Noch steht nicht fest, ob das Asyl- und Migrationspaket der EU-Kommission vor den Europawahlen 2024 verabschiedet werden kann; viele Elemente bleiben im Rat sowie zwischen Rat und Parlament umstritten. Angesichts der hitzigen Debatte über die asyl- und migrationspolitische Handlungsfähigkeit der EU und der Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien steht viel auf dem Spiel. Die ursprünglich angestrebte Balance von restriktiven und schutzorientierten Elementen wurde im Rat deutlich in Richtung Abschreckung verschoben. Aktuell zeigt sich das insbesondere bei der sogenannten Krisen-Verordnung. Die Bundesregierung sollte sich in den weiteren Verhandlungen dafür einsetzen, dass diese Verordnung nicht für sachfremde Ziele instrumentalisiert wird, dass mit Blick auf das gesamte Reformpaket die Überwachung grundrechtlicher Standards glaubwürdiger und robuster wird und dass sich die EU mit den Reformen nicht noch abhängiger von autokratischen Drittstaaten macht.
Mit einem Machtwort hat Bundeskanzler Olaf Scholz deutlich gemacht, dass Deutschland sich trotz Widerspruchs von Teilen der Regierungskoalition nicht weiter gegen umstrittene Elemente der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) stellen wird. Dies hat zwangsläufig die deutschen Spielräume bei den Verhandlungen über den von der EU-Kommission im Herbst 2020 vorgeschlagenen »Pakt für Migration und Asyl« begrenzt, ein weiteres Engagement der Bundesregierung für einen wirkungsvollen Pakt aber nicht obsolet gemacht.
Im Juni 2023 war im EU-Rat bereits überraschend eine vorläufige Einigung auf zwei zentrale Verordnungen gelungen: die zu den Asylverfahren (Asylverfahrens-VO) und jene zum Asyl- und Migrationsmanagement (Asylmanagement-VO). Polen und Ungarn wurden per Mehrheitsbeschluss überstimmt, um die langjährige Blockade zu durchbrechen.
Dieser Beschluss hatte Hoffnungen geweckt, dass noch vor den Europawahlen im Juni 2024 eine Einigung auf ein umfassendes Reformpaket mit über zehn Rechtsakten gelingen könnte. Die aktuelle politische Debatte zeigt jedoch, dass es schwierig bleibt, dieses Ziel zu erreichen. Denn auf der einen Seite verschärfen die steigenden Zahlen irregulär Zuwandernder die zusehends rechtspopulistisch getriebene Migrationspolitik in vielen Mitgliedstaaten, etwa in Italien. Auf der anderen Seite gibt es beispielsweise in der Ampel-Koalition in Deutschland weiterhin Bedenken. Im Reformpaket ist die Verordnung zur Bewältigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl (Krisen-VO) besonders umstritten.
Politische Entscheiderinnen und Entscheider stehen in den kommenden Wochen vor der Herausforderung, eine ungewöhnlich große Anzahl komplexer und miteinander verbundener Rechtsakte sowie dicht verwobene politische Zusammenhänge bewerten zu müssen.
Die GEAS-Reform
Das GEAS wurde in der aktuell geltenden Form vor rund zehn Jahren beschlossen. Schon kurz darauf wurde im Rahmen der sogenannten Flüchtlingskrise in der EU deutlich, dass es den Ansprüchen nicht gerecht werden kann: Die größten Probleme sind nach wie vor die ungleiche Lasten- und Verantwortungsteilung und die faktische Dysfunktionalität des Dublin-Systems, dem zufolge der Staat der Ersteinreise in der Regel für die Bearbeitung des Asylgesuchs verantwortlich ist. Die Kapazitäten in den Staaten an den EU-Außengrenzen sind hierfür oft unzureichend: Die Bearbeitung der Gesuche dauert zu lange. Die Rechte, die Standards für Schutz und Unterbringung und die Zukunftsperspektiven für Asylsuchende fallen in den Mitgliedstaaten höchst unterschiedlich aus und liegen häufig weit unter dem Niveau, das menschenrechtlich vertretbar ist. Diese Unterschiede sind dafür mitverantwortlich, dass die Mehrzahl der Schutzsuchenden innerhalb der EU weiterwandert – und in den Zielländern auf Ablehnung stoßen. Ungeachtet dessen sehen sich viele Außengrenzstaaten unzureichend unterstützt und fordern eine gerechtere Aufgabenteilung.
