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Deutschland im arktisch-nordatlantischen Raum

Russlands militärische Aktivitäten brauchen Aufklärung

SWP-Aktuell 2021/A 74, 29.11.2021, 7 Seiten

doi:10.18449/2021A74

Forschungsgebiete

Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages hat in seiner letzten Sitzung vor der Sommerpause 2021 der Anschaffung von fünf Flugzeugen P-8A Poseidon für 1,43 Milliarden Euro zugestimmt. Dieses Flugzeug erfüllt alle technischen und opera­tiven Anforderungen, die an einen modernen Seefernaufklärer der Marine gestellt werden. Die Anschaffung behebt nicht nur einen kurzfristig auf­getretenen Mangel an entsprechenden Luftfahrzeugen, sondern schließt auch eine Lücke in der Aufklärung. Notwendig geworden ist dies durch die militärischen Aktivitäten, die Russland im arktisch-nordatlantischen Raum entfaltet. Dort spielt Deutschland eine besondere geostrategische Rolle. Darum sollte es seine maritimen und mili­tärischen Fähigkeiten weiterentwickeln.

Das Verhältnis des Westens zu Russland ist auf einem Tiefpunkt. Spürbar ist dies vor allem im arktisch-nordatlantischen Raum (siehe Karte, S. 2), also dem maritim gepräg­ten Gebiet zwischen Norwegen, Dänemark sowie Grönland, dem Vereinigten Königreich, Island und der kanadischen Ostküste. Dort hat der Nato-Staat Norwegen eine kurze, aber direkte Landgrenze und eine lange gemeinsame Seegrenze mit Russland. Im selben geo­grafischen Raum justieren Finnland und Schwe­den, die nicht der Alli­anz angehören, ihren künftigen sicherheits­politischen Kurs gegenüber Moskau neu. In Helsinki hält man sich die Nato-Mitglied­schaft offen, und in Stockholm hat das Parlament im Dezember 2020 mit großer Mehrheit für eine »Nato-Option« gestimmt.

Nach wie vor erbringen die USA eine ver­lässliche Sicher­heitsleistung für eine stabile Nord­flanke der Nato. Damit konnte die Dreiheit von Ab­schreckung, Verteidigung und Dialog jahr­zehntelang ungeschmälert aufrechterhalten werden. Die Bezie­hungen des Westens zu Russland haben sich unter­dessen erheblich verschlechtert.

Norwegen bewertete den arktischen Raum noch vor wenigen Jahren grundsätzlich als Region der Kooperation. Traditionell versucht Oslo eine Gleich­gewichts­politik zwischen Abschreckung und Zusammen­arbeit zu betreiben. Nach 2014 ist dieser Ansatz aufgrund der veränderten Sicherheitslage schwieriger geworden. In der letz­ten Version seines Langzeit-Verteidi­gungs­plans 2020 musste Norwegen an­erken­nen, dass der Hohe Norden (wie die europäische Arktis oft genannt wird) zu einem Schauplatz der Großmachtrivalität und damit zunehmender Instabilitäten geworden ist.

