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EU-Erweiterung: Ein Sechs-Prozent-Ziel für die Westbalkanstaaten

Nur wenn es den Westbalkanländern gelingt, ihre jährlichen Wachstumsraten zu verdoppeln, besteht Hoffnung, die Krise in der Region zu überwinden. Dafür ist ein grundlegender Neuansatz der EU-Erweiterungspolitik notwendig, sagen Tobias Flessenkemper und Dušan Reljić.

Kurz gesagt, 23.06.2017 Forschungsgebiete

Nur wenn es den Westbalkanländern gelingt, ihre jährlichen Wachstumsraten zu verdoppeln, besteht Hoffnung, die fast dreißigjährige Krise in der Region zu überwinden. Dafür ist ein grundlegender Neuansatz der EU-Erweiterungspolitik notwendig, sagen Tobias Flessenkemper und Dušan Reljić.

Die Volkswirtschaften der Westbalkanländer müssten jährlich um mindestens sechs Prozent wachsen, um Ende der 2030er Jahre den EU-Durchschnitt zu erreichen, so die Analyse der Weltbank. Nach einem Jahrzehnt ohne Zuwachs liegt die durchschnittliche Wachstumsrate heute bei kaum drei Prozent. Die Angleichung der Wirtschaftsleistung ist so nicht erreichbar. Sie ist aber notwendig, um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu stärken – eine Bedingung für den EU-Beitritt. Stattdessen nimmt das Wohlstandgefälle zu Westeuropa zu und macht die Länder noch anfälliger für Populismus, Nationalismus und andere antieuropäische Strömungen.

Die mangelnden Erfolge der EU-Erweiterungspolitik im Westbalkan sind nicht schönzureden, auch wenn in Brüssel auf die Eröffnung neuer Verhandlungskapitel mit Montenegro und Serbien oder auf das 4. Gipfeltreffen führender EU-Staaten mit den Beitrittskandidaten im Rahmen des »Berliner Prozesses« in Triest am 12. Juli verwiesen wird. Viele Menschen in der Region hegen den Verdacht, dass die EU ihrer Region einzig dann Aufmerksamkeit schenkt, wenn sie als Krisenherd herhalten kann, der Risiken für die EU birgt: als Migrationskorridor, als Hort organisierter Kriminalität, Rückzugsgebiet islamistischer Gewalttäter oder als Nebenschauplatz der Auseinandersetzungen des Westens mit Moskau.

Der Washington-Konsens verpufft auf dem Balkan

Dabei haben die Westbalkanländer die grundlegenden von der EU, der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds nach den Vorgaben des sogenannten Washington-Konsens geforderten Reformen im Wesentlichen umgesetzt: Sie haben ihre Märkte für die EU geöffnet, ihre Wirtschaft privatisiert und liberalisiert und halten sich an die geforderte Austeritätspolitik. Ziel des Konsens ist, dass die Reformen in Kombination mit der schrittweisen Anpassung an das Gesetzeswerk und die politischen Richtlinien und Aktivitäten der EU zu Marktwirtschaften und der politischen Befähigung zur EU-Mitgliedschaft führen.

In der Tat hat sich die »unsichtbare Hand des Marktes« bemerkbar gemacht, aber nicht so, wie in den Transitions-Blaupausen vorgesehen. Vetternwirtschaft und eine leistungsschwache öffentliche Verwaltung verhindern vielerorts die Anpassung an das politische und wirtschaftliche Umfeld in Europa.  Es rächt sich die verfehlte Privatisierungspolitik der 1990er Jahre, in deren Zuge das Gemeinschaftseigentum erst verstaatlicht und dann in die Hände weniger, vor allem politisch vernetzter sogenannter »Tycoons« gelangte. Seitdem werden die Volkswirtschaften ausgeplündert – die laufenden Prozesse um die Mega-Holdings »Agrokor« in Kroatien und »Delta« in Serbien sind nur die zwei bekanntesten Beispiele.

