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Endspurt bei der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems

Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten für die deutsche und europäische Asylpolitik

SWP-Aktuell 2023/A 55, 28.09.2023, 8 Seiten

doi:10.18449/2023A55

Forschungsgebiete

Noch steht nicht fest, ob das Asyl- und Migrationspaket der EU-Kommission vor den Europawahlen 2024 verabschiedet werden kann; viele Elemente bleiben im Rat sowie zwischen Rat und Parlament umstritten. Angesichts der hitzigen Debatte über die asyl- und migrationspolitische Handlungsfähigkeit der EU und der Wahlerfolge rechts­populistischer Parteien steht viel auf dem Spiel. Die ursprünglich angestrebte Balance von restriktiven und schutzorientierten Elementen wurde im Rat deutlich in Rich­tung Abschreckung verschoben. Aktuell zeigt sich das insbesondere bei der sogenann­ten Krisen-Verordnung. Die Bundesregierung sollte sich in den weiteren Verhand­lungen dafür einsetzen, dass diese Verordnung nicht für sachfremde Ziele instrumen­talisiert wird, dass mit Blick auf das gesamte Reformpaket die Überwachung grund­rechtlicher Standards glaubwürdiger und robuster wird und dass sich die EU mit den Reformen nicht noch abhängiger von autokratischen Drittstaaten macht.

Mit einem Machtwort hat Bundeskanzler Olaf Scholz deutlich gemacht, dass Deutschland sich trotz Widerspruchs von Teilen der Regierungskoalition nicht weiter gegen um­strittene Elemente der Reform des Gemein­samen Europäischen Asylsystems (GEAS) stellen wird. Dies hat zwangsläufig die deut­schen Spielräume bei den Verhandlungen über den von der EU-Kommission im Herbst 2020 vorgeschlagenen »Pakt für Migration und Asyl« begrenzt, ein weiteres Engagement der Bundesregierung für einen wirkungs­vollen Pakt aber nicht obsolet gemacht.

Im Juni 2023 war im EU-Rat bereits über­raschend eine vorläufige Einigung auf zwei zentrale Verordnungen gelungen: die zu den Asylverfahren (Asylverfahrens-VO) und jene zum Asyl- und Migrationsmanagement (Asylmanagement-VO). Polen und Ungarn wurden per Mehrheitsbeschluss überstimmt, um die langjährige Blockade zu durch­brechen.

Dieser Beschluss hatte Hoffnungen geweckt, dass noch vor den Europawahlen im Juni 2024 eine Einigung auf ein umfassendes Reformpaket mit über zehn Rechtsakten ge­lingen könnte. Die aktuelle politische Debatte zeigt jedoch, dass es schwierig bleibt, dieses Ziel zu erreichen. Denn auf der einen Seite verschärfen die steigenden Zahlen irregulär Zuwandernder die zu­sehends rechtspopulistisch getriebene Migra­tionspolitik in vielen Mitgliedstaaten, etwa in Italien. Auf der anderen Seite gibt es bei­spielsweise in der Ampel-Koalition in Deutschland weiterhin Bedenken. Im Reformpaket ist die Verordnung zur Bewäl­tigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl (Krisen-VO) besonders umstritten.

Politische Entscheiderinnen und Entschei­der stehen in den kommenden Wochen vor der Herausforderung, eine ungewöhnlich große Anzahl komplexer und miteinander verbundener Rechtsakte sowie dicht ver­wobene politische Zusammenhänge bewer­ten zu müssen.

Die GEAS-Reform

Das GEAS wurde in der aktuell geltenden Form vor rund zehn Jahren beschlossen. Schon kurz darauf wurde im Rahmen der sogenannten Flüchtlingskrise in der EU deut­lich, dass es den Ansprüchen nicht gerecht werden kann: Die größten Probleme sind nach wie vor die ungleiche Lasten- und Ver­antwortungsteilung und die faktische Dys­funktionalität des Dublin-Systems, dem zufolge der Staat der Ersteinreise in der Regel für die Bearbeitung des Asylgesuchs verantwortlich ist. Die Kapazitäten in den Staaten an den EU-Außengrenzen sind hier­für oft unzureichend: Die Bearbeitung der Gesuche dauert zu lange. Die Rechte, die Standards für Schutz und Unterbringung und die Zukunftsperspektiven für Asyl­suchende fallen in den Mitgliedstaaten höchst unterschiedlich aus und liegen häu­fig weit unter dem Niveau, das menschenrechtlich vertretbar ist. Diese Unterschiede sind dafür mitverantwortlich, dass die Mehr­zahl der Schutzsuchenden innerhalb der EU weiterwandert – und in den Zielländern auf Ablehnung stoßen. Ungeachtet dessen sehen sich viele Außengrenzstaaten un­zureichend unterstützt und fordern eine gerechtere Aufgabenteilung.

