Führung einen un­mittelbaren Reset in den bilateralen Bezie­hungen angekündigt, sobald die neue US-Administration im Amt ist. Als Grundlage dafür sollten geteilte rechtskonservative Positionen dienen. Trumps Wahlversprechen, Russlands Krieg gegen die Ukraine binnen 24 Stunden zu beenden, präsentierte der Georgische Traum zudem als kon­gruent mit seinem Diktum, eine »zweite Front« zu vermeiden. Zwar steht ein echter Neustart weiterhin aus, und dieser ist mit der Annahme des kritischen Megobari-Gesetzesentwurfs (Mobilizing and Enhanc­ing Georgia’s Options for Building Account­ability, Resilience, and Independence) durch das US-Repräsentantenhaus nicht näher gerückt. Dennoch sucht der Geor­gische Traum die mittelbare Kongruenz der Positionen mit den USA produktiv zu nut­zen. So etwa passt es in und untermauert es das GT-Narrativ, wonach sich das Land vor ausländischer Einflussnahme und »libe­ralen Ideologien« schützen müsse, wenn die neue US-Regierung die Arbeit von USAID stoppt, zumindest aber stark einschränkt, und das auch damit begründet, dass USAID eine »kriminelle Organisation« sei, eine »Tarnorganisation«, mit der radikale linke Positionen im Ausland verbreitet werden sollen. Ähnliches gilt für die Kürzungen beim Auslandssender Voice of America bzw. Radio Free Europe/Radio Liberty. Auch die Rede vom »Deep State« ist stark an­schlussfähig an die Rhetorik der US-Republikaner und ihrer Anhängerschaft. Der US-amerikanische Politikwechsel dürfte in dieser Hinsicht nicht nur den innen­politischen Kurs des Georgischen Traums stützen, sondern ihm auch Recht geben in seiner Antizipation zukünftiger globaler Machtverhältnisse sowie (supra-)regionaler Ordnungen. Die EU, zumindest als liberal-normative Macht, scheint in dieser Neu­konfiguration in der Wahrnehmung des Georgischen Traums kein zentraler Pol zu sein, der ausreichend Anziehungskraft und Einfluss entfalten könnte, zumal angesichts sicherheitspolitischer Herausforderungen, mit denen sich die EU konfrontiert sieht, und bröckelnder euroatlantischer Solidarität. Georgische Kommentator:innen betonen dies hinlänglich. Hinzu kommt freilich, dass die Wiederaufnahme des EU-Beitritts­prozesses mit umfassenden Reformen ver­bunden ist und quasi einer Kehrtwende gegenüber dem aktuellen Kurs gleichkäme. Dafür gibt es derzeit auf Seiten des Georgi­schen Traums wenig Anzeichen – und ein geopolitisches Umfeld, das aus seiner Sicht kaum Anreize dafür bieten dürfte.

Gesellschaftliche Stimmungen

Wie blickt die georgische Bevölkerung auf diese Entwicklungen? Wie stark ist die Unterstützung für den Georgischen Traum bzw. die politische Opposition? Und wie hoch ist die Zustimmung in der Gesellschaft zum Protest? Antworten auf diese Fragen werden dadurch erschwert, dass es kaum öffentlich zugängliche aktuelle Meinungsumfragen gibt. Früher waren es die US-finanzierten National Democratic Institute und International Republican Institute, die für Georgien regelmäßig und daher über Zeit vergleichbare repräsentative Bevölkerungsumfragen zu politischen Einstellungen, dem Kurs der aktuellen politischen Führung und den außenpolitischen Präfe­renzen in Auftrag gaben und die Ergebnisse publizierten. Mittlerweile haben sie diese Aktivitäten jedoch eingestellt – eine Folge des Rückbaus der US-amerikanischen Ent­wicklungszusammenarbeit.

