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Die neue Arktisstrategie der EU

Maritime Sicherheit und geopolitische Akzente stärken

SWP-Aktuell 2021/A 14, 16.02.2021, 4 Seiten

doi:10.18449/2021A14

Forschungsgebiete

Der Schutz der Arktis, die nachhaltige Entwicklung und die internationale Zusammenarbeit: an diesen drei Prinzipien hat sich die Arktispolitik der Europäischen Union (EU) in den einschlägigen Mitteilungen der Kommission 2008 und 2016 orien­tiert. Aufgrund ihres langjährigen Engagements und einer Vielzahl von Projekten in der Arktis, für die diese drei Prinzipien maßgeblich sind, ist die EU bereits ein ark­tischer Akteur, auch wenn sie im Arktischen Rat keinen formellen Beobachterstatus hat. Darüber hinaus sind drei EU-Staaten – das Königreich Dänemark, Finnland und Schweden – Mitglieder dieses Rates. Island und Norwegen sind Mitglieder des Euro­päischen Wirtschaftsraums und beteiligen sich am EU-Rahmenprogramm für For­schung und Innovation.

Während die ersten beiden Prinzipien hoch relevant bleiben, fehlt im internatio­nalen Kontext eine sicherheitspolitische Komponente. Sie ist wegen der zunehmen­den geopolitischen Bedeutung der Arktis notwendig geworden. Diese Komponente sollte daher in die neue EU-Arktisstrategie integriert werden, die zurzeit in Brüssel erarbeitet wird, nachdem zwischen Juli und November 2020 eine öffentliche Befra­gung dazu stattgefunden hat. Die maritime Sicherheit bietet ein bewährtes und geeig­netes Feld für ein stärkeres Engagement der EU in der Arktis.

Die dramatischen Auswirkungen des Klima­wandels stellen alle Arktisstaaten und die Beobachterstaaten im Arktischen Rat vor große Herausforderungen, denen sie in ihren jeweiligen Arktisstrategien zu begegnen suchen. Dabei ist es laut einer Mitteilung der EU-Kommission vom April 2016 »wich­tiger denn je, dafür zu sorgen, dass die Arktis weiterhin ein Raum des Friedens, des Wohl­stands und der konstruktiven internatio­nalen Zusammenarbeit bleibt.« Wie dies konkret erreicht werden soll, das wird in der Mitteilung allerdings nicht ausgeführt.

In den letzten drei Jahren haben zahl­reiche Staaten – und in einem Land zu­sätzlich Ministerien und Teilstreitkräfte – neue Dokumente veröffentlicht, in denen sie ihre Strategie für die Arktis darlegen. Im Jahr 2019 haben Frankreich, die Vereinig­ten Staaten von Amerika – die USA gleich dreifach mit Marine, Küstenwache und Pen­tagon – sowie Deutschland und Kanada neue bzw. aktualisierte Arktisstrategien vorgelegt. Ein Jahr später folgten US-Luft­waffe, Russland, Schweden, Norwegen und Polen. Im Januar 2021 gaben US-Marine und US-Marinekorps gemeinsam ein Strate­giedokument heraus, gefolgt vom US-Hei­mat­schutzministerium. Indien stellte den Ent­wurf einer Arktisstrategie im Internet zur Diskussion; im Laufe dieses Jahres werden voraussichtlich Dänemark, Finn­land und die Schweiz folgen. Die EU-Kom­mission plant, im Herbst eine neue Politik für die Arktis zu präsentieren.

Die ungewöhnlich große Zahl von Strategiepapieren ist an sich schon bemerkenswert. Die bislang veröffentlichten Doku­mente unterscheiden sich zudem wesentlich von früheren Arktisstrategien, indem sie (außer im Falle Indiens) erstmals oder verstärkt sicherheitspolitische Risiken beto­nen. Ein Grund dafür sind militärische Akti­vitäten Russlands, die zwar aus Sicht des Kremls folgerichtig sein mögen, unter Ark­tisstaaten aber zu einer Verunsicherung geführt und ein Sicherheitsdilemma erzeugt haben. Außerdem ist ungewiss, inwieweit die chinesisch-russische Zusammenarbeit auch in der Arktis militärisch wirksam wer­den wird. Russland wird im Mai 2021 bei der Minis­tersitzung in Reykjavik den Vorsitz im Arktischen Rat übernehmen, dann wird es sich auch mit dem entstandenen Konflikt­potential auseinandersetzen müssen.