Dieser Interessenkonflikt hat zu einer Fokussierung auf die Abschreckung von Schutzsuchenden als kleinstem gemein­samem Nenner geführt. In diesem Zuge hat nicht nur die Vorverlagerung von Kontrollen in die EU-Nachbarstaaten stark zu­ge­nommen, sondern auch die (rechtswidrigen und teils gewaltsamen) Zurückweisungen an den Außengrenzen (Pushbacks). Die all­täglich gewordenen Todesfälle auf dem Mittelmeer, die durch diese Pushbacks oder die Behinderung der Seenotrettung begün­stigt werden, rufen kaum noch öffentlichen Protest hervor und werden von der EU-Kom­mission nicht geahndet, obwohl es sich eindeutig um Rechtsbrüche handelt.

In dieser Gemengelage soll die angestrebte Reform die Rückkehr zu einem verbindli­chen gemeinsamen Asylsystem ermöglichen. Ziel ist, die Zahl der Asylgesuche deutlich zu verringern, unter anderem indem die EU-Außengrenzstaaten und benachbarte Drittstaaten zu einer noch strengeren Kon­trolle der Wanderungen angehalten und da­bei unterstützt werden. Zudem sollen Asyl­gesuche seltener in einen dauerhaften Auf­enthalt in der EU münden und abgelehnte Asylbewerber und ‑bewerberinnen schnel­ler und häufiger zurückgeführt werden.

Auf Grundlage einer solchen reduzierten Zuwanderung soll eine Neugewichtung der Verantwortungsteilung zwischen den Mit­gliedstaaten gelingen: Erstaufnahmeländer sollen verlässliche Solidaritätsleistungen erhalten, während die Sekundärmigration durch eine lückenlose Registrierung von Geflüchteten und durch eine konsequente Anwendung der Zuständigkeitsregeln gedrosselt werden soll. Alle Staaten sollen klare Anreize haben, sich wieder an die Regeln zu halten und ein generalüberholtes Dublin-System funktionsfähig zu machen.

Im günstigsten Fall würde so die (europa-) politische Sprengkraft der Themen Migra­tion und Flucht entschärft. Zum Teil beruht diese Hoffnung auf der Erfahrung, dass technische Gremien – die zur Detailklärung und Umsetzung der komplexen Reformen notwendig sind – ein pragmatischeres Her­angehen in der zwischenstaatlichen Zusam­menarbeit stärken können. Staaten wie Ungarn und Polen, die an ihrer Ablehnung von Zuwan­derung festhalten, könnten auf diese Weise eine Zeitlang umgangen wer­den und weniger politisches Kapital aus der polarisierten Debatte um Asylbelange schlagen.

Menschenrechts-NGOs, in Deutschland auch Teile der Regierungsparteien von SPD und Bündnis 90/Grüne, bleiben jedoch skep­tisch. Abgesehen von menschenrechtlichen Bedenken verweisen sie darauf, dass die Asyl- und Migrationsbehörden in fast allen Mit­glied­staaten schon jetzt überlastet seien und vermutlich nicht fähig wären, weitere hoch­komplexe EU-Rechtsnormen umzusetzen.

