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Chinas Anspruch auf eine neue Weltordnung

SWP-Aktuell 2025/A 43, 23.09.2025, 6 Seiten

doi:10.18449/2025A43

Forschungsgebiete

Das diesjährige Gipfeltreffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) in Tianjin war das bisher größte in ihrer Geschichte. Mehr als 20 Staatschefs und zehn Vertreter internationaler Organisationen nahmen an dem Gipfel teil. Während dieser SOZ+ hielt Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping eine Rede, in der er promi­nent die Global Governance Initiative (GGI) des Landes ankündigte. Entwicklung, Sicher­heit, Zivilisation und Governance bilden für Peking die vier Säu­len für den Aufbau einer »Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Zukunft der Mensch­heit« oder, konkreter, einer neuen Weltordnung. Daher ist es dringend geboten, dass Deutschland und Europa China in dieser Phase anhaltenden Umbruchs als global­strategische Herausforderung begreifen.

Neben den gemeinsamen Treffen im Rah­men des SOZ-Gipfels am 31. August und 1. September 2025 in Tianjin ließ Staats- und Parteichef Xi Jinping eine ganze Reihe an offiziellen bilateralen Zusammenkünften organisieren. Sie unterstreichen zum einen den von Xi postulierten Inklusivitätsanspruch, das heißt die Gleichbehandlung großer (Indien oder Kasachstan) wie kleine­rer (Armenien oder Belarus) Län­der in der chine­sischen Außenpolitik. Zum anderen bilden sie den Kern des chinesischen Multi­lateralismus mit dem Ziel, ein Netzwerk bilateraler Verbindungen zu schaffen. Beim Blick auf die beteiligten Länder fällt auf, wie sehr die chinesische Seite versucht, über­regionale Verbindungen zu stärken und Marktzugänge für sich und andere zu schaf­fen. Beispiele dafür sind die Teil­nahme von SOZ-Beobachterstaaten wie Armenien und Aserbaidschan, SOZ-Dialog­partnern wie Kambodscha und Myanmar oder Gaststaaten wie Vietnam und Indo­nesien. Besonders hervorzuheben ist auch die Teilnahme des indischen Premier­ministers Narendra Modi, dessen Land seit 2017 Vollmitglied der SOZ ist. Nach sieben Jahren Ab­wesenheit kann Modis Präsenz eine neuer­liche Annäherungsphase in den chinesisch-indischen Beziehungen ebenso signalisieren wie den Versuch Pe­kings, Neu-Delhi aktiv in Chinas Ordnungsansatz einzubinden.

Xis Präsentation der Global Governance Initiative (GGI) hat somit ein Publikum aus sehr unterschiedlichen Regionen erreicht. Im Kern umfasst die GGI fünf Punkte. Erstens ist dies die Wahrung souveräner Gleichheit unabhängig von Größe sowie politischer oder wirtschaftlicher Stärke der jeweiligen Län­der. Damit unterstreicht China, wie sehr es sich selbst und Länder des globalen Südens im gegenwärtigen System unterrepräsentiert sieht. Vor diesem Hintergrund betont Peking oftmals, eine »Demo­kratisierung der internatio­nalen Beziehungen« sei notwendig. Die Umdeutung und Ver­wendung zentraler politischer Begriffe durch die chinesische Diplomatie ist gerade aus europäischer Sicht hier besonders zu beachten.

Zweitens fordert China Respekt vor dem internatio­nalen Recht, der Charta der Ver­einten Nationen (VN) und den all­gemein anerkannten Grundnormen der internationalen Beziehungen. Diese grund­sätzliche Anerkennung findet sich in vielen außen­politischen Dokumenten wieder, etwa im Konzeptpapier der Globa­len Sicherheits­initiative (GSI) von 2023. Dort heißt es bei­spielsweise, dass Staaten Souveränität und terri­toriale Integrität so­wie die Prinzipien der VN-Charta respektieren sollen. Zugleich sollen die Staaten aber auch die »legitimen Sicherheitsansprüche« aller Staaten ernst nehmen. Aus europäischer Sicht liest sich das oft widersprüchlich (siehe auch Kas­ten), im Kontext der GGI-Verkündigung unter anderem deshalb, weil Russland prominenter Teilnehmer des SOZ-Gipfels war.