Karte

Quelle: Wikipedia-Artikel, »Russian Navy«, <en.wikipedia.org/wiki/Russian_Navy>

Norwegen versteht sich selbst als Auge und Ohr der Nato und investiert daher beträchtliche Summen in die Aufklärung. Aus­gehend vom Flughafen Evenes, erprobt die norwegische Luftwaffe derzeit ihr erstes Flugzeug vom Typ Boeing P-8A Poseidon. Fünf dieser Seefernaufklärer wurden im Jahr 2017 bestellt und sollen ab 2022 suk­zessive in den aktiven Dienst überführt werden. Damit wollen die norwegischen Streitkräfte bis Ende 2023 ihre veraltete Flotte von See­fernaufklärern und Spezialflugzeugen der Typen Lockheed P-3C/N und Dassault Falcon 20 komplett ersetzen. Im Gesamt­geflecht alliierter Lagebild­erfassung und Verteidigungsplanung nimmt Norwegen in der Region eine Vor­reiterrolle ein. Als Nation sieht es sich zwar nicht unmittelbar von Russ­land bedroht, etwa durch eine Invasion. Als Nato-Mitglied aber registriert es die zunehmende Ver­schlechterung der sicherheitspolitischen Beziehungen und hält darum eine Ver­lagerung der Spannungen in den Hohen Norden für eine reale Gefahr. Aufmerksam werden daher russi­sche Manöver wie Ocean Shield im August 2019 beobachtet, das mit etwa 70 Schiffen und 58 Flugzeugen direkt vor norwegischen Hoheitsgewässern statt­fand. Im Oktober 2019 passierten zehn russische U‑Boote das Europäische Nord­meer auf ihrem Weg in den Nordatlantik – der größte derartige Einsatz seit dem Kalten Krieg. Um genau solche maritimen Akti­vitäten aufzuklären, erneuern die norwegischen Streitkräfte ihre Fähig­keiten. Mit der geplanten Stationierung der neuen Flug­zeuge im Hohen Norden sollen auch die Dis­tanzen zu etwaigen Ein­satzgebieten gering gehalten werden. Beim arktisch-nordatlan­tischen Raum handelt es sich um ein aus­gedehntes Seegebiet, in dem sich U-Boote nahezu uneingeschränkt bewegen können. Daher müssen entsprechende Fähigkeiten grundsätzlich überall und flexibel ein­gesetzt werden, um Aufklärungserfordernissen Rechnung zu tragen. Von besonderem Interesse sind die militär­strate­gisch nutzbaren Engstellen – der sogenannte GIUK Gap zwischen Grönland, Island und dem Vereinigten Königreich sowie der Bear Gap zwischen dem norwe­gischen Fest­land, der Bäreninsel und Sval­bard – sowie die Seegebiete, die an die Hoheitsgewässer der dort beheimateten Alliierten grenzen (siehe Karte).

Doch auch mit den fünf neuen modernen Seefernaufklärern wird Norwegen allein nicht in der Lage sein, den Verbündeten ein umfassendes und nahezu lücken­loses Lagebild im riesigen maritimen Gebiet des arktisch-nordatlantischen Raums zu liefern. Dazu müssen auch die anderen Alliierten ihre Beiträge leisten, vor allem jene mit ent­sprechenden Fähigkeiten und einem geo­strategischen Bezug zum Raum. Zu diesen Staaten zählt auch Deutschland, neben den USA, Dänemark, dem Vereinigten Königreich und Kanada.

Deutschland im arktisch-nordatlantischen Raum

Deutschland ist stark in Themen mit Bezug zur Arktis involviert – seien es die Folgen des Klimawandels, maritime Sicherheit, Fische­rei oder die Bewahrung der Arktis als Raum friedlicher Kooperation. Allerdings hat die Arktis ihren Ausnahmecharakter als Ort von Zusammenarbeit, Frieden und Stabi­lität verloren. Sollte es jemals einen arkti­schen Exzeptionalismus gegeben haben, so ist seine Zeit zu Ende. Nun treten im arktischen und subarktischen Raum latente Territorial- und Ressourcenstreitigkeiten zutage (so jüngst auf der durch Norwegen verwalteten Inselgruppe Svalbard), in die auch Deutsch­land verwickelt werden kann.

Geostrategisch liegt Deutschland an den Schnittstellen zum Hohen Norden, zum Atlantik, zur Ostsee und zum europäischen Festland. Wichtige außenwirtschaftliche und sicherheitspolitische See- und Land­verbindungslinien laufen entweder durch Deutschland oder an seinem Territorium vorbei. Weil Deutschland Mitglied der EU und des Ostseerates sowie Beobachter im Arktischen Rat und im Euro-Arktischen Barentssee-Rat ist, hat die Bundesregierung zahlreiche die Arktis betreffende Themen auf ihrer Agenda. Diese hat sie in den Leit­linien deutscher Arktispolitik zusammen­gefasst.