Fragiler Kompromiss als Verhandlungsgrundlage

Insgesamt gilt für die EU-Asylpolitik das ordentliche Gesetzgebungsverfahren mit Mehrheitsentscheidung. Seit 2016 wurde aber angesichts der ungelösten strukturellen Konflikte auf einen einstimmigen Kon­sens hingearbeitet. Deshalb waren im Juni 2023 viele Beobachterinnen und Beobachter überrascht, als der Rat per Mehrheitsentscheid ein Mandat zur Verhandlung von zwei Rechtsakten beschloss: Die Asylverfahrens-VO sieht für Antragsteller mit geringen Erfolgschancen standardisierte Grenzverfah­ren unter haftähnlichen Bedingungen vor, mit verkürzter Verfahrensdauer (maximal zwölf Wochen). Dies soll auch mehr Rück­führun­gen ermöglichen. Die Asylmanagement-VO dagegen soll die dysfunktionale Dublin-III-Verordnung ersetzen und einen EU-weiten Solidaritätsmechanismus schaf­fen. Im Gegen­zug soll die irreguläre Sekun­därmigration verringert werden, unter anderem durch verlängerte Fristen für die Zuständigkeit der Erstankunftsstaaten.

Die beiden Rechtsakte sind im weiteren Gesetzgebungsverfahren mit dem Europäischen Parlament in vielen Punkten strittig. Bei der Asylverfahrens-VO betrifft dies min­destens die Option für einzelne Mitgliedstaaten, Asylanträge bei Einreisen aus mut­maßlich sicheren Drittstaaten für unzulässig zu erklären, und den Umfang der Ver­pflichtung zu Grenzverfahren. Nach derzei­tigem Verhandlungsstand steht es den Mit­gliedstaaten weiterhin frei, national fest­zulegen, welche Drittstaaten als sicher gelten, sofern dabei nicht gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen wird. Wei­terhin diskutiert werden Ausnahmen von Grenzverfahren für Minderjährige und Familien. Gemäß Verhandlungsstand im Rat wären mindestens 30.000 Grenzverfahren pro Jahr vorgesehen, die nach einem kom­plizierten Schlüssel unter den Mitglied­staaten aufgeteilt würden. Diese sogenannte »Kap­pungsgrenze« soll schrittweise angeho­ben werden und so Zeit für den Kapazitäts­aufbau geben. Ginge das Aufkommen über die Kappungsgrenze hinaus, dürften alle weiteren Fälle im regulären Asylverfahren bearbeitet werden. Erfahrungsgemäß wür­den dann viele Asylanträge wiederum nicht im Erstaufnahmeland, sondern in einem anderen EU-Staat gestellt.

Bei der Asylmanagement-VO bestehen unter anderem Differenzen über die Aus­gestaltung der »flexiblen Solidarität«. Bis vor kurzem galt, dass zumindest in Krisen­situationen eine Verteilung Schutzsuchen­der ein verpflichtendes Element der euro­päischen Solidarität sein müsse. Ein »Frei­kaufen« von dieser Verteilung durch Sach- oder Geldleistungen war nur in beschränktem Maße vorgesehen.

In den Verhandlungen sieht der Rat ge­genwärtig jedoch ein kompliziertes System zur Bewertung der »Belastung durch irregu­läre Zuwanderung« in den Mitgliedstaaten vor. Je nach Stufe könnten einzelne Staaten jeweils Solidaritätsleistungen aus einem gemeinsamen Pool anfordern oder auch Aufnahmeverpflichtungen zurückweisen.

Dazu kann auch gehören, dass Personen, die nach den weiterhin geltenden EU-Zuständigkeitsregeln in den Erstankunfts­staaten einen Asylantrag stellen müssten, aus anderen Staaten nicht mehr zurück­genommen werden müssen, wenn keine hin­reichende Verteilung von Schutzsuchenden im Rahmen des neuen Solidaritätsverfahrens stattfindet. Diese sogenannten Dublin-Offsets sollen als weitere Stellschraube für die »flexible Solidarität« fungieren. Ihre Wirkungen lassen sich derzeit nicht ab­sehen, auch weil die Regelungen extrem kompliziert formuliert sind. Sie könnten aber durchaus auf einen pragmatischeren Umgang mit jenen Aspekten des Dublin-Systems hinauslaufen, die bislang in beson­derer Weise für seine Dysfunktionalität standen: Sekundärmigration und scheitern­de Dublin-Rückführungen.