Wachsende sicherheitspolitische Bedeutung der Arktis

Alle Arktisstaaten wollen, dass die Arktis ein Gebiet bleibt, in dem Frieden, Stabilität und ein geringes Maß an Spannungen herr­schen und so viel Zusammenarbeit wie möglich gepflegt wird. Das Risiko einer Eskalation von Konflikten in der Arktis ist nach wie vor gering, besteht aber durchaus. Viele militärische Aktivitäten und Rüstungs­projekte Russlands können auf dessen Selbstverständnis als Großmacht, die Ab­sicherung wirtschaftlicher Interessen und den Wunsch nach einem Verhältnis auf Augenhöhe mit den USA und der Nato zu­rück­geführt werden. Dabei bildet die Arktis ein wichtiges Element in Moskaus Gesamt­strategie, das dort aber selbst ein Anwachsen des Konfliktpotentials erkannt hat.

Trotz seiner aggressiven Rhetorik und Verhaltensweise sind Russlands strategische Ziele in der Region prinzipiell defensiv aus­gerichtet. Moskau hat es jedoch versäumt, durch Transparenz und Vertrauensbildung um Verständnis für seine Arktispolitik zu werben. So wird Russland denn auch als aggressive Militärmacht wahrgenommen, die auf die Sicherheitsinteressen anderer Staaten keine Rücksicht nimmt. Arktische Nachbarländer reagieren darauf, indem sie aufrüsten und sich auf Konflikte vorbereiten, die eskalieren könnten. Die Lage hat sich in den letzten zehn Jahren insofern fundamental geändert.

Noch 2011 hatte Schweden in seiner Strategie für die Arktis konstatiert, dass die gegenwärtigen sicherheitspolitischen Her­ausforderungen keinen militärischen Cha­rakter hätten. Vielmehr sei im bilateralen wie im multilateralen Kontext die Bedeutung eines umfassenden Konzepts von Sicherheit hervorzuheben, zivile Instrumente seien zu bevorzugen. Im neuen Strategiepapier vom November 2020 wird nun die Notwendigkeit von Frieden und Stabilität ebenso betont wie eine »neue militärische Dyna­mik in der Arktis«. In den Leitlinien der deutschen Arktispolitik vom August 2019 war bereits ein ganzes Kapitel der sicherheitspolitischen Dimension gewid­met und forderte Berlin »eine intensivere Befassung von EU und Nato mit den sicherheitspoliti­schen Implikationen der Arktis«. Die fran­zösische Verteidigungsministerin Florence Parly erkannte 2019 als neue große Heraus­forderung einen verstärkten Wettbewerb zwischen Staaten in der Region, der eines Tages zur Konfrontation führen könne. Im Vorwort des Strategiepapiers zitierte sie Michel Rocard, Frankreichs ehemaligen Premierminister und Botschafter für Arktis und Antarktis, der die Region mit dem Na­hen Osten gleichsetzte. Einmal mehr wer­den an diesen Äußerungen geopolitische Veränderungen und Unsicherheiten deut­lich, die aktuell die Lage kennzeichnen.

Eine neue EU-Arktisstrategie sollte sich daher auch der Sicherheitspolitik widmen. Für Brüssel bedeutet dies einen Balanceakt zwischen Arktis- und Nicht-Arktisstaaten, EU- und Nato-Staaten, Geopolitik und Geo­ökonomie, hohen Erwartungen und un­zureichenden Fähigkeiten – all dies birgt eine ganze Reihe von Zielkonflikten.