Es fällt auf, dass die politische Oppo­sition in den letzten Monaten kaum in Erscheinung getreten ist. Schon die Parla­mentswahlen hinterließen den Eindruck, dass die Oppositionsparteien auf die Zeit nach der Wahl und auf verschiedene mög­liche Szenarien strategisch wenig vorbereitet waren. Zwar gab es vor und nach den Parlamentswahlen Bemühungen, gemein­same Positionen zu finden, nicht zuletzt vis-à-vis dem Georgischen Traum, um mittels Geschlossenheit zu punkten. Doch sie scheinen wenig gefruchtet zu haben. Vielmehr erhärtet sich das Bild der politi­schen Opposition als notorisch uneins und fragmentiert. Die Vereinte Nationale Bewe­gung, Partei des früheren Präsidenten Saa­kaschwili, ist jenseits ihrer Kernklientel für viele Georgier:innen nicht wählbar. Vor allem zum Ende von Saakaschwilis Amts­zeit 2013 hatte sie sich in der Wahrnehmung vieler durch autoritäre Praktiken dis­kreditiert. Aber auch den anderen Parteien ist es nicht gelungen, in der Breite positive Resonanz und Zuspruch zu erzeugen. Salome Surabischwili, die versucht hatte, sich als einigende Kraft auf Seiten der Opposition zu positionieren, und den Pro­zess eines strategischen Zusammenschlusses forcierte, hat mit Auszug aus dem Präsi­dentenpalast erheblich an Sichtbarkeit ver­loren. Folglich mangelt es in der politischen Opposition an überzeugendem Führungspersonal und strategischer Ausrichtung.

Gemäß einer Umfrage des georgischen Institute of Social Studies and Analysis (ISSA) vom Januar 2025, dem einzigen der­artigen Survey, der seit den Parlaments­wahlen veröffentlicht wurde, befinden fast zwei Drittel der Befragten, dass sich das Land in die falsche Richtung entwickelt. Knapp 78 Prozent sehen den Grund für die politische Krise beim Georgischen Traum. Bei anderen innenpolitischen Aspekten offenbart sich die gesellschaftliche Polarisie­rung, etwa in der Frage nach der Legitimität der Regierung oder des Präsidenten. Laut der Umfrage unterstützt eine Mehrheit der Befragten die Proteste. Nichtregierungs­organisationen dagegen – die eine unüber­hörbare Stimme im Protest gegen die Regie­rung sind – werden nur von etwas mehr der Befragten (36 Prozent) positiv statt nega­tiv (30 Prozent) gesehen. Überlagert werden innenpolitische Themen allerdings wie schon früher von sozioökonomisch beding­ten Sorgen: Als drängendste Probleme wur­den in der Umfrage am häufigsten und mit weitem Abstand hohe Preise (46,5 Prozent) und Arbeitslosigkeit (42,1 Prozent) genannt. Georgische Ökonom:innen blicken auf­grund der politischen Situation und beson­ders des ausgesetzten Beitrittsprozesses durchaus pessimistisch in die Zukunft. Gleichzeitig blieben die Reaktionen aus der Wirtschaft auf die aktuellen politischen Entwicklungen eher verhalten. Die im Zuge der Proteste ausgerufenen Streiks erhielten nur zeitlich und örtlich begrenzten Zulauf.

In der Vergangenheit haben Meinungsumfragen Unterschiede zwischen Stadt, allen voran der Hauptstadt Tbilisi, und Land aufgezeigt. Gemäß dem Caucasus Barometer von April/Mai 2024 etwa nah­men Befragte in der Hauptstadt die poli­tische Instabilität im Vergleich öfter als zentrale Herausforderung wahr und äußerten sich unzufriedener mit dem innenpolitischen Kurs des Landes. Auch zwischen den Generationen bildeten sich Unterschiede ab, etwa im geringeren An­klang des Georgischen Traums bei der jün­geren Generation. Diese Aspekte dürften weiterhin relevant sein.

Implikationen für die EU

Die EU steht angesichts der Entwicklungen in Georgien vor einer Reihe drängender Fragen, für die sie rasch überzeugende Antworten finden sollte.

