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Claudia Sheinbaum wird erste Präsidentin Mexikos

Machtpolitik und ideologische Entkrampfung

SWP-Aktuell 2024/A 49, 01.10.2024, 8 Pages

doi:10.18449/2024A49

Research Areas

Am 1. Oktober 2024 wird Claudia Sheinbaum das Präsidentenamt in Mexiko übernehmen, als erste Frau in der Geschichte des Landes. Für sechs Jahre kann sie dann den Kurs ihres Landes bestimmen, mit einer Machtfülle, die sie ihrem überragenden Wahlergebnis und der Zentralisierung von Befugnissen und Ressourcen durch ihren Mentor und Amtsvorgänger Andrés Manuel López Obrador zu verdanken hat. Schnell aus dessen Schatten herauszutreten und eine eigene politische Handschrift zu ent­wickeln wird der neuen Präsidentin indes nur in einigen Politikfeldern gelingen, etwa der Energie- und Umweltpolitik. Bislang hat sie die innenpolitischen Weichenstellungen ihres Vorgängers mitgetragen. Außenpolitisch gilt es eine Reihe von Schadens­fällen zu beseitigen und neue Optionen zu erarbeiten. Sheinbaums eher technokratische Herangehensweise könnte sich als Vorteil erweisen, um ideologische Scheuklappen der Vergangenheit abzulegen und die weitgehende Selbstisolierung des Landes auch gegenüber Deutschland und der EU zu überwinden.

Die 62-jährige promovierte Umweltwissenschaftlerin und ehemalige Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt (2018–2023) tritt als erste Frau in der Geschichte Mexikos das höchste Amt im Staate an. Sheinbaum wurde als Präsidentschaftskandidatin der regierenden Partei Movimiento de Regeneración Nacional (Morena) gewählt und gewann mit 59,76 Prozent der Stimmen, einem Vor­sprung von 32 Prozentpunkten vor der zweitplatzierten Kandidatin. Ihr studentischer Aktivismus hatte sie nach der Rück­kehr von einem Auslandsstudium in aka­demischen Kreisen der Nationalen Auto­nomen Universität von Mexiko bekannt gemacht. Bis heute wird ihr trotzdem eine technokratisch-analytische Herangehensweise an politische Probleme zugeschrieben, die auf ihre naturwissenschaftlich geprägte Ausbildung zurückgeführt wird. Es wird damit gerechnet, dass sie als neue Präsidentin des Landes eine »ruhige Macht­ausübung« bevorzugen werde, die ohne populistische Versuchungen auskomme. Mit ihrem technokratischen Ansatz unter­scheidet sie sich deutlich vom charismatischen Stil ihres Förderers und Amtsvorgängers López Obrador, dem sie nun zum zweiten Mal in einem Wahl­amt nachfolgt. Zunächst profilierte sie sich als Umwelt­ministerin der Hauptstadt und als eine der 16 Bezirksbürgermeisterinnen in Mexiko-Stadt. Als López Obrador ihr das Bürgermeisteramt für die ganze Stadt antrug, die unter massiven Problemen bei Luftqualität, Wasserversorgung und Abfallwirtschaft leidet, war klar, dass sie sich auf einem poli­tischen Schleudersitz zu bewähren hatte. Und ab dem 1. Oktober 2024 übt sie für sechs Jahre als erstes weibliches Staatsoberhaupt ein Amt aus, das angesichts der Fülle von Herausforderungen und ungelösten Probleme ihre gesamten Fähigkeiten fordern wird.