Drittens bekundet China seinen Willen, multilaterale Kooperation als Funda­ment interna­tio­naler Beziehungen zu implementieren. Damit werden Kern­prinzipien der chinesischen Belt and Road Initiative in die GGI überführt, und zwar der Dreiklang »gemein­same Konsultationen, gemein­same Beiträge, gemeinsame Vor­teile«. Aus Chinas Sicht stehen diese Prinzipien im Kontrast zu den vom Westen oder den USA dominier­ten Ent­scheidungsprozessen: Sie weisen auf die geteilte Verantwortung aller im Gegensatz zu hegemonialem Zwang weni­ger hin und betonen Win-win-Kooperationen.

Viertens wird ein »menschenzentrierter« Ansatz befürwortet. Diese Formulierung ist tief im Jargon der Kom­munistischen Partei Chinas (KPCh) verankert und wird hier auf die internationale Ebene übertragen. Mit dem Narrativ des menschenzentrierten Ansatzes markiert Peking eine Abkehr von Blockpolitik und legt den Fokus stattdessen auf zentrale Probleme der Menschheit, wie etwa Armutsreduzierung, Konnektivität, Gesundheit oder Klimaschutz. China prä­sentiert sich als Verfechter von Entwicklung für alle und stellt dies als zen­trales Prinzip einer internationalen Ord­nung vor, wie bereits zuvor im Rahmen seiner Glo­balen Entwicklungsinitiative.

Beispiel Xis »Vier Muss« (Sige Yinggai)

Die »Vier Muss« führte Präsident Xi direkt nach dem Beginn von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ein, nämlich während eines Videogipfels mit den Staats- und Regie­rungschefs Frankreichs und Deutschlands. Es ist die bis heute kürzes­te Darstellung der chi­nesischen Position. Sie beinhaltet erstens die Achtung der nationalen Souveränität und Integrität jedes Landes und zweitens den Respekt vor der Charta und den Prinzipien der VN. Drittens werden die legi­timen Sicher­heitsbedenken jedes Landes berücksichtigt. Viertens betont Xi, dass China eine friedliche Beilegung der »Krise« unterstützt. Die ersten beiden Punkte werden von der chinesischen Seite als »Prinzipien« der internationalen Ord­nung angesehen, der dritte spiegelt die »Reali­tät« derselben wider, der vierte bildet eher ein »zukünftiges Ziel oder Inter­esse«. Aus Sicht chinesischer Forscher beschreiben die »Vier Muss« vier Logiken der chinesischen Außen­politik, die für den »umfassenden« Ansatz der Außenpolitik stünden. Selbst wenn die chine­sische Seite auf den Wider­spruch zwischen den »zwei Prinzipien« und »den legitimen Sicherheitsbedenken« hin­gewiesen wird, ver­weist sie auf den »umfas­senden« Ansatz chi­nesischer Politik. In dieser Sicht­weise handelt es sich daher nicht um Widersprüche oder gar Doppelstandards, sondern in erster Linie um verschiedene Logiken, die in der chinesi­schen Außen­politik vereint werden.

Fünftens genießt die Umsetzung der GGI Priorität. Nicht auf Rhetorik soll der Schwer­punkt liegen, sondern auf Ergebnissen. Hier schließt sich der Kreis zur SOZ, denn diese betrachtet Xi bereits als Aus­druck der Implementierung der GGI und als Vorbild dafür. Grundsätzlich ist Peking bestrebt, Kompatibilität mit chinesischen Vorstellungen und Normen in verschiedenen internationalen Kontexten herzustellen. So können chinesische Ideen und Kon­zepte als Basis für eine neue Welt­ordnung etabliert werden. Ferner stärkt die KPCh auch international ihre Autonomie als Impulsgeberin, vor allem gegenüber den USA und Europa.

Relevanz für Deutschland und Europa

Vor diesem Hintergrund sind das SOZ-Gipfeltreffen sowie Xi Jinpings Ankündigung der GGI in vielfacher Weise relevant für Deutschland und Europa. So sind von China angeführte Mechanismen oder Organisationen nicht mehr als reine »Dis­kussionsforen« (talking shops) abzutun. Die Führung der KPCh hat unter Xi ihre con­vening power stetig ausgebaut. Der Begriff bezeichnet hier Chi­nas Fähigkeit, verschiedene Staaten und Gruppen regelmäßig zu spezifischen Themen zu versammeln. Es handelt sich damit um eine Form von soft power, die im Gegensatz zu formaler Füh­rung »neutrale« Diskussionsräume anbietet und lose Vereinbarungen hervorbringt. Sie ist eine Art Führung, die keine universellen (normativen) Bedingungen stellt. Convening power repräsentiert Führung ohne Über­nahme von Verantwortung beispielsweise dafür, wie Akteure in anderen Kontexten auftreten und handeln, etwa Putins Russ­land in der Ukraine. Gerade im derzeitigen Interregnum der Welt­ordnung, in dem vormals etablierte Macht­verhältnisse sich fragmentieren und althergebrachte Struk­turen nicht mehr die gewohnte Sicherheit und Stabilität gewährleisten, wächst die Bedeutung von convening power. Im Inter­regnum entstehen Nischen, in denen Insti­tutionen, Normen und Mechanismen nicht mehr funktionieren wie zuvor. Das eröffnet der chinesischen Regierung die Chance, ihre convening power auszuspielen und sich als verantwortungsvoller und inklusiver Mak­ler der internationalen Ordnung oder ihrer Neugestaltung darzustellen. Beispielhaft dafür ist die Präsentation der SOZ als Aus­druck des »echten Multilateralismus« (zhenzheng duobian zhuyi), welcher auf der Gleichheit aller Länder beruht und sich von der US-Hegemonie ebenso abwendet wie von westlich-libe­ralen Doppelstandards.