Dieser Interessenkonflikt hat zu einer Fokussierung auf die Abschreckung von Schutzsuchenden als kleinstem gemeinsamem Nenner geführt. In diesem Zuge hat nicht nur die Vorverlagerung von Kontrollen in die EU-Nachbarstaaten stark zugenommen, sondern auch die (rechtswidrigen und teils gewaltsamen) Zurückweisungen an den Außengrenzen (Pushbacks). Die alltäglich gewordenen Todesfälle auf dem Mittelmeer, die durch diese Pushbacks oder die Behinderung der Seenotrettung begünstigt werden, rufen kaum noch öffentlichen Protest hervor und werden von der EU-Kommission nicht geahndet, obwohl es sich eindeutig um Rechtsbrüche handelt.
In dieser Gemengelage soll die angestrebte Reform die Rückkehr zu einem verbindlichen gemeinsamen Asylsystem ermöglichen. Ziel ist, die Zahl der Asylgesuche deutlich zu verringern, unter anderem indem die EU-Außengrenzstaaten und benachbarte Drittstaaten zu einer noch strengeren Kontrolle der Wanderungen angehalten und dabei unterstützt werden. Zudem sollen Asylgesuche seltener in einen dauerhaften Aufenthalt in der EU münden und abgelehnte Asylbewerber und ‑bewerberinnen schneller und häufiger zurückgeführt werden.
Auf Grundlage einer solchen reduzierten Zuwanderung soll eine Neugewichtung der Verantwortungsteilung zwischen den Mitgliedstaaten gelingen: Erstaufnahmeländer sollen verlässliche Solidaritätsleistungen erhalten, während die Sekundärmigration durch eine lückenlose Registrierung von Geflüchteten und durch eine konsequente Anwendung der Zuständigkeitsregeln gedrosselt werden soll. Alle Staaten sollen klare Anreize haben, sich wieder an die Regeln zu halten und ein generalüberholtes Dublin-System funktionsfähig zu machen.
Im günstigsten Fall würde so die (europa-) politische Sprengkraft der Themen Migration und Flucht entschärft. Zum Teil beruht diese Hoffnung auf der Erfahrung, dass technische Gremien – die zur Detailklärung und Umsetzung der komplexen Reformen notwendig sind – ein pragmatischeres Herangehen in der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit stärken können. Staaten wie Ungarn und Polen, die an ihrer Ablehnung von Zuwanderung festhalten, könnten auf diese Weise eine Zeitlang umgangen werden und weniger politisches Kapital aus der polarisierten Debatte um Asylbelange schlagen.
Menschenrechts-NGOs, in Deutschland auch Teile der Regierungsparteien von SPD und Bündnis 90/Grüne, bleiben jedoch skeptisch. Abgesehen von menschenrechtlichen Bedenken verweisen sie darauf, dass die Asyl- und Migrationsbehörden in fast allen Mitgliedstaaten schon jetzt überlastet seien und vermutlich nicht fähig wären, weitere hochkomplexe EU-Rechtsnormen umzusetzen.
Fragiler Kompromiss als Verhandlungsgrundlage
Insgesamt gilt für die EU-Asylpolitik das ordentliche Gesetzgebungsverfahren mit Mehrheitsentscheidung. Seit 2016 wurde aber angesichts der ungelösten strukturellen Konflikte auf einen einstimmigen Konsens hingearbeitet. Deshalb waren im Juni 2023 viele Beobachterinnen und Beobachter überrascht, als der Rat per Mehrheitsentscheid ein Mandat zur Verhandlung von zwei Rechtsakten beschloss: Die Asylverfahrens-VO sieht für Antragsteller mit geringen Erfolgschancen standardisierte Grenzverfahren unter haftähnlichen Bedingungen vor, mit verkürzter Verfahrensdauer (maximal zwölf Wochen). Dies soll auch mehr Rückführungen ermöglichen. Die Asylmanagement-VO dagegen soll die dysfunktionale Dublin-III-Verordnung ersetzen und einen EU-weiten Solidaritätsmechanismus schaffen. Im Gegenzug soll die irreguläre Sekundärmigration verringert werden, unter anderem durch verlängerte Fristen für die Zuständigkeit der Erstankunftsstaaten.
