Am 1. Oktober 2024 wird Claudia Sheinbaum das Präsidentenamt in Mexiko übernehmen, als erste Frau in der Geschichte des Landes. Für sechs Jahre kann sie dann den Kurs ihres Landes bestimmen, mit einer Machtfülle, die sie ihrem überragenden Wahlergebnis und der Zentralisierung von Befugnissen und Ressourcen durch ihren Mentor und Amtsvorgänger Andrés Manuel López Obrador zu verdanken hat. Schnell aus dessen Schatten herauszutreten und eine eigene politische Handschrift zu entwickeln wird der neuen Präsidentin indes nur in einigen Politikfeldern gelingen, etwa der Energie- und Umweltpolitik. Bislang hat sie die innenpolitischen Weichenstellungen ihres Vorgängers mitgetragen. Außenpolitisch gilt es eine Reihe von Schadensfällen zu beseitigen und neue Optionen zu erarbeiten. Sheinbaums eher technokratische Herangehensweise könnte sich als Vorteil erweisen, um ideologische Scheuklappen der Vergangenheit abzulegen und die weitgehende Selbstisolierung des Landes auch gegenüber Deutschland und der EU zu überwinden.
Die 62-jährige promovierte Umweltwissenschaftlerin und ehemalige Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt (2018–2023) tritt als erste Frau in der Geschichte Mexikos das höchste Amt im Staate an. Sheinbaum wurde als Präsidentschaftskandidatin der regierenden Partei Movimiento de Regeneración Nacional (Morena) gewählt und gewann mit 59,76 Prozent der Stimmen, einem Vorsprung von 32 Prozentpunkten vor der zweitplatzierten Kandidatin. Ihr studentischer Aktivismus hatte sie nach der Rückkehr von einem Auslandsstudium in akademischen Kreisen der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko bekannt gemacht. Bis heute wird ihr trotzdem eine technokratisch-analytische Herangehensweise an politische Probleme zugeschrieben, die auf ihre naturwissenschaftlich geprägte Ausbildung zurückgeführt wird. Es wird damit gerechnet, dass sie als neue Präsidentin des Landes eine »ruhige Machtausübung« bevorzugen werde, die ohne populistische Versuchungen auskomme. Mit ihrem technokratischen Ansatz unterscheidet sie sich deutlich vom charismatischen Stil ihres Förderers und Amtsvorgängers López Obrador, dem sie nun zum zweiten Mal in einem Wahlamt nachfolgt. Zunächst profilierte sie sich als Umweltministerin der Hauptstadt und als eine der 16 Bezirksbürgermeisterinnen in Mexiko-Stadt. Als López Obrador ihr das Bürgermeisteramt für die ganze Stadt antrug, die unter massiven Problemen bei Luftqualität, Wasserversorgung und Abfallwirtschaft leidet, war klar, dass sie sich auf einem politischen Schleudersitz zu bewähren hatte. Und ab dem 1. Oktober 2024 übt sie für sechs Jahre als erstes weibliches Staatsoberhaupt ein Amt aus, das angesichts der Fülle von Herausforderungen und ungelösten Probleme ihre gesamten Fähigkeiten fordern wird.
Das Kontinuitätsversprechen
Das von López Obrador im Jahr 2018 ausgerufene politische Reformprojekt der sogenannten IV. Transformation will Claudia Sheinbaum in Anspielung auf den zweiten Stock der Stadtautobahn in der Hauptstadt nun mit einem »zweiten Stock« des politischen Projekts fortsetzen. In der historischen Vision des scheidenden Präsidenten hat seine Amtszeit die drei früheren Transformationen vertieft, als welche der mexikanische Unabhängigkeitskrieg (1810–1821), der Bürgerkrieg um liberale Reformen (1858–1861) und die mexikanische Revolution (1910–1917) gelten. Jenseits vorgegebener politischer Kategorien von »links« und »rechts« setzte López Obrador zum einen auf ein traditionelles Programm, nämlich die Verteidigung der Souveränität und nationalen Unabhängigkeit, besonders gegenüber den USA. Zum anderen verschrieb er sich einem Fortschrittsdiskurs für mehr soziale Gerechtigkeit zugunsten benachteiligter Bevölkerungsschichten und verpflichtete sich zu einer Politik gegen Diskriminierung und Rassismus jeglicher Art.