Screening und Monitoring

Übersicht

Die Rechtsakte der GEAS-Reform (Stand: September 2023)

Rechtsakt

Ziele laut EU-Kommission

Stand

Asylverfahrens-
Verordnung (Novelle)

Weniger Unterschiede bei Anerkennungsraten, weniger Sekundärmigration, Einführung eines neuen Grenzver­fahrens, Ausweitung des Konzepts sicherer Drittstaaten

Trilog

Asyl- und Migrations­management-Verordnung

Neufassung von »Dublin«, faireres, effizienteres und nachhaltigeres System der Zuständigkeit für und Ver­teilung von Asylanträgen unter den Mitgliedstaaten

Trilog

Screening-Verordnung

Einführung einer neuen Gesundheits-, Identitäts- und Sicherheitsüberprüfung an den Außengrenzen

Trilog

Instrumentalisierungs-Verordnung

Temporäre Ausnahmeregeln, damit Mitgliedstaaten auf außergewöhnliche Umstände reagieren können, in denen Migrantinnen und Migranten für politische Zwecke instrumentalisiert werden

Blockiert, Inhalte durch Rat in Krisen-VO verschoben

Eurodac-Verordnung (Novelle)

Anpassung und Ausbau der Eurodac-Fingerabdruck­datenbank (inkl. biometrische Daten und Fotos), um Rückkehr/Rückführungen zu erleichtern und irreguläre Migration zu mindern

Trilog

Krisen und Force-Majeure-Verordnung

Festlegung von Ausnahmeregeln und Solidaritätsinstru­menten, die in Krisensituationen angewendet werden können und müssen, um Mitgliedstaaten schnelles und entschie­denes Handeln zu erlauben

Rat sucht gemeinsame Verhandlungsposition

Richtlinie Kombinierte Erlaubnis

Einfacherer und schnellerer Prozess für eine kombinier­te Erlaubnis für Drittstaatsangehörige und Arbeitgeber

Trilog

Neuansiedlungs-Verordnung

Angleichung des Resettlements anerkannter Flüchtlinge von außerhalb der EU, etwa aus Flüchtlingslagern

Politische Einigung erzielt, Annahme möglich

Aufnahme-Richtlinie (Novelle)

Harmonisierung von Bedingungen für die Aufnahme in der Europäischen Union

Politische Einigung erzielt, Annahme möglich

Anerkennungs-Verordnung (Novelle)

Harmonisierung von Schutzstandards in der EU und Be­endigung von Sekundärmigration, um »Asylshopping« zu verhindern

Politische Einigung erzielt, Annahme möglich

Flankierend zur Asylverfahrens-VO und zur Asylmanagement-VO soll eine neue Scree­ning-Verordnung (Screening-VO) zentraler Bestandteil des reformierten GEAS sein. Sie legt fest, dass binnen fünf Tagen nach An­kunft eine verpflichtende Überprüfung aller irregulär eingereisten Personen an EU-Au­ßengrenzen erfolgen soll. Je nach Ergebnis sollen Personen aus Ländern mit statistisch geringen Chancen auf Schutz (in der Regel unter 20% Anerkennungsquote) in die be­nannten Grenzverfahren überführt werden.

Im Rahmen der Screening-VO ringen die EU-Institutionen miteinander noch darum, ob und wie sich ein unabhängiges Monitoring-System etablieren lässt, das sicherstellt, dass in diesem Verfahren alle geltenden Grundrechte beachtet werden. Da die Scree­ning-VO die einzige Komponente der GEAS-Reform ist, die einen institutionalisierten, an Menschenrechten orientierten Monitoring-Prozess vorsieht, ist seine Ausgestaltung von größter Bedeutung.

Die Krisen-Verordnung: Knack­punkt aktueller Verhandlungen

Die sogenannte Krisen-VO sollte laut dem ursprünglichen Kommissionsvorschlag von 2020 zum Einsatz kommen, wenn große Fluchtbewegungen die Kapazitäten eines Mitgliedstaats überfordern. Sie sollte die »Massenzustrom-Richtlinie« von 2001 erset­zen – mit der doppelten Zielsetzung, einen grup­penbezogenen Schutzstatus zu gewäh­ren und die betroffenen Aufnahmestaaten zu unterstützen. Nach Russlands Angriff auf die Ukraine wurde die Massenzustrom-Richt­linie im Februar 2022 erstmalig an­gewendet und bietet seither über vier Mil­lionen Ukrainerinnen und Ukrainern einen befristeten Aufenthaltsstatus in der gesam­ten EU. Die schnelle gruppenbasierte Ent­scheidung und die Selbstverteilung von Schutzsuchenden werden vielfach als Erfolg gesehen – allerdings nicht von allen Kom­munen, die die Versorgung zu leisten haben.