Die beiden Rechtsakte sind im weiteren Gesetzgebungsverfahren mit dem Europäischen Parlament in vielen Punkten strittig. Bei der Asylverfahrens-VO betrifft dies mindestens die Option für einzelne Mitgliedstaaten, Asylanträge bei Einreisen aus mutmaßlich sicheren Drittstaaten für unzulässig zu erklären, und den Umfang der Verpflichtung zu Grenzverfahren. Nach derzeitigem Verhandlungsstand steht es den Mitgliedstaaten weiterhin frei, national festzulegen, welche Drittstaaten als sicher gelten, sofern dabei nicht gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen wird. Weiterhin diskutiert werden Ausnahmen von Grenzverfahren für Minderjährige und Familien. Gemäß Verhandlungsstand im Rat wären mindestens 30.000 Grenzverfahren pro Jahr vorgesehen, die nach einem komplizierten Schlüssel unter den Mitgliedstaaten aufgeteilt würden. Diese sogenannte »Kappungsgrenze« soll schrittweise angehoben werden und so Zeit für den Kapazitätsaufbau geben. Ginge das Aufkommen über die Kappungsgrenze hinaus, dürften alle weiteren Fälle im regulären Asylverfahren bearbeitet werden. Erfahrungsgemäß würden dann viele Asylanträge wiederum nicht im Erstaufnahmeland, sondern in einem anderen EU-Staat gestellt.
Bei der Asylmanagement-VO bestehen unter anderem Differenzen über die Ausgestaltung der »flexiblen Solidarität«. Bis vor kurzem galt, dass zumindest in Krisensituationen eine Verteilung Schutzsuchender ein verpflichtendes Element der europäischen Solidarität sein müsse. Ein »Freikaufen« von dieser Verteilung durch Sach- oder Geldleistungen war nur in beschränktem Maße vorgesehen.
In den Verhandlungen sieht der Rat gegenwärtig jedoch ein kompliziertes System zur Bewertung der »Belastung durch irreguläre Zuwanderung« in den Mitgliedstaaten vor. Je nach Stufe könnten einzelne Staaten jeweils Solidaritätsleistungen aus einem gemeinsamen Pool anfordern oder auch Aufnahmeverpflichtungen zurückweisen.
Dazu kann auch gehören, dass Personen, die nach den weiterhin geltenden EU-Zuständigkeitsregeln in den Erstankunftsstaaten einen Asylantrag stellen müssten, aus anderen Staaten nicht mehr zurückgenommen werden müssen, wenn keine hinreichende Verteilung von Schutzsuchenden im Rahmen des neuen Solidaritätsverfahrens stattfindet. Diese sogenannten Dublin-Offsets sollen als weitere Stellschraube für die »flexible Solidarität« fungieren. Ihre Wirkungen lassen sich derzeit nicht absehen, auch weil die Regelungen extrem kompliziert formuliert sind. Sie könnten aber durchaus auf einen pragmatischeren Umgang mit jenen Aspekten des Dublin-Systems hinauslaufen, die bislang in besonderer Weise für seine Dysfunktionalität standen: Sekundärmigration und scheiternde Dublin-Rückführungen.