Zentrales Motiv seines Regierungsprogramms wurde der Kampf um eine bessere Verteilung des Reichtums des Landes in sozialer und regionaler Hinsicht. Dieses Programm setzte er mit den Schwerpunkten »republikanische Austerität« und Korruptionsbekämpfung in die Tat um. Damit hob er sich in den Augen der Bevölkerung deutlich positiv von den Vorgängerregierungen ab. Der Präsident setzte durch, dass Stellen im Staatsapparat ausgedünnt, Budgets und Gehälter gekürzt und parastaatliche Einrichtungen geschlossen wurden. Auf diese Weise freigewordene Mittel flossen in vielfältige Programme, mit denen verschiedene Bevölkerungsgruppen finanziell unterstützt wurden. Das verschaffte López Obrador große Sympathien bei den Wählern. Die Opposition hingegen beklagte den mit seiner Politik verbundenen Klientelismus und kritisierte, dass der Präsident zahlreiche Einrichtungen für Transparenz und Kontrolle der Regierung auflösen ließ. Darunter waren die Bundeskommission für wirtschaftlichen Wettbewerb (Cofece), das Nationale Institut für Transparenz, Zugang zu Informationen und Schutz personenbezogener Daten (INAI) und die Energieregulierungskommission (CRE). Den Schlussstein dieses Programms bildet die im September 2024 verabschiedete Justizreform. Sie sieht vor, dass bis zu 7000 Richter von der Bevölkerung direkt gewählt werden. Gegner López Obradors geißeln die Reform als Abschaffung der letzten von der Exekutive unabhängigen Instanz im Land.
Auch diesen Schritt ihres Vorgängers hat die künftige Präsidentin unterstützt und sich dessen Argument angeschlossen, dass dadurch eine Vertiefung der Demokratie in Mexiko erreicht werde. Bei mehreren Reisen, die sie nach ihrem Wahlsieg gemeinsam mit López Obrador durch das Land unternahm, hob sie hervor, dass zwischen sie und den scheidenden Präsidenten kein Blatt Papier passe und dass vor allem das Programm der IV. Transformation fortgeführt werden solle. Mit diesem Kontinuitätsversprechen ordnete sich Sheinbaum inden vorgegebenen ideologischen Rahmen ihres Vorgängers ein und sicherte sich zugleich dessen Unterstützung, beschränkte aber andererseits ihren eigenen Handlungsspielraum. Es wird ihr daher in den kommenden Monaten schwerer fallen, Freiräume für ihre eigenen Prioritäten zu gewinnen und damit ein eigenes Profil erkennen zu lassen und zu schärfen. Hierzu hat sie bereits im Wahlkampf einige Schwerpunkte genannt, zu denen – durchaus orientiert an ihrer kommunalpolitischen Erfahrung – ein Programm der Infrastrukturentwicklung gehört. Es beinhaltet den Ausbau von Eisenbahnverbindungen, Straßenbau, Industriekorridore, neue Flughäfen, die Modernisierung der Häfen, einen nationalen Wasserplan und das Streben nach Energiesouveränität.