Die EU wird in der Arktis gebraucht

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat zu Beginn des neuen fünfjährigen institutionellen Zyklus der Europäischen Union eine »geopolitische Kommission« ausgerufen. Europa müsse die »Sprache der Macht lernen«, erklärte sie in ihrer Grund­satzrede am 8. November 2019 in Berlin. Das heiße auch, »eigene Muskeln aufbauen, wo wir uns lange auf andere stützen konn­ten – etwa in der Sicherheitspolitik.« Aber Brüssel kann (und will) kein Gegengewicht zu einem schwächelnden Amerika, einem ambitionierten China und einem aggressiven Russland sein. Damit wäre die EU über­fordert und bräuchte mehr – insbesondere militärische – Machtmittel, als derzeit politisch vertretbar und durchsetzbar ist. Momentan gilt: »Wir sind keine Anbieter von harter Sicherheit, und wir haben nichts, was an eine europäische Armee heranreicht«, erklärte der im April 2020 ernannte EU-Arktisbotschafter Michael Mann.

In Anbetracht der veränderten geo­politischen Lage kommt keine neue Arktis­strategie mehr umhin – wie jüngst am Beispiel Schwedens zu sehen –, auf sicher­heits­politische Risiken hinzuweisen und daraus Schlüsse zu ziehen. Welchen Beitrag kann und will die EU leisten, wenn sie gleichzeitig weiter auf multilaterale Koope­ration setzen, Risiken dabei aber nicht verleugnen möchte?

Ein Fokus auf maritime Sicherheit ent­spricht gleichermaßen der Lage in der Arktis wie den Fähigkeiten der EU. Die in der EU-Strategie für maritime Sicherheit (EUMSS) verankerten Maßnahmen dienen dazu, gegen externe Einflussnahme resilient zu werden und Fähigkeiten auszubauen, die zum gemeinsamen Lagebild der Schifffahrt und des Flugwesens sowie der Weltraum­fähigkeiten in und über der Arktis beitra­gen sollen. Hier hat die Arktis große Defi­zite, während die EU reiche prak­tische Erfahrung einbringen kann. Denn mit dem zunehmenden Schiffsverkehr in der Arktis sind vielfältige Risiken verbunden, die es einzudämmen gilt – das Spektrum reicht vom Eindringen gebietsfremder Fischarten, die den Umweltschutz betreffen, bis zum Ein­dringen ausländischer Fischfangflotten, die eine Herausforderung für die Küsten­wache sind. In Fortschreibung der EU-Stra­tegie 2016 gilt es daher, die maritime Sicher­heit in höherem Maße zu gewährleisten.

So ist etwa zur Sicherung der Seeverkehrswege eine verbesserte Lageerfassung nötig (als ein entscheidender Baustein der EUMSS). Dabei ist die Kommunikations­abdeckung lückenhaft oder fehlt oft gänz­lich. Die Folge ist, dass Such- und Rettungsteams derzeit gar nicht oder nur unzureichend bereitgestellt und geleitet werden können, wenn Schiffe und ihre Besatzungen in Not geraten. Gerät ein Schiff in der Arktis in Seenot, ist es daher in allergrößter Gefahr. Mit dem wachsenden Schiffsverkehr ist auch die Zahl der jährlichen Unglücksfälle in der Arktis von 28 (2007) auf 71 (2017) gestiegen; meistens war Ma­schinen­schaden die Ursache. Weil zu wenig Ein­satzkräfte und ‑mittel für Unglücksfälle verfügbar sind, findet weniger Vorsorge statt, sondern eher Risikomanagement.

Maritime Sicherheit erfordert eine Kom­bination weicher und harter Mittel, über die EU-Mitgliedstaaten in der Arktis zur Wahrung ihrer nationalen Souveränität durchaus verfügen – von gemeinsamen Nor­men bis hin zu Fähigkeiten für Satel­litenüberwachung, Küstenschutz und Mari­neeinsätze. Dabei stellt sich allerdings das alte Problem der EU-Nato-Beziehungen: das Potential für eine Kooperation zur Gewähr­leistung der maritimen Sicherheit ist immer noch nur unzureichend benannt, geschwei­ge denn abgestimmt und koordiniert. Eine positive Ausnahme ist das Baltic Maritime Component Command in Rostock, das sowohl (und vorrangig) der Nato wie auch der EU zur Verfügung stehen soll – mit Schwerpunkt auf Führung von Operationen im Ostseeraum und an der Nordflanke.