Das Kontinuitätsversprechen

Das von López Obrador im Jahr 2018 aus­gerufene politische Reformprojekt der so­genannten IV. Transformation will Claudia Sheinbaum in Anspielung auf den zweiten Stock der Stadtautobahn in der Hauptstadt nun mit einem »zweiten Stock« des politi­schen Projekts fortsetzen. In der historischen Vision des scheidenden Präsi­denten hat seine Amtszeit die drei früheren Trans­formationen vertieft, als welche der mexi­kanische Unabhängigkeitskrieg (1810–1821), der Bürgerkrieg um liberale Refor­men (1858–1861) und die mexikanische Revolution (1910–1917) gelten. Jenseits vorgegebener politischer Kategorien von »links« und »rechts« setzte López Obra­dor zum einen auf ein traditionelles Pro­gramm, nämlich die Verteidigung der Sou­veränität und natio­nalen Unabhängigkeit, besonders gegenüber den USA. Zum ande­ren ver­schrieb er sich einem Fortschrittsdiskurs für mehr soziale Gerechtigkeit zugunsten be­nachteiligter Bevölkerungsschichten und verpflichtete sich zu einer Politik gegen Dis­kriminierung und Rassis­mus jeglicher Art.

Zentrales Motiv seines Regierungs­programms wurde der Kampf um eine bessere Verteilung des Reichtums des Lan­des in sozialer und regionaler Hin­sicht. Dieses Programm setzte er mit den Schwer­punkten »republikanische Austerität« und Korruptionsbekämpfung in die Tat um. Damit hob er sich in den Augen der Bevöl­kerung deutlich positiv von den Vor­gänger­regierungen ab. Der Präsident setzte durch, dass Stellen im Staatsapparat aus­gedünnt, Budgets und Gehälter gekürzt und para­staatliche Einrichtungen geschlossen wur­den. Auf diese Weise freigewordene Mittel flossen in vielfältige Programme, mit denen verschiedene Bevölkerungsgruppen finan­ziell unterstützt wurden. Das ver­schaffte López Obrador große Sympathien bei den Wählern. Die Opposition hingegen beklagte den mit seiner Politik verbundenen Kliente­lismus und kritisierte, dass der Präsident zahlreiche Einrichtungen für Transparenz und Kontrolle der Regierung auflösen ließ. Darunter waren die Bundeskommission für wirtschaftlichen Wett­bewerb (Cofece), das Nationale Institut für Trans­parenz, Zugang zu Infor­mationen und Schutz personen­bezogener Daten (INAI) und die Energie­regulierungskommission (CRE). Den Schluss­stein dieses Programms bildet die im Sep­tember 2024 verabschiedete Justiz­reform. Sie sieht vor, dass bis zu 7000 Rich­ter von der Bevöl­kerung direkt gewählt werden. Gegner López Obradors geißeln die Reform als Abschaffung der letzten von der Exe­kutive unabhängigen Instanz im Land.

Auch diesen Schritt ihres Vorgängers hat die künftige Präsidentin unterstützt und sich dessen Argument angeschlossen, dass da­durch eine Vertiefung der Demokratie in Mexiko erreicht werde. Bei mehreren Rei­sen, die sie nach ihrem Wahlsieg gemeinsam mit López Obrador durch das Land unternahm, hob sie hervor, dass zwischen sie und den scheidenden Präsidenten kein Blatt Papier passe und dass vor allem das Programm der IV. Transformation fort­geführt werden solle. Mit diesem Konti­nuitätsversprechen ordnete sich Sheinbaum inden vorgegebenen ideologischen Rahmen ihres Vorgängers ein und sicherte sich zugleich dessen Unterstützung, beschränkte aber andererseits ihren eigenen Handlungsspielraum. Es wird ihr daher in den kommenden Monaten schwe­rer fallen, Frei­räume für ihre eigenen Prio­ritäten zu gewin­­nen und damit ein eigenes Profil erkennen zu lassen und zu schärfen. Hierzu hat sie bereits im Wahl­kampf einige Schwerpunkte genannt, zu denen – durch­aus orientiert an ihrer kommunalpolitischen Erfahrung – ein Programm der Infrastrukturentwicklung gehört. Es be­inhaltet den Ausbau von Eisenbahnverbindungen, Straßenbau, Industriekorridore, neue Flughäfen, die Modernisierung der Häfen, einen nationalen Wasserplan und das Streben nach Energiesouveränität.