Aus sicherheitspolitischer Perspektive ist Deutschlands Interesse an dem Raum vor allem im Kontext der Nato zu sehen. Es geht darum, Europa gegen etwaige Bedrohungen zu ver­teidigen sowie die wesentlichen Trans­port- und Verbindungslinien offen zu halten.

Deutschland ist eine kontinentale Mittel­macht und auf sichere Schifffahrtswege sowie die uneingeschränkte Nutzung der See angewiesen. Dies wird aber durch die wach­sende Machtrivalität der Großmächte USA, China und Russland in Frage gestellt, die auch im Hohen Norden wirksam wird. Als potentielle »peer competitors« der Nato betrachten China und Russland ihre sicher­heitspolitischen und ökonomischen Inter­essen nicht in einem regional begrenzten, sondern größeren geostrategischen Zusam­menhang. Deshalb verwundert es wenig, dass die USA und das Vereinigte König­reich den Einsatz von Kriegsschiffen für so­genannte Freedom of Navi­gation Operations (FONOPs) im Rahmen eines dynamischen Einsatzkonzeptes (dyna­mic force employment) in der Barentssee durchexerzieren.

Es liegt daher nicht nur im deutschen Interesse, gemäß den Leitlinien deutscher Arktispolitik »bestehenden geopolitischen Spannungen in der Region zu begegnen und (Interessens-)Konflikten und potentiellen Krisen in der Arktis vorzubeugen«. Um die Arktis als konfliktarme Region zu erhal­ten, sie auf friedliche Weise zu nutzen und die freie Schifffahrt dort zu bewah­­ren, sieht sich Deutschland gezwungen, auch auf russische Aktivitäten zu reagieren und das Potential für eine weitere Destabilisierung einzuhegen.

Russlands militärische Expansion

Alle Arktisanrainer sind an einer friedlichen und stabilen Lage im ark­tischen Raum interessiert. Grundlegend für die russi­sche Militärpolitik ist jedoch die Behaup­tung, die USA und Nato-Staaten bedrohten Russ­land. In der Nationalen Sicherheits­strategie vom Juli 2021 werden USA und Nato, die angeblich schon jetzt weitreichende feind­liche Aktivitäten gegenüber Russland ent­falten, sogar als größte mili­tärische Be­dro­hung identifiziert. Die Stra­tegie, die dem sowjetischen Bastions­konzept zum Schutz der maritimen nu­kle­aren Zweitschlagsfähig­keit in der russischen Arktis zugrunde liegt, dient der Führung in Mos­kau seit einigen Jahren dazu, den militärischen Einfluss­bereich immer weiter über das Staats­terri­torium hinaus zu vergrößern. Außerdem ist Russlands Politik im Hohen Norden und in der Arktis unmittelbar mit seinen Inter­essen in Europa ver­knüpft, wie andernorts bereits ausführlich dargelegt wurde. Chine­sische und rus­sische geoökonomische Inter­essen an der polaren Seiden­straße sind zwar nicht identisch, aber wesentlich für Russ­lands Nutzung der Arktis als Ressourcen­basis und die eigene Rolle als künftige han­delspolitische Dreh­scheibe. Die ange­strebte Stärkung des russischen Großmacht­status findet ihren militärischen Ausdruck darin, dass Moskau das gemeinsame und koordi­nier­te Zusammenwirken zwischen Russ­lands Nordflotte und Ostseeflotte auf­wertet. Damit sollen geostrategische und geo­öko­nomische Inter­essen gewahrt sowie die Verteidigung des russischen Hoheitsgebietes sichergestellt werden. Zudem er­möglicht das schmelzende Meereis, fort­an Flotten­verbände über die Nörd­liche See­route rascher in den Atlan­tik oder den Pazifik zu ver­legen. In der Folge nehmen die mili­täri­schen Aktivitäten im arktisch-nordatlan­ti­schen Raum zu.