López Obradors Erbe – Sheinbaums Problemagenda
López Obrador beendet seine Amtszeit mit einer Beliebtheit in der Bevölkerung von beinahe 60 Prozent, was nach sechsjähriger Ausübung des Präsidentenamts als außergewöhnlich hoch anzusehen ist. Dieses Erbe ist für Sheinbaum Last, aber auch Herausforderung: Zum einen besitzt ihr Vorgänger als Gründer und ideologischer Vordenker der Regierungspartei Morena dort eine breite politische Basis, die auch mit seinem angekündigten Rückzug aus der Politik nicht schwinden wird. Es ist davon auszugehen, dass Sheinbaums Mentor sich auch weiterhin in die Politik – und sei es nur mit Interviews – einschalten und damit seinen Einfluss geltend machen wird. So hat er etwa seinen Sohn als Organisationssekretär der Partei untergebracht. Sheinbaum verfügt über keine vergleichbare Verankerung in der territorialen Struktur der Partei und auch nicht bei Abgeordneten und Senatoren. Sie kann daher nur über die Möglichkeiten des Präsidentenamtes Unterstützung gewinnen. Dem hat sie mit der Besetzung von Kabinettsposten Rechnung getragen und in neun entscheidende Positionen enge Verbündete und Mitarbeiter ihres Amtsvorgängers berufen. Dabei handelt es sich um die Zuständigkeiten für Inneres, Finanzen, Auswärtige Angelegenheiten, Wirtschaft, den Öffentlichen Dienst, Umwelt, Soziales, Arbeit sowie ländliche und urbane Entwicklung. Sechs Posten vergab Sheinbaum an ihr eng verbundene ehemalige Mitarbeiter aus der Stadtverwaltung der Hauptstadt, darunter wichtige Ressorts wie die für Infrastruktur, Kommunikation und Verkehr, öffentliche Sicherheit sowie Energie.
Gerade in diesen Zuständigkeitsbereichen ist zu erwarten, dass die neue Präsidentin andere Schwerpunkte setzen wird. Zwar ist damit zu rechnen, dass sie den Ausbau der Infrastruktur im Lande fortsetzen wird, um auf diese Weise einen Beitrag zur Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen dem modernisierten Norden und dem vernachlässigten Süden zu leisten. Um Mexikos massiver Sicherheitsprobleme Herr zu werden – weithin präsente organisierte Kriminalität, ausufernde Gewalt sowie Drogen-, Waffen- und Menschenhandel –, will Sheinbaum ihr Modell der Kriminalitätsbekämpfung mit starker Ausrichtung auf nachrichtendienstliche Methoden etablieren. Damit möchte sie vor allem die auch in López Obradors sechsjähriger Amtszeit anhaltend hohe Zahl von beinahe 200.000 Morden absenken. Allerdings hat sie schon erklärt, dass sie sich weiterhin auf das Militär als Hauptakteur im Vorgehen gegen den Drogenhandel stützen will.
Hierbei ist die transnationale Dimension dieses Problems der Bedrohung für die nationale Sicherheit zu berücksichtigen. Mexiko wird diese Herausforderung nicht allein bewältigen können und deshalb die Zusammenarbeit mit den USA im Bereich Sicherheit und Bekämpfung organisierter Kriminalität neu überdenken müssen. Nicht ohne Grund bestehen in Mexiko Souveränitätsvorbehalte gegenüber einer Sicherheitspartnerschaft mit den USA. Aber die Möglichkeit eines verbindlichen Rechtsinstruments wie eines Sicherheitsvertrags steht bislang nicht auf der Tagesordnung. Angesichts der nicht abebbenden Welle der Fentanyl-Importe aus Mexiko und der jährlich 70.000 Drogentoten wird der Druck der USA anhalten, eine Regelung der Zusammenarbeit zu finden, unabhängig vom Ausgang der im November 2024 anstehenden Präsidentschafts, Kongress- und weiteren Wahlen.
Einen grundlegenden Kurswechsel in Mexiko kann man im Bereich Klimawandel und Energiewende erwarten. Die Regierung von Präsident López Obrador hat dieses Thema vernachlässigt, ja mit der Ausweitung der Ölförderung und dem Ausbau der Infrastruktur des nationalen Ölkonzerns PEMEX ihre Energiepolitik auf fossile Energieträger ausgerichtet. Die derzeitige Energie- und Umweltpolitik steht nicht im Einklang mit Mexikos internationalen Verpflichtungen. Das Land hat sich aus den Klimaverhandlungen der Vereinten Nationen abgemeldet. Die neue Präsidentin Sheinbaum gilt als Umweltaktivistin und hat angekündigt, die Energiewende mit erneuerbaren Energieträgern zu beschleunigen.