Unterdessen verschärfte sich im Winter 2021/22 die Debatte über die Instrumentalisierung irregulärer Migration. Mit Blick auf Vorfälle wie die an der belarussisch-polni­schen Grenze legte die EU-Kommission eine neue Instrumentalisierungs-Verordnung vor. Ihr zufolge sollten Einschränkungen des Asylrechts – die insbesondere Polen und einige baltische Staaten vorgenommen haben – EU-rechtlich erlaubt werden, wenn dabei Mindeststandards des internationalen Rechts gewahrt bleiben. Die Befassung mit dieser separaten Verordnung wurde wegen grundrechtlicher Vorbehalte der Bundes­regierung im Dezember 2022 nicht weiter­verfolgt. Seither setzen sich jedoch süd- und nordosteuropäische Staaten dafür ein, zentrale Bestimmungen in die Krisen-VO einzufügen. So sollen sowohl in einer Krise als auch im Falle einer Instrumentalisierung Schutzsuchender unter anderem Grenzschließungen, eine längere Inhaftierung Schutzsuchender, weitere Einschränkungen von Asylverfahren und eine um­fassendere Nutzung von Grenzverfahren möglich sein. Gleichzeitig wurden Bestim­mungen für gruppenbasierten Schutz mit Blick auf die Beibehaltung der Massen­zustrom-Richtlinie gestrichen.

Eine derart angepasste Krisen-VO kann aber ihrem eigentlichen Zweck kaum noch gerecht werden. Die Massenzustrom-Richt­linie behält zwar bis Frühjahr 2025 für ukrainische Geflüchtete Gültigkeit. Für künftige Krisen ist aber keineswegs gesi­chert, ob dieser gruppenbasierte Schutz­mechanismus, der ein unverzichtbares Element zur Entlastung der nationalen Asylsysteme darstellt, erneut aktiviert werden kann.

Doch das ist nicht das einzige Problem, das mit dem aktuellen Entwurf der Krisen-VO verbunden ist. So bleibt die Erklärung einer Instrumentalisierungssituation von politischen Erwägungen abhängig, die stark umstritten sein können. Fraglich ist auch, inwiefern die EU-Kommission und der Ministerrat die vorgesehene Kontrolle über krisenbedingte Ausnahmen von regu­lären Aufnahme- und Asylverfahren aus­üben kön­nen – die bisher mangelhafte Ahndung rechtswidriger Praktiken an den EU-Außengrenzen gibt wenig Anlass zur Hoff­nung. Vielmehr könnten abgesenkte Auf­nahme- und Schutzstandards auf EU-Ebene legitimiert werden und so zur Verstetigung nationaler Aus­nahmezustände beitragen, wie derzeit in Italien zu beobachten ist.

Schließlich sieht der aktuelle Verhandlungsstand im Rat vor, dass flexible Solida­rität auch in Krisen gelten soll, einschließ­lich der Option, keine Schutzsuchenden gemäß den regulären Zuständigkeitsregeln aus anderen Mitgliedstaaten zurückzuneh­men. Ebenso wie durch verlängerte Fristen für die Registrierung und Durchführung von Asylverfahren in Krisenlagen könnten somit weitere Anreize für sekundäre Migra­tion nach Deutschland entstehen.

Ende September 2023 sucht der Rat wei­terhin eine Mehrheitsposition zur Krisen-VO. Das Machtwort von Kanzler Scholz, grundrechtliche Vorbehalte im Interesse einer Einigung auf das gesamte Reform­paket hintanzustellen, ist dabei nicht allei­niger Faktor. Einigen anderen Mitglied­staaten ist der vorliegende Entwurf zu libe­ral. Das Europäische Parlament bezieht un­ter­dessen eine deutlich abweichende Ver­handlungsposition auf Basis des ursprüng­lichen Kommissionsvorschlags zur Krisen-VO und will unter anderem Bestimmungen für gruppenbasierten Schutzstatus bewahren.

