Parallel zum Wettbewerb um die neue Führung versucht der Europäische Stabilitätsmechanismus, sich neu zu erfinden. Die jüngste Idee der Ökonomen, ein zusätzliches Hilfsinstrument innerhalb der Institution zu schaffen, ist eine Überlegung wert, meinen Jonas Kaiser und Paweł Tokarski.
Fast zehn Jahre nach seiner Gründung will sich der bis zu 500 Milliarden Euro schwere Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) neu orientieren. In einem Diskussionspapier haben ESM-Ökonomen Anfang Mai vorgeschlagen, einen »Stabilitätsfonds« ins Leben zu rufen, der im Rahmen des ESM operiert. Dieser soll den Euroländern die Möglichkeit geben, bei asymmetrischen Schocks, wie zum Beispiel Umweltkatastrophen, schneller an günstige Kredite zu kommen.
Gegründet wurde der auch Euro-Rettungsschirm genannte ESM während der Eurokrise, um kriselnden Staaten den Zugang zu den Finanzmärkten zu gewährleisten. Seitdem haben Irland, Griechenland, Spanien, Zypern und Portugal ESM-Kredite erhalten. Aufgrund der strikten Bedingungen für die Finanzhilfen, die unter anderem eine politisch verhängnisvolle Sparpolitik erfordern, ist der ESM zuletzt in Verruf geraten. Bereits seit 2015 wurden keine neuen Finanzhilfen des Schutzschirms mehr angefragt. Selbst um die zu Beginn der Pandemie eingerichtete Kreditlinie mit geringeren Konditionalitäten machten alle Staaten lieber einen großen Bogen. Anfang 2021 unterschrieben die Euroländer eine Vertragsänderung, unter der das ESM-Mandat zur Stärkung der Bankenunion erweitert wurde. Sollte das Kapital des einheitlichen Abwicklungsfonds (Single Resolution Fund, SRF) nicht ausreichen, um ausfallende Banken abzuwickeln, kann der Eurokrisenfonds mit Krediten einspringen und damit die Finanzmärkte stabilisieren. Die zentrale Funktion der Institution bleibt jedoch weiterhin die Finanzhilfe für unter Druck geratene Eurostaaten. Der bisherige Direktor des ESM, Klaus Regling, verabschiedet sich im Oktober in den Ruhestand. Sein Nachfolger könnte frischen Wind mitbringen und dem nach Sinn suchenden Fonds eine neue Richtung geben.
In der Tat trifft der Vorstoß der ESM-Ökonomen einen blinden Fleck in der europäischen Finanzarchitektur. Generell herrscht Einigkeit darüber, dass ein fiskalpolitisches Instrument zur makroökonomischen Stabilisierung der Eurozone notwendig ist, da besonders im aktuell inflationären Umfeld deutlich wird, dass die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank nicht alleine für günstige Finanzierungsmöglichkeiten der Eurostaaten sorgen kann. Ferner stimmen auch die trüben Aussichten der europäischen Wirtschaft pessimistisch. Das SURE-Programm für Kurzarbeiterhilfen als Teil des Corona-Wiederaufbaufonds »Next Generation EU« bietet zwar Gelegenheit, Gelder zu erhalten, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Es ist jedoch nur eine temporäre Struktur. Der vorgeschlagene ESM-Stabilitätsfonds soll etwa bis zu 250 Milliarden Euro umfassen. Die Summe entspricht rund zwei Prozent der Wirtschaftsleistung des Euroraumes und ist mehr als doppelt so groß wie das SURE-Kurzarbeiterprogramm. Damit hat der Krisenschutzschirm eine größere makroökonomische Feuerkraft. Darüber hinaus könnten die Mittel aus Kapazitäten des ESM aufgewandt werden, so dass auf bestehende institutionelle Strukturen zurückgegriffen wird und keine zusätzlichen Kosten für die Euroländer entstehen. Zudem beschränkt ein Stabilisierungssystem – welches auf Krediten beruht, die zurückgezahlt werden müssen – das moralische Risiko durch Fehlanreize (»Moral Hazard«). Dies kann bei der Umsetzung hilfreich sein, um die Unterstützung der sogenannten frugalen Staaten zu erlangen. Auch in dem Vorschlag enthalten bleiben strikte Bedingungen, damit ein Euroland Zugriff auf den Stabilitätsfonds bekommt. Während auch dies von den nördlichen Staaten der Eurozone begrüßt werden dürfte, wirft es Zweifel auf, ob der ESM so von seinem derzeitigen politisch toxischen Image loskommen kann.
Insgesamt handelt es sich um einen ökonomisch sinnvollen Vorschlag, um die Eurozone krisensicherer zu machen. Das Hauptproblem liegt jedoch auf einer grundlegenderen Ebene des ESM und seiner Rolle in der europäischen Finanzarchitektur. Als zwischenstaatliche Institution der Mitglieder der Eurozone liegt der Euro-Rettungsschirm momentan außerhalb des rechtlichen Rahmens der Europäischen Union. Es lohnt sich darüber nachzudenken, den Rettungsschirm in die EU zu integrieren. Mit der Kommission als Schirmherrin und Aufsicht durch das EU-Parlament ist es möglich, den politischen Druck kurzfristiger nationaler Interessen auszulagern und die politische Vertrauenskrise zu überwinden. Zusätzlich würde dies die institutionelle Struktur vereinfachen sowie die Möglichkeit bieten, weitere Kreditlinien und Programme wie »Next Generation EU« unter einem Dach zu integrieren. Das würde Synergien im Management der verschiedenen Finanzierungshilfen schaffen und zu mehr Verständnis bei den Bürgerinnen und Bürgern beitragen. Nichtsdestotrotz gibt es noch einige Bereiche, die bei einer Überführung des ESM in EU-Recht geklärt werden müssten. So haben beispielsweise nur die Länder der Eurozone Kapital in den ESM eingezahlt, auf Grundlage dessen der ESM auf dem Finanzmarkt Wertpapiere verkaufen und die Staaten bei Bedarf finanziell unterstützen kann. Jedoch sind auch die EU-Länder außerhalb der Eurozone in der Kommission und im Parlament gleichermaßen vertreten. Diese Diskussion voranzubringen und Impulse zu setzen, wird die Aufgabe des neuen ESM-Chefs werden.
Am 1. Januar 2002 wurde der Euro als Bargeld eingeführt. Die gemeinsame Währung hat die Auswirkungen externer Schocks auf die Volkswirtschaften des Euroraums gemildert und zu einer tieferen Integration geführt. Doch viele Probleme sind noch ungelöst, meint Paweł Tokarski.
Wohin steuert das geldpolitische Engagement?
doi:10.18449/2021S20
Beitrag zu einer Sammelstudie 2021/S 04, 31.03.2021, 54 Seiten, S. 27–31
Grenzen der Stabilisierung durch die Geldpolitik und die Suche nach Alternativen
doi:10.18449/2021A24
doi:10.18449/2021WP03