Noch deuten sich hier aber nur Diskrepanzen zur Vorgängerregierung an: So will die neue Regierung an der »Stärkung« von PEMEX und der nationalen Elektrizitätsgesellschaft CFE festhalten und gleichzeitig einen Übergang zu erneuerbaren Energien einleiten, ohne dafür aber Raum für private Investoren zu schaffen. Diesen Widerspruch aufzulösen stellt eine zentrale Herausforderung dar. International kann Sheinbaum in diesem Bereich einen großen Unterschied zur Regierung López Obrador machen. Sie kann nämlich die Führungsrolle Mexikos als Vermittler zwischen Industrieländern und Staaten des Globalen Südens in Foren wie den G20, den Verhandlungen zum Klimawandel und der Agenda 2030 wiederherstellen.
Die komplexen Beziehungen mit den USA
Präsident López Obrador zeigte während seiner Amtszeit nur sehr sporadisches Interesse an außenpolitischen Fragen. So hat er sich in diesen sechs Jahren lediglich 16 Tage im Ausland aufgehalten. Eine Ausnahme bildete die Gestaltung der bilateralen Beziehungen mit den USA. Sie forderte gleich zu Beginn seiner Amtszeit hohe Aufmerksamkeit, galt es doch, ein Nachfolgeabkommen (USMCA) für das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) auszuhandeln und die Migrationskrise während der Präsidentschaft Donald Trumps zu bewältigen.
Die Beziehungen zu den USA haben für Mexiko in zweierlei Hinsicht essentiellen Charakter: Die Latinos bilden die größte Minderheit in den USA. Ihre Zahl beträgt etwa 60 Millionen. Davon sind ungefähr 60 Prozent Mexikaner der ersten oder zweiten Generation, das heißt um die 36 bis 38 Millionen Personen. Rund fünf Millionen von ihnen haben keine Papiere. Daher ist die konsularische Betreuung mexikanischer Bürger in den USA außerordentlich wichtig. Für Mexiko und diese Gemeinschaft ist die Verabschiedung einer Einwanderungsreform, die einen Weg zum legalen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten eröffnet, von grundlegender Bedeutung. Auch wenn die Aussichten darauf sehr begrenzt sind, besitzt die Migrationsfrage nationale und bilateral in beiden Staaten große politische Sprengkraft. Die Neigung im US-Kongress zu Migrationsgesetzen mit extraterritorialen Auswirkungen ist als sehr hoch einzuschätzen, unabhängig von den Mehrheiten nach den Wahlen im November 2024. Mexiko könnten dann Bedingungen und Verantwortlichkeiten auferlegt werden, wie sie sich zum Beispiel aus dem Programm »Remain in Mexico« für Personen mit Asylanträgen in den USA ergeben haben. Bereits in den vergangenen Monaten sind die Belastungen für die Grenzstädte Mexikos und für die verfügbare Infrastruktur durch dort wartende Antragsteller und die Tendenz zu illegalen Grenzübertritten zu einem massiven Problem geworden.