Erfolgsaussichten der Reform bis Ende der Legislaturperiode

Die französische Ratspräsidentschaft hatte in der ersten Hälfte 2022 im Rat den »gra­duellen Ansatz« ausgegeben, der es erlaubt, auch einzelne Rechtsakte des GEAS zu be­schließen. Dies war damals aber ein primär taktischer Schritt, um die festgefahrenen Verhandlungen wieder in Gang zu bringen. Klar ist, dass die Asylverfahrens-VO, die Asylmanagement-VO und die Screening-VO ineinandergreifende Kernbestandteile der GEAS-Reform sind und zusammen verhan­delt werden müssen. Einige weitere Rechts­akte standen bereits in der letzten Legis­laturperiode kurz vor dem Abschluss und könnten deshalb gebündelt beschlossen werden (u.a. Qualifikations-VO, Aufnahme-RL). Wiederum andere Vorhaben des Pakts ließen sich gegebenenfalls separat verabschieden, etwa die Novellierung der Euro­dac-VO zur verbesserten biometrischen Erfassung von Asylantragstellenden. Flan­kierend steht eine Überarbeitung des Schen­gen-Kodex noch immer auf der EU-Agenda. Somit liegt eine außergewöhnlich große Verhandlungsmasse auf dem Tisch.

Soll der bis zur Europawahl im Juni 2024 geltende Zeitplan eingehalten werden, müss­ten bis Anfang 2024 alle politisch strittigen Fragen geklärt sein. Vorrangig stehen schwierige Trilog-Verhandlungen zwischen Rat und Parlament an, sobald die aktuelle Blockade zur Krisen-VO überwunden ist. Das Parlament fordert weniger re­striktive Bestimmungen für Schutzsuchende und mehr Solidarität unter den Mitglied­staaten. Allerdings wird erwartet, dass rechtspopulistische Parteien aus den näch­sten Europawahlen gestärkt hervorgehen. Falls zuvor keine Einigung auf die GEAS-Reform erzielt wird, könnten in der Folge zukünftig noch drastischere Einschränkungen des Asylrechts auf EU-Ebene mehrheitsfähig werden. Diese Aussicht schwächt die Verhandlungsmacht des Parlaments gegen­über dem Rat erheblich.

Die »Migrationsdiplomatie« gewinnt an Bedeutung

All diese Verhandlungen werden von der Entwicklung der Beziehungen der EU zu Dritt­staaten überschattet. Die Zusammenarbeit mit libyschen Akteuren wird fort­gesetzt, obwohl ihre massiven und syste­matischen Menschenrechtsverletzungen er­wiesen sind. Jüngst hat sich die EU um eine neue Übereinkunft mit Tunesien bemüht; dabei hat der amtierende Staatspräsident mit seiner Rhetorik gewalttätige Ausschreitungen gegen irreguläre Zuwanderer und Schutzsuchende befeuert. Dessen ungeachtet unterzeichnete die Kommission mit Unterstützung Italiens und der Niederlande eine Absichtserklärung zum Ausbau der Kooperation. Neben der Förderung des Bil­dungssystems, der tunesischen Wirtschaft und Investitionen in erneuerbare Energien ist die Migrationskontrolle offenkundig zen­tral. Tunesien soll im Gegenzug für seine Zusammenarbeit in der Migrationspolitik mit erheblichen Finanzmitteln unterstützt werden, die jedoch größtenteils nach wie vor von der Unterzeichnung eines Abkommens mit dem Internationalen Währungsfonds abhängen.

Damit geht die Gefahr einher, dass die externe Migrationspolitik noch stärker als bisher informalisiert und von den natio­nalen Interessen einzelner EU-Mitglied­staaten beeinflusst wird. Anstelle einer Bin­dung an politische und wirtschaftliche Refor­men und die Einhaltung von Men­schen­rechten werden die finanziellen Res­sourcen aus den EU-Fonds (vor allem das Instrument für Nachbarschaft, Entwicklungs- und internationale Zusammenarbeit, NDICI) immer öfter für Zwecke der Migra­tionskontrolle eingesetzt. Der Fokus der EU-Politik entfernt sich damit noch weiter von der notwendigen Minderung der Ursachen von Vertreibung und irregulärer Migration.