Die Deutsche Marine und die Nato im arktisch-nordatlan­tischen Raum

Vor dem Hintergrund einer möglichen Rüstungs- und Eskalationsspirale hat Deutschland seine Bündnisverpflichtungen auch im arktisch-nordatlantischen Raum zu erfüllen. Jedwede militärische Akti­vität in der Region sollte aber defensiver Natur sein. Die Teilnahme der Bundeswehr an Manö­vern und Übungen in der Arktis oder im subarktischen Raum ist als Ausdruck der Bündnistreue, Rückversicherung und Signal der Abschreckung zu verstehen.

Landseitig zählten zu diesen Übungen und Manövern vor allem die Mitwirkung der Very High Readiness Joint Task Force (VJTF) an der Nato-Großübung Trident Juncture 2018 in Nordnorwegen sowie die Beteiligung des Seebataillons der Marine am arktischen Training mit niederländischen Marines 2019. Letzteres diente dazu, eine gemeinsame deutsch-niederländische amphibische Task Group vorzubereiten.

Seeseitig gehört der subarktische Bereich im Nordatlantik und der nördlichen Ostsee zu den Standardseegebieten, in denen die Deutsche Marine operiert. Das tut sie in ständigen maritimen Einsatzverbänden der Nato und in bilateralen Kooperationen, besonders mit Norwegen. Im Rahmen der angestrebten Baltic Maritime Coordination Function (BMCF) der Nato will die Bundeswehr ­künftig eine Raumverantwortung für die gesamte Ostsee übernehmen. Im Eck­punktepapier vom Mai 2021 für die Bundes­wehr der Zu­kunft hat die Bundesministerin der Verteidigung dieses Vorhaben sogar zur Priorität erhoben.

Was Ostsee und Nordsee betrifft, ist deutsche Verantwortung für den Schutz von Küstengewässern, angrenzenden See­gebieten und Seeverbindungswegen klar. Doch der »Nordflankenraum« der Nato be­steht nicht nur aus dem Seegebiet zwischen Dänemark und dem Baltikum, sondern erstreckt sich über das Europäische Nord­meer in den Hohen Norden bis zum Nord­pol. Wegen Russlands verstärkter militärischer Aktivitäten müssen Sicher­heit und Resilienz der Länder in diesem Raum er­höht werden. Eines der einfachsten Mittel, gleichermaßen Abschreckung und Verteidi­gungsfähig­keit zu steigern, ist ein möglichst lückenloses Lagebild. Dabei geht es nicht nur darum, aggressives Verhalten feststellen, sondern auch nachweisen zu können. Auf diese Weise könnte die Nato Russ­land klarmachen, wo die Grenzen eines desta­bi­lisierenden mili­tärischen Akti­vismus in der Region liegen.

Das deutsche Problem See(fern)aufklärung

Das Wissen über Aktivitäten, Zusammen­hänge und Entwicklungen in einem sicher­heitspolitisch relevanten Raum ermöglicht es, von einer reaktiven zu einer aktiven Sicherheitspolitik überzugehen. Aus diesem Grund ist ein möglichst vollständiges Lage­bild über den Raum in Echtzeit unabdingbar. Dafür bedarf es bestimmter Schlüsselfähigkeiten. Gerade bei diesen Schlüssel­fähigkeiten für den Hohen Norden wie Seefernaufklärern, U-Jagd-Einheiten und U‑Booten hat Deutschland immer wieder Schwierigkeiten. Von den ehemals acht See­fern­aufklärern der Deutschen Marine vom Typ P-3C Orion können derzeit nur noch vier weiterhin betrieben werden.