Das Hauptinteresse der mexikanischen Seite im Beziehungsgeflecht mit den USA bestand immer darin, eine Vermischung der drei zentralen Komponenten dieser Beziehungsstruktur zu vermeiden: Handel, Migration und Sicherheit. Die Trump-Administration hingegen versuchte gerade aus deren Verknüpfung Vorteile für die eigene Verhandlungsposition zu erlangen. In den dreiseitigen Verhandlungen über das NAFTA-Nachfolgeabkommen erwies sich Kanada für Mexiko als hilfreicher Partner dabei, einen durchschlagenden Erfolg dieser Pläne unter Präsident Trump zu verhindern. Während der Biden-Administration hat sich der Druck auf Mexiko vor allem in der Migrationsfrage verstärkt, nicht zuletzt weil in großem Stil Personen verschiedener Nationalitäten, die illegal die Grenze zu den USA überquert hatten, nach Mexiko abgeschoben oder in ihre Heimatländer zurückgeführt wurden. Noch im November 2023 hatte sich deren Zahl auf rund 300.000 belaufen. Im Juli 2024 war sie unter 120.000 gesunken, was die dramatische Lage etwas entschärft hat. Eine Einigung, dass nichtmexikanische Migranten direkt in ihre Heimatländer und nicht nach Mexiko abgeschoben werden, steht noch aus. Sie soll den Druck auf die mexikanische Nordgrenze mindern.
Damit könnte es gelingen, Handelsfragen wieder stärker in den Blick zu nehmen. Trotz seiner 14 Freihandelsabkommen mit über 40 Ländern der Welt gehen 80 Prozent der Exporte Mexikos in die USA. Bestehende Handelsstreitigkeiten zwischen Mexiko und den USA in den Bereichen Energie und gentechnisch veränderte Organismen für den menschlichen Konsum (in erster Linie Mais) werden sicher erst nach einem Regierungswechsel in beiden Ländern im Rahmen des Vertrags zwischen Mexiko, den Vereinigten Staaten und Kanada (USMCA) beigelegt werden können. In der Zwischenzeit dürften sich einige Differenzen, allen voran im Agrarsektor, aufgrund des angespannten politischen Klimas weiter verschärfen. Solche Unstimmigkeiten sind nicht ungewöhnlich, zählt die US-amerikanisch-mexikanische Grenze doch zu jenen, über die die meisten Handelsgüter der Welt gehen. Allein im letzten Jahr lag der Wert des binationalen Handels bei rund 798 Milliarden Dollar, ein Rekordwert, wie das US Census Bureau mitteilte. Allerdings ist beispielsweise die Auseinandersetzung über die Bevorzugung staatlicher mexikanischer Produktionsunternehmen deutlich gravierender, weil sie sich auch auf die von Mexiko immer wieder betonte Sicherung der Energiesouveränität erstreckt.
Mexikos außenpolitische Neuaufstellung
Die Positionierung Mexikos in der internationalen Politik hat während der Regierungszeit von Präsident López Obrador erheblich gelitten. Das Land hat an Präsenz und Einfluss auf internationaler Ebene verloren, sowohl in den bilateralen Beziehungen als auch in den multilateralen Gremien. López Obrador hatte kein Gespür für die Veränderungen auf der globalen Bühne und für die Notwendigkeit einer kreativen und proaktiven Außenpolitik. Für ihn stand die Innenpolitik im Vordergrund. An internationalen Gipfeln nahm er meist nicht teil. Seine Initiativen während des mexikanischen Vorsitzes im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verliefen ohne große internationale Resonanz im Sande.
Der neuen Präsidentin Claudia Sheinbaum obliegt es, die komplexen bilateralen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, die den Eckpfeiler der Außenpolitik Mexikos bilden, und die beschädigten Beziehungen zu anderen Ländern wie Spanien, Peru und Ecuador zu verbessern. Darüber hinaus wird sie unter Zeitdruck stehen, Außenpolitik im Sinne einer Reintegration des Landes in die Weltpolitik zu betreiben. Für den neuen Außenminister Juan Ramón de la Fuente, einen erfahrenen Außenpolitiker, muss es vor allem darum gehen, die Bedeutung seines Ministeriums für die Ausgestaltung der Außenpolitik zurückzugewinnen, auch wenn die Richtlinienkompetenz dafür verfassungsgemäß in der Hand der Präsidentin liegt. Allerdings krankte das außenpolitische Handeln Mexikos unter López Obrador an fehlender Kohärenz, da unerwartete und mit dem Außenamt nicht abgesprochene Interventionen des Präsidenten die diplomatische Arbeit enorm beeinträchtigten.