Der georgische Fall verdeutlicht, dass selbst in der eigenen Nachbarschaft der transformative Ansatz der EU auf politischer Ebene nur begrenzte Wirkkraft hat. Dass Brüssels Einfluss, wenn der politische Wille auf Partnerseite fehlt, gering ist, hatte 2021 bereits der Verzicht der GT-Regierung auf die an Reformen gekoppelte EU-Makro­finanzhilfe nahegelegt. Auch die in den letzten Monaten als Reaktion auf den Kurs der georgischen Führung unternommenen Schritte haben bislang nicht zu einer Kurs­änderung des Georgischen Traums geführt. Zu den Maßnahmen auf EU-Ebene gehören das Einfrieren der bilateralen Budgetunterstützung und der Hilfe im Rahmen der European Peace Facility sowie das Aussetzen der Visumsfreiheit für georgische Amts­personen und Diplomat:innen. Einzelne EU-Mitgliedstaaten haben zudem etwa Einreisesperren für individuelle Offizielle verhängt und in der Entwicklungszusammenarbeit gekürzt. Auf weitergehende Schritte wie etwa EU-weite personenbezogene Sanktionen konnten sich die EU-Staaten nicht einigen, weil dafür Einstimmigkeit notwendig gewesen wäre. Unterhalb der EU-27 fehlte es ebenfalls oft an Kohärenz und klarer Strategie.

Wie weiter?

In Reaktion auf die demokratischen Rück­schritte hatte die EU im Sommer 2024 Kon­takte auf höchster Ebene mit offiziellen Vertreter:innen Georgiens eingestellt. Ob die EU den Georgischen Traum nach der Parlamentswahl als legitime Regierung anerkennt, ist offen; das Weimarer Dreieck, also Berlin, Paris und Warschau, vermeidet etwa in seinen Statements eine solche Fest­legung. Einerseits verringert der aufs Mini­mum reduzierte Kontakt der westlichen Partner den internationalen Handlungsspielraum Georgiens und hält die Zweifel an der ordnungsgemäßen Durchführung der Wahl aufrecht. Andererseits stellt sich die Frage, ab wann dieser Status quo den Einfluss der EU eher noch schmälert. Unter der Administration Trump scheinen die USA ihre »Kontaktsperre« zumindest ge­lockert zu haben. Im Frühjahr traf sich die US-Botschafterin in Tbilisi zum einen mit der georgischen Außenministerin, zum anderen mit dem Wirtschaftsminister des Landes, der zugleich als Erster Vizepremier­minister amtiert. Auch angesichts der Diffe­renzen zwischen Brüssel und Washington, die sich unter Präsident Trump offenbaren, könnte der fortgesetzte Verzicht auf direkte Kommunikation und Dialog die EU weiter ins Abseits bringen – und damit möglicherweise dem erklärten Ziel, die georgische Gesellschaft in ihrem Streben nach enger Anbindung an die EU zu unterstützen und demokratische Kräfte zu stärken, einen Bärendienst erweisen. In Brüssel sollte man daher mit Blick auf die aktuellen Dynamiken überlegen, ab wann, auf welche Art und Weise sowie zu welchen Themen eine Wiederherstellung direkter Kanäle für poli­tisch-diplomatischen Austausch im eigenen Interesse und im Sinne der demokratischen und europäischen Zukunft Georgiens wäre. Wichtig für effektive Kommunikation, die zudem keiner Rückkehr zum »Business as usual« gleichkäme, wäre eine klare Positio­nierung und möglichst große Geschlossenheit der EU, nicht zuletzt damit einzelne Mitgliedstaaten oder die EU-Institutionen nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Auch in anderer Hinsicht steht die EU vis-à-vis Georgien vor der Herausforderung, Zielkonflikte zwischen normativen An­sprüchen und real- bzw. geopolitischen Ansätzen durch eine konsequente, voraus­schauende und anpassungsfähige Politik auszubalancieren. Georgische zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenrechte oder Medienfreiheit engagieren – also Themen, die auch auf der Agenda der EU stehen und Teil des weiter bestehenden Assoziierungsabkommens mit Georgien sind –, sehen eine normativ ausgerichtete EU als Partner. Folgerichtig messen sie die Union an ihrem normativen Anspruch und damit auch an ihrem Umgang mit den aktuellen Entwicklungen in Georgien. Ent­sprechend ihrer Ankündigung hat die EU begonnen, Finanzhilfen, die ursprünglich an die Regierung hätten gehen sollen, zu­gunsten der georgischen Zivilgesellschaft umzuleiten. Die Zivilgesellschaft und die unabhängigen Medien stehen stark unter Druck, vor allem durch die vom Staat betriebene Verengung ihres Betätigungsfelds, aber auch durch den massiven Rück­zug von USAID. Vor diesem Hintergrund ist es konsequent, dass die EU zivilgesellschaftliche Akteure verstärkt finanziell unterstützen möchte, und die Bedarfe sind infolge des Wegfalls von USAID umso größer. Die Unterstützung sollte möglichst unbürokratisch bereitgestellt werden und Kritik an zurückliegenden Programmen aufnehmen – zum Beispiel was die Bal­lung von Initiativen in der Hauptstadt, hohe bürokratische Hürden für Graswurzel-Organisationen und geringer budgetierte Projekte oder die Ausrichtung an Geber­agenden betrifft, die mitunter an den drin­genden Bedürfnissen der Menschen vor Ort vorbeigehen. Zudem sollte darauf geachtet werden, dass unterstützende Maßnahmen in der Zivilgesellschaft selbstbestimmte Entwicklung statt Abhängigkeit fördern. Auch dies stärkt letztlich die zivilgesellschaftliche Resilienz.