Das Hauptproblem allerdings ist der Hemmschuh in Form der Strukturen der wirtschaftlichen Beziehungen zum EU-Kern, der die Region ausbremst. Die Finanz- und Handelsbeziehungen, die geografische Lage und die politische Anbindung an die EU machen den Westbalkan faktisch schon längst zu einem Teil der Union – allerdings ohne Stimmrecht und mit etlichen Nachteilen. Von einem Aufholprozess kann nicht gesprochen werden: Industrien sind verschwunden, da sie der Konkurrenz aus der EU nicht standhalten konnten; die Auslandsverschuldung wächst, die Arbeitslosigkeit bleibt zu hoch, fast jeder zweite unter 30 hat keinen Job. Es breitet sich ein aufgeblähter Verwaltungs- und Dienstleistungssektor mit geringer Wertschöpfung aus. Zudem wird unzureichend investiert, vor allem in Bildung sowie Forschung und Entwicklung. So können weder ausreichend exportierbare Güter und Dienstleistungen hergestellt noch die bestehende Infrastruktur, wie etwa die Autobahnen, die die südlichen EU-Länder, die Türkei und den Mittleren Osten mit dem EU-Kern verbinden, bewahrt werden. Der Auswanderungsdruck lässt nicht nach und zieht die aktive und gut ausgebildete Bevölkerung in den EU-Kern.

Die Auslandsverschuldung mit all ihren Folgen erklärt sich aus dem Handelsbilanzdefizit von insgesamt 98 Milliarden Euro, das die kleinen, offenen Volkswirtschaften zwischen 2005 und 2016 mit der EU anhäuften. Um diesen Fehlbetrag auszugleichen, haben sich die Westbalkanländer  im Ausland enorm verschuldet, wiederum vor allem bei Banken aus der EU. Diese kontrollieren auch den größten Teil des Bankensektors in der Region selbst, so dass sie nicht nur an den Krediten für die Staaten, sondern auch an Wirtschaft und Bevölkerung verdienen.

In dieser Situation ist die weitere EU-Integration für die Menschen in Südosteuropa kein Versprechen mehr. Ein Blick zum Nachbarn Griechenland nährt ihre Zweifel zusätzlich, ob das derzeitige EU-Modell das passende für sie ist.

Integration des Westbalkans könnte Gewinn für EU sein

Was die EU-Beitrittskandidaten im Westbalkan dringend brauchen, ist eine Entwicklungsperspektive und mehr öffentliche Investitionen, um die jährliche Wachstumsrate auf mindestens sechs Prozent zu verdoppeln. Dafür sollten sie bald Zugang zu den EU-Strukturfonds erhalten, sich an EU-Finanzstabilitätsmechanismen beteiligen dürfen und in jeder weiteren Hinsicht als Teil des EU-Integrationsprojekts behandelt werden. Es liegt im wirtschaftlichen Eigeninteresse der EU, dass die Region attraktiver für Handel und Investitionen wird und die Verkehrs-, Energie- und Digitalnetze in Südosteuropa zusammenwachsen. Auch der Migrationsdruck aus der Region würde nachlassen. Der mögliche politische Gewinn liegt ebenso klar auf der Hand: Die Stärkung der regionalen Sicherheit in Südosteuropa würde das Ansehen der EU in Zeiten stärken, da die Geopolitik wieder an Bedeutung gewonnen hat. Das EU-Demokratiemodell könnte neue Anziehungskraft entfalten und damit den Einfluss anderer Akteure wie Russlands, der Türkei oder islamischer Staaten – und auch der unberechenbaren Trump-Administration – eindämmen.

Die Neuausrichtung der Politik gegenüber Südosteuropa muss jetzt vorbereitet werden. Im Jahr 2019 beginnt ein neuer »institutioneller Zyklus« der EU mit Europawahlen, einer neuen Kommission und einem neuen EU-Haushalt. Der Austritt Großbritanniens könnte Raum für eine aktivere Struktur- und Kohäsionspolitik schaffen. Ziel der neuen EU27 sollte die Integration der Länder des westlichen Balkans sein. Mit einem Erfolg ihres Wirtschafts- und Sozialmodells in der Region würde die EU zu neuer Strahlkraft als strategisch denkender und handelnder Akteur gelangen, der es vermag, die Lebensbedingungen in Europa tatsächlich anzugleichen.

Tobias Flessenkemper leitet das Balkanprojekt des Centre international de formation européenne (CIFE), Nizza. Dušan Reljić leitet das SWP-Büro in Brüssel. 

Der Text ist auch bei EurActiv.de erschienen.