Dass eine neue Präsidentin in Mexiko ihr Amt fast gleichzeitig mit einem neuen Präsidenten oder einer neuen Präsidentin in den USA antritt, eröffnet gute Chancen für eine Neubestimmung der bilateralen Beziehungen. Von den US-Wahlen im November bis zur Amtsübernahme am 20. Januar 2025 wird das Team von Präsidentin Sheinbaum intensiv mit dem Team des Gewinners der US-Wahl kommunizieren müssen, um den Grundstein für eine neue Phase der bilateralen Beziehungen zu legen. Weitere Schritte könnten dann auf der Basis von Berechenbarkeit und gegenseitigem Vertrauen unternommen werden. Dies wird notwendig sein, da im Juli 2026 die drei Länder des USMCA-Freihandelsabkommens sich erklären müssen, ob sie aus dem Abkommen aussteigen wollen oder sich um eine Verlängerung bemühen werden. Die USA haben ein sehr klares Verfahren mit öffentlichen Anhörungen und Berichten im Kongress beschlossen, das bereits im Jahr 2025 beginnen wird, während Mexiko hierzu bislang nichts festgelegt hat. Dieser Überprüfungs- und Bewertungsmechanismus ist jedoch unabdingbar, wenn mit Kanada gemeinsame Positionen vereinbart werden sollen, um die Verhandlungsposition der mexikanischen Regierung zu stärken.
Dieser Prozess ist für Mexiko nicht nur zur Absicherung seiner handelspolitischen Interessen bedeutsam, sondern auch unverzichtbar, um neue Investoren zu gewinnen. Das Fenster für die Verlagerung von Investitionen nach Mexiko (Relokalisierung im Zeichen von »near-« und »friend-shoring«) wird sich in den kommenden Jahren schließen. Das Land könnte wertvolle Chancen verpassen, wenn es der neuen Präsidentin nicht gelingt, die notwendigen Entscheidungen in den Bereichen Sicherheit, Rechtssicherheit, Infrastruktur, Zugang zu erneuerbaren Energien, Energiewende und Ausbildung der Arbeitskräfte zu treffen, um mögliche Investoren an Mexiko zu binden. Zwar hat Tesla wegen der Flaute beim Verkauf von E-Kraftfahrzeugen seine angekündigte Investition für eine Automobilfabrik einstweilen auf Eis gelegt. Es gibt aber noch mehr Interessenten, denen der Standort Mexiko mit seinem privilegierten Zugang zum US-Markt große Vorteile verspricht.
Jenseits dieser Herausforderungen gilt es weitere außenpolitische Schadensfälle zu bereinigen: Im Zusammenhang mit der Debatte über die Justizreform, die der scheidende Präsident im letzten Monat seiner Amtszeit mit Hilfe von Verfassungsreformen durchsetzte, hat er eine »Pause« in den Beziehungen zu den diplomatischen Vertretern der USA und Kanadas erklärt, die ihre Vorbehalte gegenüber diesem politischen Projekt geäußert hatten. Der Vertreter Washingtons hatte gewarnt, die Justizreform der Regierung »gefährde« die Demokratie in Mexiko und die Handelsbeziehungen mit den Vereinigten Staaten. Auch hatte er zu bedenken gegeben, dass die Volkswahl der Richter die Einmischung der Kartelle in die Justiz erleichtern würde. Die mexikanische Regierung wertete diese Kritik als nicht hinnehmbare Einmischung in innere Angelegenheiten, die gegen die nationale Souveränität verstoße. Die Beziehungen zu anderen Ländern oder ihren Vertretern zu »pausieren« ist eine Erfindung der Präsidialdiplomatie in Mexiko und geht über den diplomatischen Kanon hinaus.