Ursprünglich sollte dieser Flugzeugtyp erst im Jahr 2035 durch das deutsch-fran­zösische Projekt des Maritime Airborne Weapon System (MAWS) ersetzt werden. Der Betrieb, die Abnutzung sowie die aus­ufernden Kosten für die Instandhaltung der P-3C Orion haben zum Entschluss geführt, das Waffensystem bereits 2025 komplett aus dem Dienst zu nehmen. Schon jetzt ist die Einsatzverfügbarkeit dieses Flugzeugs oft ungewiss, so dass die Bundeswehr gele­gentlich ihren Einsatzverpflichtungen mit diesem Modell nicht mehr nachkommen kann. Daher hat sich die Bundesregierung auf eine Zwischenlösung (eines bereits verfügbaren Modells in kleiner Stückzahl) verständigt, um mittelfristig die schon zu­gesagten Aufgaben im Rahmen alliierter Operationen sowie ständiger Beiträge zu erfüllen und den Zeitraum bis zur Verfügbarkeit des MAWS zu überbrücken.

In seiner letzten Sitzung vor der Sommer­pause 2021 hat der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages der Anschaffung von fünf Flugzeugen P-8A Poseidon für 1,43 Milliarden Euro zugestimmt. Dieses Flugzeug erfüllt alle hohen technischen und operativen Anforderungen, die derzeit an einen Seefernaufklärer der Marine ge­stellt werden. Auch Norwegen hat sich für dieses Modell zur Aufklärung im Hohen Norden entschieden.

Als moderne Interimslösung könnte die P-8A deutlich über das Jahr 2035 hinaus im Betrieb der Bundeswehr bleiben, sollte es beim MAWS-Projekt zu Verzögerung oder Proble­men kommen. Allerdings mehren sich Presseberichte, laut denen Frankreich über die deutsche Ent­scheidung für die Interimslösung P-8A verärgert sei und das Projekt MAWS darum möglicherweise abbrechen wolle.

Operativ kann die P-8A Poseidon im gesam­ten geografischen Spektrum des Nato-Gebietes oder darüber hinaus eingesetzt werden. Technisch ist sie sowohl für die moderne U-Boot-Jagd als auch die Über­wasseraufklärung ausgelegt und sollte mit den Systemen der meisten Alliierten pro­blem­los kompatibel sein. In einer eher lang­fristigen Perspektive soll unter ande­rem die geplante Fregatte F126 mit einer moder­nen Sensorik für abstandsfähige Unterwasser­ortung die Fähigkeiten zur U-Boot-Jagd in der Deutschen Marine komple­mentieren. Diese wiederum könn­ten einen erheblichen Beitrag zur Ergänzung der ständigen mari­ti­men Einsatz­verbände (SNMG) der Nato oder einer etwai­gen Nato Expanded Task Force (NETF) leisten, die beim Manöver Trident Junc­ture 2018 in Nor­wegen erprobt wurde. Einsatz- und Präsenz­bereich der NETF wäre der arktisch-nord­atlantische Raum. Flan­kiert würde sie durch die SNMGs der Nato im Mittelmeer und Ost- und Nordsee.

U-Boote und die Kooperation mit Norwegen

Noch immer ist der beste U-Boot-Jäger das U-Boot selbst. In Anbetracht des großen geografischen Verantwortungsbereichs der Allianz oder allein des maritimen Raums von der Arktis über den Nordatlantik, die Nordsee und die Ostsee verfügt die Nato allerdings nur über wenige einsatzbereite U-Boote. Derzeit besitzt die Deut­sche Marine sechs U-Boote des Typs 212. Auf­grund ihrer kleinen Bauweise und ihres leisen Antriebs mittels einer Wasserstoff-Brennstoffzelle sind sie bestens geeignet für den Einsatz entlang der Seegebiete des Hohen Nordens. Meist ist aber nur die Hälfte der Boote ein­satzbereit. Das liegt an Perso­nal- und Stel­lenbesetzungsproblemen in der Bundeswehr und unter den U-Boot-Fah­rern ebenso wie an technischen Schwie­rigkeiten, Ausfällen sowie geplanten und ungeplanten Instandsetzungen.