López Obradors Erbe – Sheinbaums Problemagenda

López Obrador beendet seine Amtszeit mit einer Beliebtheit in der Bevölkerung von beinahe 60 Prozent, was nach sechsjähriger Ausübung des Präsidentenamts als außer­gewöhnlich hoch anzusehen ist. Dieses Erbe ist für Sheinbaum Last, aber auch Herausforderung: Zum einen besitzt ihr Vorgänger als Gründer und ideologischer Vordenker der Regierungspartei Morena dort eine breite politische Basis, die auch mit seinem angekündigten Rückzug aus der Politik nicht schwinden wird. Es ist davon auszugehen, dass Sheinbaums Mentor sich auch weiterhin in die Politik – und sei es nur mit Interviews – einschalten und damit seinen Einfluss geltend machen wird. So hat er etwa seinen Sohn als Organisationssekretär der Partei untergebracht. Shein­baum verfügt über keine vergleichbare Verankerung in der territorialen Struktur der Partei und auch nicht bei Abgeordneten und Senatoren. Sie kann daher nur über die Möglichkeiten des Präsidentenamtes Unter­stützung gewinnen. Dem hat sie mit der Besetzung von Kabinettsposten Rech­nung getragen und in neun entscheidende Positionen enge Verbündete und Mitarbeiter ihres Amtsvorgängers berufen. Dabei handelt es sich um die Zuständigkeiten für Inneres, Finanzen, Auswärtige Angelegenheiten, Wirtschaft, den Öffentlichen Dienst, Umwelt, Soziales, Arbeit sowie ländliche und urbane Entwicklung. Sechs Posten ver­gab Sheinbaum an ihr eng verbundene ehe­malige Mit­arbeiter aus der Stadtverwaltung der Hauptstadt, darunter wichtige Res­sorts wie die für Infra­struktur, Kommunikation und Ver­kehr, öffentliche Sicherheit sowie Energie.

Gerade in diesen Zuständigkeitsbereichen ist zu erwarten, dass die neue Präsi­dentin andere Schwerpunkte setzen wird. Zwar ist damit zu rechnen, dass sie den Ausbau der Infrastruktur im Lande fort­setzen wird, um auf diese Weise einen Beitrag zur An­gleichung der Lebensverhältnisse zwischen dem modernisierten Norden und dem ver­nachlässigten Süden zu leisten. Um Mexi­kos massiver Sicherheitsprobleme Herr zu werden – weithin präsente organisierte Kriminalität, ausufernde Gewalt sowie Drogen-, Waffen- und Menschenhandel –, will Sheinbaum ihr Modell der Kriminalitäts­bekämpfung mit starker Ausrichtung auf nachrichtendienstliche Methoden etablieren. Damit möchte sie vor allem die auch in López Obradors sechsjähriger Amts­zeit anhaltend hohe Zahl von beinahe 200.000 Morden absenken. Allerdings hat sie schon erklärt, dass sie sich weiterhin auf das Mili­tär als Hauptakteur im Vorgehen gegen den Drogenhandel stützen will.

Hierbei ist die transnationale Dimension dieses Pro­blems der Bedrohung für die nationale Sicherheit zu berücksichtigen. Mexiko wird diese Herausforderung nicht allein bewältigen können und deshalb die Zusammenarbeit mit den USA im Bereich Sicherheit und Bekämpfung organisierter Kriminalität neu überdenken müssen. Nicht ohne Grund bestehen in Mexiko Sou­veränitäts­vorbehal­te gegenüber einer Sicherheitspartnerschaft mit den USA. Aber die Möglichkeit eines verbindlichen Rechts­instruments wie eines Sicherheitsvertrags steht bislang nicht auf der Tagesordnung. Angesichts der nicht abebbenden Welle der Fentanyl-Importe aus Mexiko und der jährlich 70.000 Drogen­toten wird der Druck der USA anhalten, eine Rege­lung der Zusammenarbeit zu finden, un­abhängig vom Ausgang der im November 2024 anstehenden Präsidentschafts, Kongress- und weiteren Wahlen.