Darüber hinaus kann die Ankündigungs­politik Xi Jinpings, vor allem auch in der Außenpolitik, nicht länger als Rhe­torik »leerer Konzepte« abgetan werden. Hinter Chinas Globalen Initiativen stecken nicht nur kohärente Erzählungen, sondern auch knallharte Interessenpolitik. Wie Xi auf dem SOZ-Gipfel nochmals deutlich gemacht hat, geht es Peking im Kern darum, das globale Governance-System umzugestalten. Mit anderen Worten: Das VN-System soll chinesischen Vorstel­lungen angepasst und eigene Prinzipien wie Rechtsvorstellungen sollen etabliert werden. Das ist keine leere Drohung, sondern ein bereits stattfindender Veränderungsprozess. In den letzten fünf Jahren hat Xi die Säulen dieser neuen Ord­nungsvorstellungen mit den vier Globalen Initiativen für Ent­wicklung, Sicherheit, Zivilisation und jetzt Governance skizziert und untermauert. Prominent platziert werden sie auf jedem Gip­feltreffen, an dem Xi teilnimmt, bei all seinen bilateralen Zu­sammenkünften, aber auch in den vielen internationalen Public-Diplomacy-Ver­anstaltungen, die chinesische Thinktanks ausrichten. Hier greifen convening power und Diskursmacht ineinander. Schon jetzt sind die Effekte chinesischer Dis­kurs­macht erkennbar, vor allem der Aufbau eines eigenständigen internationalen Diskurs­systems, das langfristig Inhalte des Völker­rechts, aber auch Begriffe wie Entwicklungs- und Technologiepolitik uminterpretiert.

Chinas neue imperiale Qualität

Chinas Diskurse und Praktiken unter Xi weisen imperiale Qualität auf. »Im­perial« wird dabei weniger in einem rein militärisch-expansiven Sinne verstanden, sondern bezeichnet hier vor allem die sub­tile Pro­duktion von Zen­trum-Peripherie-Bezie­hun­gen, die auf lange Sicht dazu bei­tragen, Autonomie und Sicherheit des Par­teistaates zu wahren. In diesem Ver­ständnis bildet die KPCh bzw. geographisch gesehen die Volks­republik China das Zentrum. Peri­pherien stimmen dagegen selten mit den Grenzen anderer Nationalstaaten über­ein. Im hier dargelegten Sinne beschreibt der Begriff Peripherie nicht zwingend Räume, die geo­graphisch nah beim Zentrum liegen. Viel­mehr sind Peripherien als kleinere Einfluss­räume ganz unterschiedlicher Form und Ausdehnung zu verstehen. Als Beispiel dienen kann hier die Kontrolle chine­sischer Akteure über digitale, wirtschaftliche und finanzielle Infrastrukturen in ande­ren Nationalstaaten oder über trans­nationale Liefer- oder Wertschöpfungs­ketten.

Der SOZ-Gipfel spiegelt verschiedene Facet­ten dieser neuartigen Imperialität wider. Als erste hier zu nennen wäre die wachsende chinesische Kontrolle über Wirt­schaftsstrukturen und weitere Infra­struk­turen in den Staaten der Region durch Angebote, die von China finanziell gestützt werden. Ein Beispiel dafür ist die Gründung einer SOZ-Entwicklungsbank, die es sank­tionierten und nicht sanktionierten Mit­gliedstaaten ermöglicht, Mittel über eine multilaterale Institution (in der chinesischen Währung Renminbi, RMB) zu kanali­sieren. Fer­ner stellt China in den nächsten drei Jahren zusätzliche Kredite von 10 Milliarden RMB an die Mitgliedsbanken des SOZ Interbank Consortium (SCO IBC) bereit. Zudem stellt Xi den SOZ-Mitglied­staaten in Aussicht, Chinas Satel­liten­navigations­system BeiDou zu nutzen, als Alternative zum von den USA kontrollierten GPS-System.