Schwierige Abwägungen

Sollte eine Reform des GEAS erneut schei­tern, dürfte es zu einer weiteren Renatio­nalisierung und Verschärfung der Asyl- und Migrationspolitik kommen. Eine treibende Rolle könnte dabei jenen drei Ländern zukommen, die nach der Europawahl ab Mitte 2024 die Ratspräsidentschaft über­nehmen: Ungarn, Polen und Dänemark. Freiwillige Koalitionen anderer Mitglied­staaten könnten dazu vermutlich kein Gegengewicht aufbauen.

Trotzdem bleibt die Abwägung der Vor- und Nachteile des Reformpakets schwierig: Während ein Scheitern europapolitisch verheerend wäre, wäre eine Einigung aus asyl- und migrationspolitischer Sicht alles andere als ein Durchbruch: Das geplante System flexibler Solidarität ist so aufwändig gestaltet und zudem in einem Maße mani­pulierbar, dass nach wie vor ungewiss wäre, wie Schutzsuchende in der EU faktisch verteilt würden. Angesichts der anhalten­den Missstände in vielen Flüchtlingslagern in EU-Außengrenzstaaten ist fraglich, ob sich die vorgesehenen neuen Grenz­verfah­ren effektiv und menschenwürdig durchführen ließen. Das Konzept der »Kappungsgrenze« macht dieses Vorhaben noch frag­würdiger, da die Qua­lität von Grenzverfah­ren hinter rein quanti­tativen Zielgrößen zurückstehen könnte. Schließlich ist gene­rell zu bezweifeln, dass die veränderte Krisen-VO ein sinnvolles und effektives In­strument für den Umgang mit großen Flucht­bewegungen darstellen würde.

Der operative Mehrwert der Reform wäre in den folgenden Jahren unter schwierigen Bedingungen erst zu beweisen, sowohl für staatliche Behörden wie für die betroffenen Personen. Bisher gibt es dafür kaum Anlass zur Hoffnung; in den wenigsten Mitgliedstaaten wird die Übernahme von Verantwortung für Schutzsuchende honoriert. Das gilt für die von Sekundärwanderungen be­trof­fenen Länder wie Österreich, Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten ebenso wie für die Außengrenzstaaten, wenn die Ankunftszahlen dort trotz migra­tions­politischer Vereinbarungen mit Dritt­staaten hoch bleiben.

Handlungsempfehlungen

Die Möglichkeiten, die Schlussphase der GEAS-Reform noch zu beeinflussen, sind begrenzt, aber gerade deshalb mit Nachdruck auszuschöpfen. Die Bundesregierung ist mit ihrem bisherigen Einsatz für den internationalen Flüchtlingsschutz auf EU-Ebene zunehmend isoliert. Viele Mitgliedstaaten verlassen sich weiterhin auf die Se­kundärmigration innerhalb der Schengenzone und auf Deutschlands Bereitschaft, einen überproportionalen Anteil an Asyl­anträgen zu übernehmen. Mittlerweile steht aber die Bundesregierung unter hohem innenpolitischem Druck, die Zahl der Asylgesuche merklich zu senken.

Der Einsatz der Bundesregierung für einen starken internationalen Flüchtlingsschutz ist dabei nicht nur normativ und ethisch gerechtfertigt: Deutschland hat als attraktives Wanderungsziel größtes Inter­esse an einer berechenbaren und fairen EU‑Lastenteilung, an der Reduzierung un­geregelter Wanderungen und an der Rück­führung von Menschen, die nicht schutz­bedürftig sind. Das Ansinnen, irreguläre Zuwanderung vollständig zu verhindern, ist in liberalen Rechtsstaaten illusorisch. Die stattdessen erforderlichen Vereinbarun­gen mit den Herkunfts- und Transitländern werden nicht in bilateralen Alleingängen, sondern nur im Rahmen einer abgestimmten europäischen Politik Wirkung entfalten können.