Gleichzeitig allerdings stellt sich für die EU die Frage, welche Spielräume es unter den jüngst verabschiedeten gesetzlichen Änderungen für derartiges Engagement künftig überhaupt geben wird und wie sich die vorhandenen Spielräume und Kapazi­täten erhalten lassen. Gezielte Mobilitätsprogramme könnten beispielsweise den Austausch zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren aus Georgien, der EU und ande­ren Ländern der Östlichen Partnerschaft fördern, etwa über Erkenntnisse (lessons learned) aus dem Umgang mit vergleich­baren politischen und gesetzlichen Rah­menbedingungen.

Kooperation kann auch dazu dienen, der Entfremdung zwischen Georgien und der EU, wie sie sich auf der politischen Ebene abbildet, entgegenzuwirken. Jahr­zehntelanger enger Austausch hatte zur Folge, dass die Bindungen gerade auf der gesellschaftlichen und zivilgesellschaft­lichen Ebene eng sind und von gemeinsamen Werten getragen werden. Laut dem letzten EU Neighbours East Survey der EU vom März 2024 haben 60 Prozent der Be­fragten ein positives Bild von der EU, über 80 Prozent gaben an, ihr zu vertrauen. Als Reaktion auf die innenpolitischen Entwicklungen in Georgien haben mehrere euro­päische Länder, darunter Deutschland, ihre Kooperation zurückgefahren, zuvorderst solche mit Regierungs- und staatlichen Strukturen. Die Herausforderung besteht darin, diese Schritte, etwa im Bildungs­bereich oder in der Entwicklungszusammenarbeit, so zu kalibrieren, dass negative Konsequenzen für die georgischen Bür­ger:innen und die gesellschaftlichen Ver­flechtungen möglichst gering bleiben.

Die EU sollte strategischer agieren und dazu verstärkt das Instrument der strate­gischen Vorausschau nutzen. Das würde es ihr erlauben, sich besser auf mögliche zukünftige Entwicklungen einzustellen, konkrete Handlungsoptionen zu entwickeln und für deren Umsetzung intern die Vor­aussetzungen zu schaffen – wo Einstimmigkeit nicht zu erreichen ist, gegebenen­falls auch durch eine Koalition unterhalb der EU-27. Betreffen könnte das nicht nur den schwindenden Raum für zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit und für un­abhängige Medien und damit verbundene Aspekte von Risikominimierung für die Partner, sondern auch die Frage, wie die EU auf ein Verbot der georgischen Oppo­sitionsparteien reagieren würde. Die Mög­lichkeit eines solchen Verbots haben GT-Vertreter:innen seit 2024 immer wieder kolportiert. Jüngst hat sich ein mögliches Verbot weiter konkretisiert, nachdem eine parlamentarische Untersuchungskommis­sion eingerichtet wurde, welche die Regie­rungsjahre der Vereinten Nationalen Bewe­gung (2004–2012) sowie deren Zeit in der Opposition kritisch durchleuchten soll.