Screening und Monitoring
Übersicht Die Rechtsakte der GEAS-Reform (Stand: September 2023) |
||
Rechtsakt |
Ziele laut EU-Kommission |
Stand |
Asylverfahrens- |
Weniger Unterschiede bei Anerkennungsraten, weniger Sekundärmigration, Einführung eines neuen Grenzverfahrens, Ausweitung des Konzepts sicherer Drittstaaten |
Trilog |
Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung |
Neufassung von »Dublin«, faireres, effizienteres und nachhaltigeres System der Zuständigkeit für und Verteilung von Asylanträgen unter den Mitgliedstaaten |
Trilog |
Screening-Verordnung |
Einführung einer neuen Gesundheits-, Identitäts- und Sicherheitsüberprüfung an den Außengrenzen |
Trilog |
Instrumentalisierungs-Verordnung |
Temporäre Ausnahmeregeln, damit Mitgliedstaaten auf außergewöhnliche Umstände reagieren können, in denen Migrantinnen und Migranten für politische Zwecke instrumentalisiert werden |
Blockiert, Inhalte durch Rat in Krisen-VO verschoben |
Eurodac-Verordnung (Novelle) |
Anpassung und Ausbau der Eurodac-Fingerabdruckdatenbank (inkl. biometrische Daten und Fotos), um Rückkehr/Rückführungen zu erleichtern und irreguläre Migration zu mindern |
Trilog |
Krisen und Force-Majeure-Verordnung |
Festlegung von Ausnahmeregeln und Solidaritätsinstrumenten, die in Krisensituationen angewendet werden können und müssen, um Mitgliedstaaten schnelles und entschiedenes Handeln zu erlauben |
Rat sucht gemeinsame Verhandlungsposition |
Richtlinie Kombinierte Erlaubnis |
Einfacherer und schnellerer Prozess für eine kombinierte Erlaubnis für Drittstaatsangehörige und Arbeitgeber |
Trilog |
Neuansiedlungs-Verordnung |
Angleichung des Resettlements anerkannter Flüchtlinge von außerhalb der EU, etwa aus Flüchtlingslagern |
Politische Einigung erzielt, Annahme möglich |
Aufnahme-Richtlinie (Novelle) |
Harmonisierung von Bedingungen für die Aufnahme in der Europäischen Union |
Politische Einigung erzielt, Annahme möglich |
Anerkennungs-Verordnung (Novelle) |
Harmonisierung von Schutzstandards in der EU und Beendigung von Sekundärmigration, um »Asylshopping« zu verhindern |
Politische Einigung erzielt, Annahme möglich |
Flankierend zur Asylverfahrens-VO und zur Asylmanagement-VO soll eine neue Screening-Verordnung (Screening-VO) zentraler Bestandteil des reformierten GEAS sein. Sie legt fest, dass binnen fünf Tagen nach Ankunft eine verpflichtende Überprüfung aller irregulär eingereisten Personen an EU-Außengrenzen erfolgen soll. Je nach Ergebnis sollen Personen aus Ländern mit statistisch geringen Chancen auf Schutz (in der Regel unter 20% Anerkennungsquote) in die benannten Grenzverfahren überführt werden.
Im Rahmen der Screening-VO ringen die EU-Institutionen miteinander noch darum, ob und wie sich ein unabhängiges Monitoring-System etablieren lässt, das sicherstellt, dass in diesem Verfahren alle geltenden Grundrechte beachtet werden. Da die Screening-VO die einzige Komponente der GEAS-Reform ist, die einen institutionalisierten, an Menschenrechten orientierten Monitoring-Prozess vorsieht, ist seine Ausgestaltung von größter Bedeutung.
Die Krisen-Verordnung: Knackpunkt aktueller Verhandlungen
Die sogenannte Krisen-VO sollte laut dem ursprünglichen Kommissionsvorschlag von 2020 zum Einsatz kommen, wenn große Fluchtbewegungen die Kapazitäten eines Mitgliedstaats überfordern. Sie sollte die »Massenzustrom-Richtlinie« von 2001 ersetzen – mit der doppelten Zielsetzung, einen gruppenbezogenen Schutzstatus zu gewähren und die betroffenen Aufnahmestaaten zu unterstützen. Nach Russlands Angriff auf die Ukraine wurde die Massenzustrom-Richtlinie im Februar 2022 erstmalig angewendet und bietet seither über vier Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern einen befristeten Aufenthaltsstatus in der gesamten EU. Die schnelle gruppenbasierte Entscheidung und die Selbstverteilung von Schutzsuchenden werden vielfach als Erfolg gesehen – allerdings nicht von allen Kommunen, die die Versorgung zu leisten haben.