Einen grundlegenden Kurswechsel in Mexiko kann man im Bereich Klimawandel und Energiewende erwarten. Die Regierung von Präsident López Obrador hat dieses Thema vernachlässigt, ja mit der Ausweitung der Ölförderung und dem Ausbau der Infrastruktur des nationalen Ölkonzerns PEMEX ihre Energiepolitik auf fossile Energieträger ausgerichtet. Die derzeitige Energie- und Umweltpolitik steht nicht im Einklang mit Mexikos internationalen Ver­pflichtungen. Das Land hat sich aus den Klimaverhandlungen der Vereinten Natio­nen abge­meldet. Die neue Präsidentin Sheinbaum gilt als Umweltaktivistin und hat an­gekündigt, die Energiewende mit erneuerbaren Energieträgern zu beschleunigen.

Noch deuten sich hier aber nur Diskrepanzen zur Vorgängerregierung an: So will die neue Regierung an der »Stärkung« von PEMEX und der nationalen Elektrizitätsgesellschaft CFE festhalten und gleichzeitig einen Übergang zu erneuerbaren Energien einleiten, ohne dafür aber Raum für private Investoren zu schaffen. Diesen Widerspruch aufzulösen stellt eine zentrale Herausforderung dar. International kann Sheinbaum in diesem Bereich einen großen Unterschied zur Regierung López Obrador machen. Sie kann nämlich die Führungsrolle Mexikos als Vermittler zwischen Industrieländern und Staaten des Globalen Südens in Foren wie den G20, den Verhandlungen zum Klimawandel und der Agenda 2030 wieder­herstellen.

Die komplexen Beziehungen mit den USA

Präsident López Obrador zeigte während seiner Amtszeit nur sehr sporadisches Interesse an außenpolitischen Fragen. So hat er sich in diesen sechs Jahren lediglich 16 Tage im Ausland aufgehalten. Eine Aus­nahme bildete die Gestaltung der bilateralen Beziehungen mit den USA. Sie forderte gleich zu Beginn seiner Amtszeit hohe Auf­merksamkeit, galt es doch, ein Nach­folge­abkommen (USMCA) für das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) aus­zuhandeln und die Migrationskrise wäh­rend der Präsidentschaft Donald Trumps zu bewäl­tigen.

Die Beziehungen zu den USA haben für Mexiko in zweierlei Hinsicht essentiellen Charakter: Die Latinos bilden die größte Minderheit in den USA. Ihre Zahl beträgt etwa 60 Millionen. Davon sind ungefähr 60 Prozent Mexikaner der ersten oder zwei­ten Generation, das heißt um die 36 bis 38 Mil­lio­nen Personen. Rund fünf Millio­nen von ihnen haben keine Papiere. Daher ist die konsularische Betreuung mexikanischer Bürger in den USA außerordentlich wichtig. Für Mexiko und diese Gemeinschaft ist die Verabschiedung einer Ein­wan­derungs­reform, die einen Weg zum legalen Aufent­halt in den Vereinigten Staaten er­öffnet, von grundlegender Bedeutung. Auch wenn die Aussichten darauf sehr begrenzt sind, besitzt die Migrationsfrage nationale und bilateral in beiden Staaten große politi­sche Sprengkraft. Die Neigung im US-Kon­gress zu Migrationsgesetzen mit extraterritorialen Auswirkungen ist als sehr hoch ein­zuschätzen, unabhängig von den Mehr­heiten nach den Wahlen im November 2024. Mexiko könnten dann Bedingungen und Verantwortlichkeiten auferlegt wer­den, wie sie sich zum Beispiel aus dem Pro­gramm »Remain in Mexico« für Perso­nen mit Asyl­anträgen in den USA ergeben haben. Bereits in den vergangenen Monaten sind die Be­lastungen für die Grenzstädte Mexikos und für die verfügbare Infrastruktur durch dort wartende Antragsteller und die Tendenz zu illegalen Grenzübertritten zu einem massi­ven Problem geworden.