Über bilaterale Fragen hinaus

Georgien war über lange Zeit der engste Partner der EU – und auch der Nato – im Südkaukasus, Standort für regional aus­gerichtete europäische Initiativen und ein regionaler Fürsprecher der engeren Anbin­dung an die EU. Die politischen Entwicklungen im Land und als Folge auch im Ver­hältnis zwischen Brüssel und Tbilisi haben daher über die bilaterale Ebene hinaus Auswirkungen auf die Rolle der EU und auf deren zukünftiges Engagement in der wei­teren Region.

Der georgische Fall ist zugleich im Kon­text europäischer Sicherheit und Stabilität sowie einer künftigen europäischen Sicher­heitsordnung zu betrachten. Dass sich Russ­lands imperiale, destabilisierende Politik auch auf den Südkaukasus richtet, hat die Vergangenheit gezeigt. Es ist im Interesse der EU, diesen destabilisierenden Einfluss einzudämmen, zumindest aber die Länder dabei zu unterstützen, ihre Abhängigkeiten von Russland zu verringern. Auch jenseits von Russlands Rolle ist die EU herausgefordert, in einer Nachbarschaft zu agieren, in der eine ganze Reihe weiterer Akteure, die das normative Profil der EU nicht teilen, an politischem Gewicht zulegen. Mit Beginn der Vollinvasion der Ukraine und den dar­aus resultierenden Anpassungen von Trans­port- und Transitrouten sind der Südkauka­sus und Georgien zudem im Lichte wirt­schaftlicher Konnektivität stärker ins Blick­feld der EU gerückt. Fragen nach normati­ven Standards (etwa in Form von Rechts­sicherheit), der Heterogenität hieran betei­ligter Akteure und regionaler Stabilität über­schneiden sich auch bei diesem Thema.

Welche Rolle die EU künftig in und für Georgien und die Region spielen kann, dürfte nicht nur von ihren Instrumenten und Maßnahmen im bilateralen Verhältnis abhängen. Vielmehr scheint diese Rolle eng damit verknüpft zu sein, wie überzeugend die EU in einer sich wandelnden globalen Ordnung agiert und als Akteur in der Region wahrgenommen wird. Das gilt erst recht in einem konfliktiven Umfeld, in dem sich ver­schiedene, oft nicht der EU gleichgesinnte Akteure zu profilieren suchen, sowie ange­sichts russischer Hegemonieansprüche, die sich auch auf den Südkaukasus erstrecken.

Die Attraktivität der EU und das Vertrauen in sie ließen sich gegebenenfalls auch mit­telbar stärken, nämlich wenn die Inte­gra­tionsprozesse der weiteren EU-Beitritts­kandidaten Erfolgsbeispiele liefern. Dazu müssten diese Prozesse auch auf Seiten der EU mit Elan vorangetrieben werden. Auf diese Weise könnten der EU-skeptischen Diktion des Georgischen Traums der argu­mentative Boden entzogen und ein posi­tives Narrativ gegenübergestellt werden. Die EU muss daher die Wechselwirkungen ihrer Politik in verschiedenen Regionen im Blick behalten – positive wie negative.

Es gilt, sich durch eigene Konsolidierung, überzeugende Angebote sowie konsequente und zielstrebig umgesetzte Maßnahmen als starker und stringenter Partner aufzustellen und dieses Bild erfolgreich zu vermitteln. Nur dann dürfte die EU als externer Akteur für Georgien – und in der eigenen Nach­barschaft – relevant bleiben.

Dr. Franziska Smolnik ist Senior Fellow der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien. Giorgi Tadumadze ist Forschungsassistent in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

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