Es wird nicht ausreichen, darauf zu hoffen, dass das Europaparlament im Trilog entsprechende Verbesserungen erreichen kann. Erforderlich ist eine klare Positionie­rung der Bundesregierung. Angesichts der langfristigen Herausforderungen der euro­päischen Asylpolitik sollte sie nicht alle Reformvorschläge zu jedem Preis mittragen, vielmehr sollte sie sich weiterhin mit Nach­druck für folgende Punkte einsetzen:

1) Zweckentfremdung der Krisen-VO verhindern: Sie sollte sich mit aller Kraft für ein krisenfestes europäisches Asylsystem stark­machen und Instrumentalisierungssituatio­nen lediglich als Sonderszenarien betrach­ten. Zudem sollte sie sich in den parallel laufenden Verhandlungen über die Reform des Schengener Grenzkodex dafür einsetzen, dass eine möglichst präzise und empi­risch belegbare Definition von Instrumentalisierung festgelegt wird. Zumindest müs­sen in der Krisen-VO Bestimmungen für einen gruppenbasierten Schutz erhalten bleiben, wie dies auch das Europäische Par­lament fordert. Ein belastbares Regime für den Umgang mit außergewöhnlich großen Fluchtbewegungen muss nach Auslauf der derzeitigen Regelungen für ukrainische Geflüchtete gewährleistet sein. Generell sollte sich die EU nicht dadurch verwund­bar machen, dass sie Fluchtbewegungen reflexartig als krisenhaften Ausnahme­zustand behandelt und in der Folge durch Sonderregelungen humanitäre Notlagen an den Außengrenzen verschärft.

2) Rechenschaft und Menschenrechtsmonitoring stärken: Tragödien auf See wie die jüng­ste vor Pylos oder die systematischen Push­backs an EU-Außengrenzen dürfen nicht ohne Konsequenzen bleiben. Zusätzlich zur Stärkung von Sanktionsverfahren bei offe­nen Rechtsbrüchen sollte sich die Bundes­regierung dafür einsetzen, den Geltungs­bereich des in der Screening-VO vorgesehe­nen Monitorings auszuweiten; er stellt sicher, dass humanitäre Organisationen und andere unabhängige Beobachterinnen und Beob­achter unbeschränkten Zugang zu Grenz­regionen und damit über das Screening hin­aus auch zu den geplanten Grenzverfahren haben. Alle Mitgliedstaaten oder die Kom­mission sollten zudem verpflichtend un­abhängige Beobachtungsstellen einrichten.

3) Abhängigkeit von externen Partnern redu­zieren: Die externe Dimension der EU-Asyl­politik gilt es von den EU-internen Gesetz­gebungsverfahren zu entkoppeln. Die Ko­operation mit Drittstaaten sollte weder zu jedem Preis und unter allen Umständen ver­tieft werden, noch sollten Mitgliedstaaten wie Italien sie zur Vorbedingung für ihre Zustimmung zur GEAS-Reform machen können. Unbestritten ist, dass Asyl-Grenz­verfahren und die zugehörigen Rückfüh­rungen eine Kooperation mit Drittstaaten erfordern. Diese sicherzustellen ist eine mittel- und langfristige Aufgabe – und bedarf auch eines größeren innereuro­päischen Konsenses darüber, welche Dritt­staaten hinreichend sicher und vertrauens­würdig sind. Der Umgang mit Tunesien zeigt, wie schnell falsche Erwartungen genährt werden, deren Enttäuschung die internationale Glaubwürdigkeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten weiter untergräbt. Die Bundesregierung sollte grundsätzlich mit allen Drittstaaten entlang der Wanderungsrouten Verhandlungen führen, und sie sollte den relevanten Drittstaaten noch deutlich mehr Angebote zur migrations­politischen Zusammenarbeit unterbreiten. Hierfür solle sie auch entwicklungspolitische Instrumente nutzen, etwa um diese Länder bei der Stärkung ihrer asyl- und migrationspolitischen Kapazitäten zu unter­stützen.

Dr. Steffen Angenendt ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Nadine Biehler und Dr. Anne Koch sind Wissenschaftlerinnen, David Kipp Wissenschaftler dieser Forschungsgruppe. Dr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa.
Die Studie wurde verfasst im Rahmen des vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geförderten Projekts »Strategische Flucht- und Migrationspolitik«.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023

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