Die zweite Facette von Chinas neuer Impe­ria­lität ist die strategische Etablierung in­for­meller Zugänge zu jenen Teilnehmerstaa­ten des SOZ-Gipfels und dabei vor allem zur Politik- und Wirtschaftselite, die bereit sind, chine­sischen Akteuren teilweise die Kontrolle über nationale (oder lokale) Wirt­schaftsprozesse einzuräumen. Überdies stärken die immer wiederkehrenden Begeg­nungen am Rande der SOZ-Gipfel (oder anderer China-plus-x-Formate) die trans­nationale Verbindung chine­sischer Akteure oder Firmen mit loka­len Partnern. Wesent­lich in diesem Kontext sind aber auch zu­sätz­liche auf Unternehmen bezogene Mecha­nismen der SOZ. Zum Bei­spiel wurde schon am 17. Juli 2025, also sechs Wochen vor dem Gipfel in Tianjin, ein Treffen des Busi­ness Forum der SOZ mit etwa 400 Wirtschafts- und Regierungsdelegierten ver­anstaltet. Der Fokus lag dieses Mal beson­ders auf der grünen Transformation im Energiesektor – ein wichtiges Thema auch auf dem Gipfel. Bereits am 6. September kamen in Wladi­wostok die SOZ-Wirt­schafts­­minister noch­mals zu­sammen, um die Ergebnisse des soeben beende­ten Gipfels zu untermauern. Inner­halb der SOZ sind mittlerweile un­zählige weitere Konsortien und Foren ent­standen, in deren Rahmen sich unterschiedlichste Akteure regelmäßig treffen.

Als dritte Facette der neuen Impe­rialität Pekings kann das Ziel gelten, ein stetig wach­sendes Netzwerk bilateraler Partnerschaften aufzubauen. Es geht nicht darum, neue Allianzen zu schmieden, sondern vielmehr spezifische Privilegien für unter­schiedliche Partner zu definieren. In Frage kommt hier zum Beispiel, der SOZ-Ent­wicklungsbank oder dem SCO IBC Ressourcen bereitzustellen oder im Rahmen der SOZ-Umweltkoope­ration den Zugang zu bestimmten Technologien zu gewähren. Des­halb sind bilaterale Treffen auf multi­lateralen Gip­feln äußerst bedeutsam für die chinesische Regierung. Außerdem ersetzt diese chine­sische Praxis des »Teile und herrsche« an vielen Stellen die traditionelle Politik des Mächtegleich­gewichts. Die Vor­teile für Peking sind dabei nicht immer sofort mess­bar. Manch­mal entstehen sie beispielsweise dadurch, dass andere Staaten das »Ein-China-Prinzip« unterstützen, welches die chinesische Füh­rung als inter­national anerkannte Norm zu etablieren versucht. In diese Richtung deuten lassen sich etwa Äußerungen des armenischen Premier­ministers Nikol Paschinjan am Rande des Gipfels, nachdem Xi eine strate­gische Partnerschaft zwischen den beiden Ländern angekündigt hatte.

Die vierte Facette der neuartigen Impe­rialität offenbart sich in Pekings Fähigkeit, bestimmte Ideen zu verbreiten und deren Akzeptanz bei anderen zu beför­dern. Auf­fallend ist dabei die hohe inhaltl­iche Kohärenz außenpolitischer Konzepte, wie Chinas Globale Initiativen unterstreichen. Auch während des SOZ-Gipfels ließ Xi Jinping keinen Zweifel daran aufkommen, dass er eine Vision für die Welt hat. Der Schwerpunkt liegt darauf, das VN-System umzuformen und damit letztlich den glo­ba­len Kontext zu verändern, in dem inter­nationale Politik stattfindet. Das kann als Versuch gewertet werden, Chinas Praktiken im Hinblick auf das Südchinesische Meer, Taiwan, aber auch die Arktis sowie in einer Vielzahl techn(o­log)ischer Kontexte zu legi­timieren.