Das Hauptinteresse der mexikanischen Seite im Beziehungsgeflecht mit den USA bestand immer darin, eine Vermischung der drei zentralen Komponenten dieser Beziehungsstruktur zu vermeiden: Handel, Migration und Sicherheit. Die Trump-Admi­nistration hingegen versuchte gerade aus deren Verknüpfung Vorteile für die eigene Verhandlungsposition zu erlangen. In den dreiseitigen Verhandlungen über das NAFTA-Nachfolgeabkommen erwies sich Kanada für Mexiko als hilfreicher Part­ner dabei, einen durchschlagenden Erfolg dieser Pläne unter Präsident Trump zu ver­hindern. Wäh­rend der Biden-Administra­tion hat sich der Druck auf Mexiko vor allem in der Migra­tionsfrage verstärkt, nicht zuletzt weil in großem Stil Personen verschiedener Natio­nalitäten, die illegal die Grenze zu den USA überquert hatten, nach Mexiko abgeschoben oder in ihre Heimatländer zurückgeführt wurden. Noch im Novem­ber 2023 hatte sich deren Zahl auf rund 300.000 be­laufen. Im Juli 2024 war sie unter 120.000 gesunken, was die dramatische Lage etwas entschärft hat. Eine Eini­gung, dass nicht­mexikanische Migranten direkt in ihre Heimatländer und nicht nach Mexiko ab­geschoben werden, steht noch aus. Sie soll den Druck auf die mexikanische Nordgrenze mindern.

Damit könnte es gelingen, Handelsfragen wieder stärker in den Blick zu neh­men. Trotz seiner 14 Freihandelsabkommen mit über 40 Ländern der Welt gehen 80 Pro­zent der Exporte Mexikos in die USA. Be­stehende Handelsstreitigkeiten zwischen Mexiko und den USA in den Bereichen Energie und gen­technisch veränderte Orga­nismen für den menschlichen Konsum (in erster Linie Mais) werden sicher erst nach einem Regierungswechsel in beiden Län­dern im Rahmen des Vertrags zwischen Mexiko, den Vereinigten Staaten und Kana­da (USMCA) beigelegt wer­den können. In der Zwischenzeit dürften sich einige Diffe­renzen, allen voran im Agrarsektor, auf­grund des angespannten politischen Klimas weiter verschärfen. Solche Unstimmigkeiten sind nicht unge­wöhnlich, zählt die US-amerikanisch-mexikani­sche Grenze doch zu jenen, über die die meisten Handelsgüter der Welt gehen. Allein im letzten Jahr lag der Wert des bi­nationalen Handels bei rund 798 Mil­liarden Dollar, ein Rekordwert, wie das US Census Bureau mitteilte. Allerdings ist beispielsweise die Auseinandersetzung über die Bevor­zugung staatlicher mexikanischer Produktionsunternehmen deutlich gravie­render, weil sie sich auch auf die von Mexiko immer wieder betonte Sicherung der Energiesouveränität erstreckt.

Mexikos außenpolitische Neuaufstellung

Die Positionierung Mexikos in der inter­nationalen Politik hat während der Regie­rungs­zeit von Präsident López Obrador erheblich gelitten. Das Land hat an Präsenz und Einfluss auf internationaler Ebene verloren, sowohl in den bilateralen Bezie­hungen als auch in den multilateralen Gremien. López Obrador hatte kein Gespür für die Veränderungen auf der globalen Bühne und für die Notwendigkeit einer kreativen und proaktiven Außenpolitik. Für ihn stand die Innenpolitik im Vordergrund. An internationalen Gipfeln nahm er meist nicht teil. Seine Initiativen während des mexikanischen Vorsitzes im Sicherheits­rat der Vereinten Nationen verliefen ohne große internationale Resonanz im Sande.

Der neuen Präsidentin Claudia Sheinbaum obliegt es, die komplexen bilateralen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, die den Eckpfeiler der Außenpolitik Mexi­kos bilden, und die beschädigten Beziehungen zu anderen Ländern wie Spanien, Peru und Ecuador zu verbessern. Darüber hinaus wird sie unter Zeitdruck stehen, Außenpolitik im Sinne einer Reinte­gration des Landes in die Welt­politik zu betreiben. Für den neuen Außen­minister Juan Ramón de la Fuente, einen erfahrenen Außenpolitiker, muss es vor allem darum gehen, die Bedeu­tung seines Ministeriums für die Aus­gestal­tung der Außenpolitik zurückzugewinnen, auch wenn die Richtlinienkompetenz dafür ver­fassungsgemäß in der Hand der Präsi­dentin liegt. Allerdings krankte das außen­politische Handeln Mexikos unter López Obrador an fehlender Kohärenz, da uner­wartete und mit dem Außenamt nicht ab­gesprochene Interventionen des Präsi­denten die diplo­matische Arbeit enorm beeinträchtigten.