Unterdessen verschärfte sich im Winter 2021/22 die Debatte über die Instrumentalisierung irregulärer Migration. Mit Blick auf Vorfälle wie die an der belarussisch-polnischen Grenze legte die EU-Kommission eine neue Instrumentalisierungs-Verordnung vor. Ihr zufolge sollten Einschränkungen des Asylrechts – die insbesondere Polen und einige baltische Staaten vorgenommen haben – EU-rechtlich erlaubt werden, wenn dabei Mindeststandards des internationalen Rechts gewahrt bleiben. Die Befassung mit dieser separaten Verordnung wurde wegen grundrechtlicher Vorbehalte der Bundesregierung im Dezember 2022 nicht weiterverfolgt. Seither setzen sich jedoch süd- und nordosteuropäische Staaten dafür ein, zentrale Bestimmungen in die Krisen-VO einzufügen. So sollen sowohl in einer Krise als auch im Falle einer Instrumentalisierung Schutzsuchender unter anderem Grenzschließungen, eine längere Inhaftierung Schutzsuchender, weitere Einschränkungen von Asylverfahren und eine umfassendere Nutzung von Grenzverfahren möglich sein. Gleichzeitig wurden Bestimmungen für gruppenbasierten Schutz mit Blick auf die Beibehaltung der Massenzustrom-Richtlinie gestrichen.
Eine derart angepasste Krisen-VO kann aber ihrem eigentlichen Zweck kaum noch gerecht werden. Die Massenzustrom-Richtlinie behält zwar bis Frühjahr 2025 für ukrainische Geflüchtete Gültigkeit. Für künftige Krisen ist aber keineswegs gesichert, ob dieser gruppenbasierte Schutzmechanismus, der ein unverzichtbares Element zur Entlastung der nationalen Asylsysteme darstellt, erneut aktiviert werden kann.
Doch das ist nicht das einzige Problem, das mit dem aktuellen Entwurf der Krisen-VO verbunden ist. So bleibt die Erklärung einer Instrumentalisierungssituation von politischen Erwägungen abhängig, die stark umstritten sein können. Fraglich ist auch, inwiefern die EU-Kommission und der Ministerrat die vorgesehene Kontrolle über krisenbedingte Ausnahmen von regulären Aufnahme- und Asylverfahren ausüben können – die bisher mangelhafte Ahndung rechtswidriger Praktiken an den EU-Außengrenzen gibt wenig Anlass zur Hoffnung. Vielmehr könnten abgesenkte Aufnahme- und Schutzstandards auf EU-Ebene legitimiert werden und so zur Verstetigung nationaler Ausnahmezustände beitragen, wie derzeit in Italien zu beobachten ist.
Schließlich sieht der aktuelle Verhandlungsstand im Rat vor, dass flexible Solidarität auch in Krisen gelten soll, einschließlich der Option, keine Schutzsuchenden gemäß den regulären Zuständigkeitsregeln aus anderen Mitgliedstaaten zurückzunehmen. Ebenso wie durch verlängerte Fristen für die Registrierung und Durchführung von Asylverfahren in Krisenlagen könnten somit weitere Anreize für sekundäre Migration nach Deutschland entstehen.
Ende September 2023 sucht der Rat weiterhin eine Mehrheitsposition zur Krisen-VO. Das Machtwort von Kanzler Scholz, grundrechtliche Vorbehalte im Interesse einer Einigung auf das gesamte Reformpaket hintanzustellen, ist dabei nicht alleiniger Faktor. Einigen anderen Mitgliedstaaten ist der vorliegende Entwurf zu liberal. Das Europäische Parlament bezieht unterdessen eine deutlich abweichende Verhandlungsposition auf Basis des ursprünglichen Kommissionsvorschlags zur Krisen-VO und will unter anderem Bestimmungen für gruppenbasierten Schutzstatus bewahren.