Lehren für Deutschland und die EU

Vor diesem Hintergrund wird klar, dass die deutsche und europäische Sicht auf China ausgeweitet werden muss. In den deutschen und europäischen Beziehungen mit China dominieren inhaltlich (im weitesten Sinne) drei Kernbereiche. Erstens geht es der EU wie Deutschland darum, die Grund­sätze fairen Handels zu verteidigen. Daher zielen neuere EU-Instrumente wie zum Bei­spiel Antisubventions- und Antidumpingzölle oder die Verordnung über drittstaat­liche Subventionen darauf ab, sich auch gegen unfaire chinesische Praktiken zu wehren. Weiterhin thematisieren deutsche wie europäische Akteure bei den Treffen mit der chinesischen Gegenseite auf allen Ebenen stets die hohen Hürden, die euro­päische Unternehmen beim Zugang zum chinesischen Markt überwinden müssen. Nachhaltige Zu­geständnisse gibt es von chinesischer Seite kaum, denn wenn Beschränkungen aufgehoben werden, wird dies meist durch neue regulative Anforderungen an aus­ländische Unternehmen aus­geglichen. Zweitens müssen einsei­tige Abhängigkeiten identifiziert und reduziert werden. Das gilt beispielsweise für Chinas Monopol bei der Verarbeitung kritischer Rohstoffe oder spezifischer die globale Dominanz Chinas in der Batterielieferkette. Drittens weisen deut­sche und europäische Entscheidungsträger immer wieder auf die engen chinesisch-russischen Beziehungen hin. Sie kritisieren sowohl die (geo)politi­sche Annäherung zwischen den bei­den Ländern als auch chinesische Exporte von Dual-use-Gütern nach Russland, die von der chinesischen Regierung nicht unterbunden werden. Diese dreifache thematische Fokus­sierung ist mit Blick auf deutsche und euro­päische Interessen wichtig im Umgang mit China. Priorisierung bündelt Kapazitäten und Ressourcen.

Allerdings besteht die Gefahr, dass die globalstrategische Ebene in der Auseinandersetzung mit China vernachlässigt wird. Zu viel Konzentration auf die drei Kern­bereiche, die für sich schon kom­plex sind, vermindert die Fähigkeit, das große Ganze zu erfassen. Mit anderen Worten: Der Wald (Chinas globale An­sprüche und Anzeichen einer neuartigen Impe­rialität) ist vor lauter Bäumen (Kern­bereiche) nicht mehr zu sehen. Deshalb besteht die Kunst für deut­sche und europäische Politik darin, nicht das eine gegen das andere auszuspielen, sondern Prioritäten im Um­gang mit China zu setzen und zugleich­ die globalstrategische Bedeutung Chinas mitzudenken.

Denn Xi Jinpings Ideen und Initiativen prägen und formen schon heute Prinzipien des Interregnums. Für Nostalgie über die alte, liberale Weltordnung bleibt Deutschland und Europa keine Zeit. Xis Politik verändert oder ersetzt bereits die Funktion zentraler Elemente der traditionellen libe­ralen Weltvorstellung. So spricht sich China zwar ebenfalls für eine völkerrechtsbasierte Ordnung aus, will aber Bestandteile des Völker­rechts in seinem Sinne modifizieren. Des Weiteren führt es neue Prinzipien ein, etwa die Pflicht, legitime Sicherheitsbedenken aller Staaten anzuerkennen, wenn diese auch die Integrität Dritter verletzen. Das Interregnum ist eine sub­stantielle Her­ausforderung für deutsche und europäische Ansichten darüber, welche Komponenten der regelbasierten Ordnung zukünftig noch zu halten oder zu erneuern sind. Der Um­gang mit Chinas Ideen und Initiativen ist aufs engste damit verknüpft. Zwar ist die Priorisierung deutscher und europäischer Chinapolitik in den konkreten, bilateralen Beziehungen unverändert wichtig. Darüber hinaus bedarf es aber einer dauer­haften, in den Regierungen und Admi­nis­trationen verankerten strategischen Aus­ein­ander­setzung mit chinesischen Ord­nungs­diskur­sen und -praktiken. Diplomatie dient immer auch der Informationsbeschaffung. Deshalb sollten deutsche wie europäische Vertreter – zumindest der zweiten oder dritten politischen Ebene – an Gip­feln teilnehmen, die von China initiiert werden. Europäische Forscher und For­scherinnen sollten sich zudem an Public-Diplo­macy-Veranstaltungen in China betei­ligen, um europäische Sichtweisen und Narrative dort nach­drücklicher zu vertreten. Über die Prio­risierung kon­kreter Interessen im Umgang mit chine­sischen Akteuren hinaus muss Europas Diplomatie China end­lich auch im globalstrate­gischen Sinne die notwendige Aufmerksamkeit einräumen.

Dr. Nadine Godehardt ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Asien. Dr. Maximilian Mayer ist Junior-Professor für Internationale Beziehungen und globale Technologiepolitik an der Universität Bonn.

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