Dass eine neue Präsidentin in Mexiko ihr Amt fast gleichzeitig mit einem neuen Präsi­denten oder einer neuen Präsidentin in den USA antritt, eröffnet gute Chancen für eine Neubestimmung der bilateralen Bezie­hungen. Von den US-Wahlen im November bis zur Amtsübernahme am 20. Januar 2025 wird das Team von Präsidentin Shein­baum intensiv mit dem Team des Gewinners der US-Wahl kommunizieren müssen, um den Grundstein für eine neue Phase der bilateralen Beziehungen zu legen. Weitere Schritte könnten dann auf der Basis von Berechenbarkeit und gegenseitigem Ver­trauen unternommen werden. Dies wird notwendig sein, da im Juli 2026 die drei Länder des USMCA-Freihandelsabkommens sich erklären müssen, ob sie aus dem Ab­kommen aussteigen wollen oder sich um eine Verlängerung bemühen werden. Die USA haben ein sehr klares Verfahren mit öffentlichen Anhörungen und Berichten im Kongress beschlossen, das bereits im Jahr 2025 beginnen wird, während Mexiko hierzu bislang nichts festgelegt hat. Dieser Überprüfungs- und Bewertungsmechanismus ist jedoch unabdingbar, wenn mit Kanada gemeinsame Positionen vereinbart werden sollen, um die Verhandlungs­position der mexikanischen Regierung zu stärken.

Dieser Prozess ist für Mexiko nicht nur zur Absicherung seiner handelspolitischen Interessen bedeutsam, sondern auch un­verzichtbar, um neue Investoren zu gewin­nen. Das Fenster für die Verlagerung von Investitionen nach Mexiko (Relokalisie­rung im Zeichen von »near-« und »friend-shoring«) wird sich in den kommenden Jahren schlie­ßen. Das Land könnte wertvolle Chancen verpassen, wenn es der neuen Präsidentin nicht gelingt, die not­wendigen Entscheidungen in den Bereichen Sicherheit, Rechtssicherheit, Infrastruktur, Zugang zu erneuerbaren Energien, Energie­wende und Ausbildung der Arbeitskräfte zu treffen, um mögliche Investoren an Mexiko zu binden. Zwar hat Tesla wegen der Flaute beim Ver­kauf von E-Kraftfahrzeugen seine angekündigte Investition für eine Auto­mobilfabrik einstweilen auf Eis gelegt. Es gibt aber noch mehr Interessenten, denen der Standort Mexiko mit seinem privilegierten Zugang zum US-Markt große Vorteile verspricht.

Jenseits dieser Herausforderungen gilt es weitere außenpolitische Schadensfälle zu bereinigen: Im Zusammenhang mit der Debatte über die Justizreform, die der schei­dende Präsident im letzten Monat seiner Amtszeit mit Hilfe von Verfassungsreformen durchsetzte, hat er eine »Pause« in den Beziehungen zu den diplomatischen Ver­tretern der USA und Kanadas erklärt, die ihre Vorbehalte gegenüber diesem poli­ti­schen Projekt geäußert hatten. Der Ver­treter Washingtons hatte gewarnt, die Justizreform der Regierung »gefährde« die Demokratie in Mexiko und die Handels­beziehungen mit den Vereinigten Staaten. Auch hatte er zu bedenken gegeben, dass die Volks­wahl der Richter die Einmischung der Kartelle in die Justiz erleichtern würde. Die mexikanische Regierung wertete diese Kritik als nicht hinnehmbare Einmischung in innere Angelegenheiten, die gegen die nationale Souveränität verstoße. Die Bezie­hungen zu anderen Ländern oder ihren Ver­tretern zu »pausieren« ist eine Erfindung der Präsidialdiplomatie in Mexiko und geht über den diplomatischen Kanon hinaus.