Eine zukunftsweisende Strategie auch gegenüber Russland

Soll die neue EU-Arktisstrategie ein realis­tischer Entwurf für die Zukunft sein, muss sie Russland gleichermaßen als Problem wie als Herausforderung berücksichtigen. In einigen Politikfeldern stimmen euro­päische und russische Interessen überein, wenn auch ihre Rangordnung unterschiedlich ist und mit Blick auf Ostukraine und Krim-Annexion bei jedem Engagement generell Zurückhaltung gilt. Bei einer Zu­sammenarbeit wäre Russland vor allem an Projektfinanzierung und Wissensaustausch in – politisch relativ unproblematischen – Umweltfragen interessiert. Auf seiner eige­nen Agenda steht jedoch die nationale Sicherheitsvorsorge im Vordergrund. Wenn Russland im Mai 2021 den Vorsitz im Ark­tischen Rat übernimmt, genießen Energiewirtschaft und Militär daher traditionell Vorrang, während Umweltfragen eher nach­rangig sind. Natürlich ist aber auch Russ­land an einem innovativen System für Such- und Rettungseinsätze interessiert und zu grenzüberschreitender Kooperation in Umweltbelangen bereit.

Die Europäische Union verfügt über ein breites Spektrum an regionalen Kompetenzen, Fachwissen und Initiativen, das als Rahmen für etwaige gemeinsame Projekte dienen kann. Ihre Beschlüsse und Aktivitäten haben außerdem direkte Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung der Arktis. Die EU ist nicht zuletzt ein wichtiger Abnehmer arktischer Produkte aus Energie­wirtschaft und Fischerei.

Konkret könnte wiederum die maritime Sicherheit als bewährtes Feld für Koopera­tionen dienen – geeignete Beispiele sind Projekte wie ARCSAR (Arctic and North At­lan­tic Security and Emergency Preparedness Network), neue Projekte könnten sich dem Ausbau der Infrastruktur in der Arktis widmen. Da es gravierende Defizite in der Infra­struktur gibt, ist für international genutzte Seewege die Unterstützung der EU sinnvoll, klima- und umweltpolitisch können europäische Normen dabei von Nutzen sein. Eine zukunftsweisende Stra­tegie sollte dies nicht nur für den an die russische Arktis grenzenden Raum und die Beziehungen zu Russland berücksichtigen, sondern auch für Grönland, dessen Projekt Unabhängigkeit in Zukunft neue maritime Vulnerabilität bei der Sicherung von See­verkehrswegen und der notwendigen Infra­struktur entstehen lassen könnte.

Russland wird seinerseits versuchen müssen, das in seiner Arktisstrategie fest­gestellte wachsende Konfliktpotential in der anstehenden Präsidentschaft im Arkti­schen Rat zu verringern. Im Vorgriff auf den rus­sischen Vorsitz wurde in den USA die Zusammenarbeit im Rahmen der Küs­tenwache und dem Arctic Coast Guard Forum (ACGF) thematisiert, die auszubauen wäre. Darüber hinaus könnte – als Ersatz für den 2014 eingestellten Dialog der Gene­ralstabschefs oder als Vorstufe für dessen Reaktivierung – auf Expertenebene ein Dia­log über militärische Sicherheit im hohen Nor­den aufgenommen werden. Dazu könn­ten die Empfehlungen des Expertendialogs Nato-Russland aufgegriffen werden, um später unter Umständen in der Arktis gel­ten­de militärische Verhaltensregeln fest­zulegen, die dann auch Maßnahmen zur maritimen Sicherheit enthalten könnten.

Der ehemalige finnische Premierminister Antti Rinne äußerte im Oktober 2019: »Es sollte mehr EU in der Arktis geben und mehr Arktis in der EU«, denn die EU habe der Region viel zu bieten. Die EU kann zur maritimen Sicherheit beitragen und sollte dazu eine arktisspezifische Konnektivitätspolitik (Digitalisierung, Navigation, Logis­tik, Transport) verfolgen. Sie wird aber auf absehbare Zeit kein arktischer Sicherheitsakteur werden, weil sie nicht über die dazu notwendigen militärischen Fähigkeiten ver­fügt. In diesem Sinne sollte die neue EU-Arktisstrategie mehr maritime Sicherheit und die EU-Globalstrategie mehr Arktis ent­halten, indem sie eine konkrete Auswei­tung des geopolitischen Rahmens vornimmt.

Dr. Michael Paul ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

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