López Obrador setzte dieses Instrument auch in anderen Fällen ein. So erklärte er eine »Pause« in den Beziehungen zu Spanien, als das Königshaus nicht bereit war, sich für die koloniale Vergangenheit zu entschuldigen. Entsprechend wurde der König auch zur Amtseinführung der neuen Präsidentin nicht eingeladen, so dass die bilaterale Krise anhält. Gegenüber zwei südamerikanischen Ländern ging López Obrador ähnlich vor. Im Falle Perus weigerte er sich, die Regierung der Präsidentin Dina Boluarte anzuerkennen, nachdem der gewählte Präsident Pedro Castillo seines Amtes enthoben worden war. Daraufhin erklärte der peruanische Kongress den mexikanischen Präsidenten zur »persona non grata«. Im Falle Ecuadors setzte López Obrador die bilateralen Beziehungen aus, weil Sicherheitskräfte des Landes die mexikanische Botschaft in Quito gestürmt hatten, um den verurteilten ehemaligen Vizepräsidenten Ecuadors, Jorge Glas, zu ergreifen. Die neue Präsidentin Sheinbaum, die bislang nur durch begrenztes außenpolitisches Engagement hervorgetreten ist, wird sich in diesen Fragen positionieren müssen, die ebenso wie Mexikos Haltung zum Wahlbetrug in Venezuela die Tagesordnung bestimmen werden.
Doch auch jenseits der Probleme in den bilateralen Beziehungen Mexikos stehen wegweisende Entscheidungen an. Mit der EU wäre das auf Eis liegende modernisierte Globalabkommen zu unterzeichnen und zu ratifizieren oder gegebenenfalls neu zu verhandeln, was zu seiner Verschiebung in die weitere Zukunft führen dürfte. Japan ist ein wichtiger Investor in Mexiko, und seine Investitionen müssen gesichert werden. In Mexikos Beziehungen zu den USA ist China der »Elefant im Raum«. Dringlich ist hier vor allem die Frage des Imports von E-Autos aus chinesischer Produktion nach Mexiko. Auch siedeln sich dort immer mehr chinesische Autobauer an. Die USA und Kanada wollen verhindern, dass massenhaft chinesische Autos über Mexiko nach Nordamerika gelangen. Deshalb gedenken sie diese mit einem Zollsatz von 100 Prozent zu belegen. Solche und andere, bereits angekündigte Gegenmaßnahmen könnten die Attraktivität des Standorts Mexiko für Investoren aus China erheblich schmälern.
Ausblick: neue Weichenstellungen für Mexiko
Der Ausgang der Wahlen hat die neue Präsidentin mit komfortablen Mehrheiten in beiden Parlamentskammern ausgestattet. Im Kongress verfügt sie über eine Zweidrittelmehrheit, im Senat fehlen ihr dazu nur zwei Stimmen. Das wird ihr ein »Durchregieren« ohne große Zugeständnisse an die Opposition ermöglichen. Ob dies allerdings die beste politische Option darstellt, muss fraglich bleiben, da es wohl nicht zukunftsträchtig ist, die – wenn auch geschwächte – Opposition völlig aus dem Konsens zu bestimmten Fragen auszuschließen. Hier könnte sich Sheinbaum vom konfrontativen Stil ihres Vorgängers absetzen, die Polarisierung im Lande einhegen und das friedliche Zusammenleben verschiedener gesellschaftlicher Gruppen fördern. Doch ihr Versprechen, Kontinuität mit der Politik ihres Vorgängers zu wahren, wiegt schwer und hat starke machtpolitische Implikationen innerparteilicher Art. Sie hat sich damit selbst Fesseln angelegt. Ein Umsteuern in bestimmten Politikfeldern wird daher nicht unmittelbar eintreten und nur langsam erfolgen können. Sheinbaum ist hinreichend politisch erfahren, um die informellen Grenzen ihrer Macht nicht unnötig zu überschreiten und damit Konflikte hervorzurufen. An Machtproben mit den »starken Männern« in Regierung und Partei wird es nicht fehlen.