López Obrador setzte dieses Instrument auch in anderen Fällen ein. So erklärte er eine »Pause« in den Beziehungen zu Spanien, als das Königshaus nicht bereit war, sich für die koloniale Vergangenheit zu ent­schul­digen. Entsprechend wurde der König auch zur Amtseinführung der neuen Präsidentin nicht eingeladen, so dass die bilaterale Krise anhält. Gegenüber zwei süd­amerikanischen Ländern ging López Obra­dor ähnlich vor. Im Falle Perus weigerte er sich, die Regierung der Präsi­dentin Dina Boluarte anzuerkennen, nach­dem der gewählte Präsi­dent Pedro Castillo seines Amtes ent­hoben worden war. Darauf­hin erklärte der peruanische Kongress den mexikanischen Präsidenten zur »persona non grata«. Im Falle Ecuadors setzte López Obrador die bilateralen Beziehungen aus, weil Sicherheitskräfte des Landes die mexi­kanische Bot­schaft in Quito gestürmt hatten, um den verurteilten ehemaligen Vizepräsidenten Ecuadors, Jorge Glas, zu ergreifen. Die neue Präsidentin Sheinbaum, die bislang nur durch begrenztes außen­politisches Engage­ment hervorgetreten ist, wird sich in diesen Fragen positionieren müssen, die ebenso wie Mexikos Haltung zum Wahlbetrug in Venezuela die Tages­ordnung bestimmen werden.

Doch auch jenseits der Probleme in den bilateralen Beziehungen Mexikos stehen wegweisende Entscheidungen an. Mit der EU wäre das auf Eis liegende modernisierte Globalabkommen zu unterzeichnen und zu ratifizieren oder gegebenenfalls neu zu ver­handeln, was zu seiner Verschiebung in die weitere Zukunft führen dürfte. Japan ist ein wichtiger Investor in Mexiko, und seine Investitionen müssen gesichert werden. In Mexikos Beziehungen zu den USA ist China der »Elefant im Raum«. Dringlich ist hier vor allem die Frage des Imports von E-Autos aus chinesischer Produktion nach Mexiko. Auch siedeln sich dort immer mehr chine­sische Autobauer an. Die USA und Kanada wollen verhindern, dass massenhaft chine­sische Autos über Mexiko nach Nordamerika gelangen. Deshalb gedenken sie diese mit einem Zollsatz von 100 Prozent zu belegen. Solche und andere, bereits ange­kündigte Gegenmaßnahmen könnten die Attraktivität des Standorts Mexiko für Investoren aus China erheblich schmälern.

Ausblick: neue Weichenstellungen für Mexiko

Der Ausgang der Wahlen hat die neue Präsidentin mit komfortablen Mehrheiten in beiden Parlamentskammern ausgestattet. Im Kongress verfügt sie über eine Zwei­drittelmehrheit, im Senat fehlen ihr dazu nur zwei Stimmen. Das wird ihr ein »Durch­regieren« ohne große Zugeständnisse an die Opposition ermöglichen. Ob dies allerdings die beste politische Option darstellt, muss fraglich bleiben, da es wohl nicht zukunftsträchtig ist, die – wenn auch geschwächte – Opposition völlig aus dem Konsens zu bestimmten Fragen auszuschließen. Hier könnte sich Sheinbaum vom konfrontativen Stil ihres Vorgängers absetzen, die Polarisierung im Lande einhegen und das friedliche Zusammenleben verschiedener gesellschaftlicher Gruppen fördern. Doch ihr Versprechen, Kontinuität mit der Politik ihres Vorgängers zu wahren, wiegt schwer und hat starke machtpolitische Implika­tionen innerparteilicher Art. Sie hat sich damit selbst Fesseln angelegt. Ein Umsteuern in bestimmten Politikfeldern wird daher nicht unmittelbar eintreten und nur langsam erfolgen können. Sheinbaum ist hinreichend politisch erfahren, um die informellen Grenzen ihrer Macht nicht un­nötig zu überschreiten und damit Konflikte hervorzurufen. An Machtproben mit den »starken Männern« in Regierung und Partei wird es nicht fehlen.