Absehbar ist, dass die Deutsche Marine neue Einheiten vom Typ U212 CD (Common Design) bekommen wird. Auch dieser Anschaffung hat der Haushaltsausschuss vor der Sommerpause zugestimmt. Das U212 CD wurde gemeinsam von Deutschland und Norwegen entwickelt. Dabei wurden die Ansprüche der Deutschen und der Norwegi­schen Marine für ihre Aufträge und See­gebiete berücksichtigt. Auf der Grund­lage eines gemeinsamen Forderungskatalogs haben beide Staaten sechs weit­gehend baugleiche U-Boote bei der Kieler Werft ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS) bestellt. Vier davon soll Norwegen erhalten, zwei Deutschland. Dank der baugleichen Boote soll die Inter­operabilität zwischen den Seestreitkräften der beiden Staaten verbessert werden. Schon heute aber zeich­net sich ab, dass sowohl deutsche als auch norwegische Sonderwünsche zu Ausstattung, Bewaffnung und Systemen de facto zwei verschiedene U-Bootstypen entstehen lassen. Sie sollen im Zeitraum 2029–2035 der norwe­gischen Marine den Übergang von Booten der Ula-Klasse zu U212CD ermöglichen. Das erste Boot soll 2029 an Norwegen ausgeliefert werden. Damit sind zumindest erste Schritte bei dem Bemühen zu erkennen, mili­tärische Fähigkeitslücken zu schließen oder wenig­stens zu vermindern.

Europäische vs. indo-pazifische Prioritäten

Gerade die Fähigkeiten zur Aufklärung und U-Boot-Jagd braucht die Nato für die Abschreckung und Verteidigung in Nord­europa. Vor dem Hintergrund der chinesischen Machtpolitik im indo-pazifischen Raum sind die USA jedoch zunehmend außerhalb Europas und seiner Peri­pherie gefordert, obwohl die US-Marine ihre Prä­senz im Nordatlantik verstärkt und dazu im Juli 2018 die 2. Flotte reaktiviert hat. Viele spezialisierte Fähigkeiten der US-Marine werden aber bevorzugt dort ein­gesetzt werden, wo eine Konfrontation mit China nicht mehr ausgeschlossen werden kann, wie die Autoren andernorts bereits ausführten: Der Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs der Streitkräfte, General Mark A. Milley, erklärte zwar, dass die Arktis in Zukunft sehr wohl eine bedeutende geostrategische Rolle für die USA bekommen werde. Zurzeit aber gebe es andere Prioritäten hinsichtlich der Fähigkeiten und deren Finanzierung. Die Eskalationsdynamik im Indo-Pazifik wird als drängender bewertet. Noch ist keine Verringerung oder Verlagerung amerikanischer Fähigkeiten im Nordatlantik zu beobachten. Dennoch bleibt dies eine Handlungsoption der US-Streitkräfte für den Fall, dass sich die Lage im Indo-Pazifik verschärft.

Es liegt im deutschen Interesse, dass die USA sich den Herausforderungen im Indo-Pazifik stellen. Damit verbindet Washington je­doch die berechtigte Erwartung, dass die europäischen Länder die unmittelbaren Heraus­forderungen für Europas Sicherheit – auch im Hohen Norden – eigenständiger und glaubwürdiger angehen. Jenseits von Führungs- oder Koordinationsaufgaben erfordert dies, militärische Fähig­keiten zu stärken, die Bereitschaft zu erhöhen sowie spezifische Fähigkeitslücken zu schließen und mehr entsprechende Ein­hei­ten verfüg­bar zu halten. All dies fließt direkt in etwaige Verteidigungsplanungen und die Aufrechterhaltung der Abschreckung durch die Nato ein. Deutschland hat hier noch erhebliche Defizite.

Gemeinsam mit den nordeuro­päischen Partnern wird Deutschland daher einen weit substantielleren Beitrag zur Wirksamkeit euro­päischer Diplomatie und zur Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses im subarktischen Raum leisten müssen. Zu diesem Zweck müssen die Fähigkeiten der Bundeswehr weiter verbessert werden.

Dr. Michael Paul ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Fregattenkapitän Göran Swistek ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

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