Trotz der vom Projekt der IV. Transformation vorgegebenen Leitplanken wird die künftige Präsidentin neue Weichenstellungen in den Bereichen Energie, Klima, Gewaltkontrolle und Kriminalitätsbekämpfung durchsetzen wollen. Wie das vonstattengehen soll, wird sich jedoch eher in der Regierungspraxis und im pragmatischen Zugang zu Problemlösungen erweisen als in einem sichtbaren »Herumreißen des Ruders«. Für Deutschland und die EU wird Mexiko wieder interessant werden, wenn die Regierung für sich bestimmte offene Fragen geklärt hat.
Welche Vision hat Mexiko als außenpolitischer Akteur, und welche Vorstellung hegt es von seiner Rolle in den internationalen Beziehungen? Ein erster Hinweis dürfte der Umgang der neuen Regierung mit dem modernisierten Globalabkommen mit der EU sein. Die EU hat angeboten, das Abkommen in zwei Teile zu gliedern: zum einen in das vollständige modernisierte Globalabkommen in der ausgehandelten Form, zum anderen in ein separates Interims-Freihandelsabkommen, das nur den Inhalt der handelspolitischen Teile des Globalabkommens unter der ausschließlichen Zuständigkeit der EU wiedergeben würde. Das könnte den Weg zu einer Einigung erleichtern. Das Interimsabkommen würde nach Unterzeichnung und Abschluss gültig bleiben, bis das modernisierte Globalabkommen in Kraft tritt. Auf diese Weise könnten die ausschließlichen Handelsbestimmungen der Union zügig in Kraft treten.
Welche Richtungsentscheidungen Mexiko unter neuer Regierung trifft oder getroffen hat, ließe sich etwa daran ablesen, ob das Land sich eher auf Positionen des Globalen Südens zubewegt und seine unter López Obrador erklärte Absicht einer Mitgliedschaft in den G77 umsetzen wird oder ob es versuchen wird, wieder eine Vermittlerrolle als globaler Partner zwischen den weltpolitischen Fronten einzunehmen. Bewertet werden müsste auch, ob Europa angesichts der engen Einbindung Mexikos in den nordamerikanischen Raum als Partner für das Land wieder interessant werden kann und mit der Regierung Sheinbaum ein Neuanfang der Beziehungen ohne die Belastungen der Vergangenheit aussichtsreich ist.
Hier sind grundsätzliche Fragen angesprochen, die Mexikos traditionelle Haltung der Nichteinmischung betreffen, etwa im Hinblick auf die Situation von Demokratie und Menschenrechten in Venezuela und Nicaragua sowie auf die Positionierung zu den kriegerischen Konflikten in der Ukraine und Gaza. In Anbetracht der historisch gewachsenen wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Präsenz Deutschlands und Europas in Mexiko sollten allerdings zunächst bilaterale Impulse gesetzt werden. Sie sollen dazu dienen, etwa die wissenschaftlich-technologische Zusammenarbeit mit Mexiko auf eine neue Grundlage zu stellen und so gemeinsame Interessen im Bereich Bildung und Forschung zu stützen – nicht zuletzt durch kofinanzierte Kooperationsmodelle. Hier wird es in erster Linie darauf ankommen, Modelle gemeinsamer Projektverantwortung zu vertiefen und den Austausch auch mit Blick auf anwendungsorientierte Kooperationen mit Unternehmen voranzubringen. Die politische Seite der Zusammenarbeit sollte ebenfalls wiederaufgenommen werden. Das hieße, eine neue Vertrauensgrundlage für die Binationale Kommission Mexiko-Deutschland zu schaffen und ihr mit Beteiligung von Mittler- und Durchführungsorganisationen beider Seiten neue Impulse zu verleihen.
Prof. Dr. Günther Maihold ist Non-Resident Senior Fellow der SWP.
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DOI: 10.18449/2024A49