Erfolgsaussichten der Reform bis Ende der Legislaturperiode
Die französische Ratspräsidentschaft hatte in der ersten Hälfte 2022 im Rat den »graduellen Ansatz« ausgegeben, der es erlaubt, auch einzelne Rechtsakte des GEAS zu beschließen. Dies war damals aber ein primär taktischer Schritt, um die festgefahrenen Verhandlungen wieder in Gang zu bringen. Klar ist, dass die Asylverfahrens-VO, die Asylmanagement-VO und die Screening-VO ineinandergreifende Kernbestandteile der GEAS-Reform sind und zusammen verhandelt werden müssen. Einige weitere Rechtsakte standen bereits in der letzten Legislaturperiode kurz vor dem Abschluss und könnten deshalb gebündelt beschlossen werden (u.a. Qualifikations-VO, Aufnahme-RL). Wiederum andere Vorhaben des Pakts ließen sich gegebenenfalls separat verabschieden, etwa die Novellierung der Eurodac-VO zur verbesserten biometrischen Erfassung von Asylantragstellenden. Flankierend steht eine Überarbeitung des Schengen-Kodex noch immer auf der EU-Agenda. Somit liegt eine außergewöhnlich große Verhandlungsmasse auf dem Tisch.
Soll der bis zur Europawahl im Juni 2024 geltende Zeitplan eingehalten werden, müssten bis Anfang 2024 alle politisch strittigen Fragen geklärt sein. Vorrangig stehen schwierige Trilog-Verhandlungen zwischen Rat und Parlament an, sobald die aktuelle Blockade zur Krisen-VO überwunden ist. Das Parlament fordert weniger restriktive Bestimmungen für Schutzsuchende und mehr Solidarität unter den Mitgliedstaaten. Allerdings wird erwartet, dass rechtspopulistische Parteien aus den nächsten Europawahlen gestärkt hervorgehen. Falls zuvor keine Einigung auf die GEAS-Reform erzielt wird, könnten in der Folge zukünftig noch drastischere Einschränkungen des Asylrechts auf EU-Ebene mehrheitsfähig werden. Diese Aussicht schwächt die Verhandlungsmacht des Parlaments gegenüber dem Rat erheblich.
Die »Migrationsdiplomatie« gewinnt an Bedeutung
All diese Verhandlungen werden von der Entwicklung der Beziehungen der EU zu Drittstaaten überschattet. Die Zusammenarbeit mit libyschen Akteuren wird fortgesetzt, obwohl ihre massiven und systematischen Menschenrechtsverletzungen erwiesen sind. Jüngst hat sich die EU um eine neue Übereinkunft mit Tunesien bemüht; dabei hat der amtierende Staatspräsident mit seiner Rhetorik gewalttätige Ausschreitungen gegen irreguläre Zuwanderer und Schutzsuchende befeuert. Dessen ungeachtet unterzeichnete die Kommission mit Unterstützung Italiens und der Niederlande eine Absichtserklärung zum Ausbau der Kooperation. Neben der Förderung des Bildungssystems, der tunesischen Wirtschaft und Investitionen in erneuerbare Energien ist die Migrationskontrolle offenkundig zentral. Tunesien soll im Gegenzug für seine Zusammenarbeit in der Migrationspolitik mit erheblichen Finanzmitteln unterstützt werden, die jedoch größtenteils nach wie vor von der Unterzeichnung eines Abkommens mit dem Internationalen Währungsfonds abhängen.
Damit geht die Gefahr einher, dass die externe Migrationspolitik noch stärker als bisher informalisiert und von den nationalen Interessen einzelner EU-Mitgliedstaaten beeinflusst wird. Anstelle einer Bindung an politische und wirtschaftliche Reformen und die Einhaltung von Menschenrechten werden die finanziellen Ressourcen aus den EU-Fonds (vor allem das Instrument für Nachbarschaft, Entwicklungs- und internationale Zusammenarbeit, NDICI) immer öfter für Zwecke der Migrationskontrolle eingesetzt. Der Fokus der EU-Politik entfernt sich damit noch weiter von der notwendigen Minderung der Ursachen von Vertreibung und irregulärer Migration.