Trotz der vom Projekt der IV. Trans­formation vorgegebenen Leitplanken wird die künftige Präsidentin neue Weichen­stellungen in den Bereichen Energie, Klima, Gewalt­kontrolle und Kriminalitätsbekämpfung durchsetzen wollen. Wie das vonstattengehen soll, wird sich jedoch eher in der Regierungspraxis und im pragmatischen Zugang zu Problemlösungen erweisen als in einem sichtbaren »Herumreißen des Ruders«. Für Deutschland und die EU wird Mexiko wieder interessant werden, wenn die Regie­rung für sich bestimmte offene Fragen geklärt hat.

Welche Vision hat Mexiko als außenpolitischer Akteur, und welche Vorstellung hegt es von seiner Rolle in den internationalen Beziehungen? Ein erster Hinweis dürfte der Umgang der neuen Regierung mit dem modernisierten Global­abkommen mit der EU sein. Die EU hat angeboten, das Abkommen in zwei Teile zu gliedern: zum einen in das vollständige modernisierte Global­abkommen in der ausgehandelten Form, zum anderen in ein separates Inte­rims-Freihandelsabkommen, das nur den Inhalt der handelspolitischen Teile des Globalabkommens unter der ausschließ­lichen Zuständigkeit der EU wiedergeben würde. Das könnte den Weg zu einer Einigung erleichtern. Das Interimsabkommen würde nach Unterzeichnung und Abschluss gültig bleiben, bis das modernisierte Globalabkommen in Kraft tritt. Auf diese Weise könnten die ausschließlichen Handelsbestimmungen der Union zügig in Kraft treten.

Welche Richtungsentscheidungen Mexiko unter neuer Regierung trifft oder getrof­fen hat, ließe sich etwa daran ablesen, ob das Land sich eher auf Positionen des Glo­balen Südens zu­bewegt und seine unter López Obrador erklärte Absicht einer Mit­gliedschaft in den G77 umsetzen wird oder ob es versuchen wird, wieder eine Vermittlerrolle als globa­ler Partner zwischen den weltpolitischen Fronten einzunehmen. Bewertet werden müsste auch, ob Europa angesichts der engen Einbindung Mexikos in den nord­amerikanischen Raum als Part­ner für das Land wieder interessant werden kann und mit der Regierung Sheinbaum ein Neu­anfang der Beziehungen ohne die Belastungen der Vergangenheit aussichtsreich ist.

Hier sind grundsätzliche Fragen angesprochen, die Mexikos traditionelle Haltung der Nichteinmischung betreffen, etwa im Hinblick auf die Situation von Demokratie und Menschenrechten in Venezuela und Nica­ragua sowie auf die Positionierung zu den kriegerischen Kon­flikten in der Ukraine und Gaza. In Anbetracht der historisch gewachsenen wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Präsenz Deutschlands und Europas in Mexiko sollten allerdings zu­nächst bilaterale Impulse gesetzt werden. Sie sollen dazu dienen, etwa die wissenschaftlich-technologi­sche Zusammenarbeit mit Mexiko auf eine neue Grundlage zu stellen und so gemeinsame Interessen im Bereich Bildung und Forschung zu stützen – nicht zuletzt durch kofinanzierte Koope­rationsmodelle. Hier wird es in erster Linie darauf ankommen, Modelle gemeinsamer Projektverantwortung zu vertiefen und den Austausch auch mit Blick auf anwendungsorientierte Kooperationen mit Unternehmen voranzubringen. Die politi­sche Seite der Zusammen­arbeit sollte eben­falls wieder­aufgenommen werden. Das hieße, eine neue Vertrauensgrundlage für die Binationale Kommission Mexiko-Deutsch­land zu schaffen und ihr mit Beteiligung von Mittler- und Durchführungsorganisationen beider Seiten neue Impulse zu verleihen.

Prof. Dr. Günther Maihold ist Non-Resident Senior Fellow der SWP.

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