Schwierige Abwägungen
Sollte eine Reform des GEAS erneut scheitern, dürfte es zu einer weiteren Renationalisierung und Verschärfung der Asyl- und Migrationspolitik kommen. Eine treibende Rolle könnte dabei jenen drei Ländern zukommen, die nach der Europawahl ab Mitte 2024 die Ratspräsidentschaft übernehmen: Ungarn, Polen und Dänemark. Freiwillige Koalitionen anderer Mitgliedstaaten könnten dazu vermutlich kein Gegengewicht aufbauen.
Trotzdem bleibt die Abwägung der Vor- und Nachteile des Reformpakets schwierig: Während ein Scheitern europapolitisch verheerend wäre, wäre eine Einigung aus asyl- und migrationspolitischer Sicht alles andere als ein Durchbruch: Das geplante System flexibler Solidarität ist so aufwändig gestaltet und zudem in einem Maße manipulierbar, dass nach wie vor ungewiss wäre, wie Schutzsuchende in der EU faktisch verteilt würden. Angesichts der anhaltenden Missstände in vielen Flüchtlingslagern in EU-Außengrenzstaaten ist fraglich, ob sich die vorgesehenen neuen Grenzverfahren effektiv und menschenwürdig durchführen ließen. Das Konzept der »Kappungsgrenze« macht dieses Vorhaben noch fragwürdiger, da die Qualität von Grenzverfahren hinter rein quantitativen Zielgrößen zurückstehen könnte. Schließlich ist generell zu bezweifeln, dass die veränderte Krisen-VO ein sinnvolles und effektives Instrument für den Umgang mit großen Fluchtbewegungen darstellen würde.
Der operative Mehrwert der Reform wäre in den folgenden Jahren unter schwierigen Bedingungen erst zu beweisen, sowohl für staatliche Behörden wie für die betroffenen Personen. Bisher gibt es dafür kaum Anlass zur Hoffnung; in den wenigsten Mitgliedstaaten wird die Übernahme von Verantwortung für Schutzsuchende honoriert. Das gilt für die von Sekundärwanderungen betroffenen Länder wie Österreich, Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten ebenso wie für die Außengrenzstaaten, wenn die Ankunftszahlen dort trotz migrationspolitischer Vereinbarungen mit Drittstaaten hoch bleiben.
Handlungsempfehlungen
Die Möglichkeiten, die Schlussphase der GEAS-Reform noch zu beeinflussen, sind begrenzt, aber gerade deshalb mit Nachdruck auszuschöpfen. Die Bundesregierung ist mit ihrem bisherigen Einsatz für den internationalen Flüchtlingsschutz auf EU-Ebene zunehmend isoliert. Viele Mitgliedstaaten verlassen sich weiterhin auf die Sekundärmigration innerhalb der Schengenzone und auf Deutschlands Bereitschaft, einen überproportionalen Anteil an Asylanträgen zu übernehmen. Mittlerweile steht aber die Bundesregierung unter hohem innenpolitischem Druck, die Zahl der Asylgesuche merklich zu senken.
Der Einsatz der Bundesregierung für einen starken internationalen Flüchtlingsschutz ist dabei nicht nur normativ und ethisch gerechtfertigt: Deutschland hat als attraktives Wanderungsziel größtes Interesse an einer berechenbaren und fairen EU‑Lastenteilung, an der Reduzierung ungeregelter Wanderungen und an der Rückführung von Menschen, die nicht schutzbedürftig sind. Das Ansinnen, irreguläre Zuwanderung vollständig zu verhindern, ist in liberalen Rechtsstaaten illusorisch. Die stattdessen erforderlichen Vereinbarungen mit den Herkunfts- und Transitländern werden nicht in bilateralen Alleingängen, sondern nur im Rahmen einer abgestimmten europäischen Politik Wirkung entfalten können.
Es wird nicht ausreichen, darauf zu hoffen, dass das Europaparlament im Trilog entsprechende Verbesserungen erreichen kann. Erforderlich ist eine klare Positionierung der Bundesregierung. Angesichts der langfristigen Herausforderungen der europäischen Asylpolitik sollte sie nicht alle Reformvorschläge zu jedem Preis mittragen, vielmehr sollte sie sich weiterhin mit Nachdruck für folgende Punkte einsetzen:
1) Zweckentfremdung der Krisen-VO verhindern: Sie sollte sich mit aller Kraft für ein krisenfestes europäisches Asylsystem starkmachen und Instrumentalisierungssituationen lediglich als Sonderszenarien betrachten. Zudem sollte sie sich in den parallel laufenden Verhandlungen über die Reform des Schengener Grenzkodex dafür einsetzen, dass eine möglichst präzise und empirisch belegbare Definition von Instrumentalisierung festgelegt wird. Zumindest müssen in der Krisen-VO Bestimmungen für einen gruppenbasierten Schutz erhalten bleiben, wie dies auch das Europäische Parlament fordert. Ein belastbares Regime für den Umgang mit außergewöhnlich großen Fluchtbewegungen muss nach Auslauf der derzeitigen Regelungen für ukrainische Geflüchtete gewährleistet sein. Generell sollte sich die EU nicht dadurch verwundbar machen, dass sie Fluchtbewegungen reflexartig als krisenhaften Ausnahmezustand behandelt und in der Folge durch Sonderregelungen humanitäre Notlagen an den Außengrenzen verschärft.
2) Rechenschaft und Menschenrechtsmonitoring stärken: Tragödien auf See wie die jüngste vor Pylos oder die systematischen Pushbacks an EU-Außengrenzen dürfen nicht ohne Konsequenzen bleiben. Zusätzlich zur Stärkung von Sanktionsverfahren bei offenen Rechtsbrüchen sollte sich die Bundesregierung dafür einsetzen, den Geltungsbereich des in der Screening-VO vorgesehenen Monitorings auszuweiten; er stellt sicher, dass humanitäre Organisationen und andere unabhängige Beobachterinnen und Beobachter unbeschränkten Zugang zu Grenzregionen und damit über das Screening hinaus auch zu den geplanten Grenzverfahren haben. Alle Mitgliedstaaten oder die Kommission sollten zudem verpflichtend unabhängige Beobachtungsstellen einrichten.
3) Abhängigkeit von externen Partnern reduzieren: Die externe Dimension der EU-Asylpolitik gilt es von den EU-internen Gesetzgebungsverfahren zu entkoppeln. Die Kooperation mit Drittstaaten sollte weder zu jedem Preis und unter allen Umständen vertieft werden, noch sollten Mitgliedstaaten wie Italien sie zur Vorbedingung für ihre Zustimmung zur GEAS-Reform machen können. Unbestritten ist, dass Asyl-Grenzverfahren und die zugehörigen Rückführungen eine Kooperation mit Drittstaaten erfordern. Diese sicherzustellen ist eine mittel- und langfristige Aufgabe – und bedarf auch eines größeren innereuropäischen Konsenses darüber, welche Drittstaaten hinreichend sicher und vertrauenswürdig sind. Der Umgang mit Tunesien zeigt, wie schnell falsche Erwartungen genährt werden, deren Enttäuschung die internationale Glaubwürdigkeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten weiter untergräbt. Die Bundesregierung sollte grundsätzlich mit allen Drittstaaten entlang der Wanderungsrouten Verhandlungen führen, und sie sollte den relevanten Drittstaaten noch deutlich mehr Angebote zur migrationspolitischen Zusammenarbeit unterbreiten. Hierfür solle sie auch entwicklungspolitische Instrumente nutzen, etwa um diese Länder bei der Stärkung ihrer asyl- und migrationspolitischen Kapazitäten zu unterstützen.
Dr. Steffen Angenendt ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Nadine Biehler und Dr. Anne Koch sind Wissenschaftlerinnen, David Kipp Wissenschaftler dieser Forschungsgruppe. Dr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa.
Die Studie wurde verfasst im Rahmen des vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geförderten Projekts »Strategische Flucht- und Migrationspolitik«.
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ISSN (Online) 2747-5018
DOI: 10.18449/2023A55