Die aktuellen parlamentarischen Machtkämpfe in London sowie schwere Verhandlungen zwischen EU und Vereinigtem Königreich erinnern an das Brexit-Drama von 2019. Die EU sollte rote Linien ziehen und Geduld zeigen, meint Nicolai von Ondarza.
Auf den ersten Blick scheint sich bei den Brexit-Verhandlungen die Geschichte zu wiederholen. Zwar ist das Vereinigte Königreich zum 31. Januar 2020 formell aus der EU ausgetreten. Allerdings befindet es sich bis zum Ende des Jahres noch in einer Übergangsphase. Wird bis dahin keine Einigung über die zukünftigen Beziehungen ausgehandelt, droht der No-Deal-Brexit – ein Ausstieg ohne Handelsabkommen.
Im Herbst 2019 mündeten die Verhandlungen trotz oder gerade wegen des politischen Dramas am Ende doch in einer Einigung. Boris Johnson machte große Zugeständnisse in Bezug auf einen Sonderstatus für Nordirland, um einen möglichst großen Freiraum für den Rest Großbritanniens zu ermöglichen, wozu die frühere Premierministerin Theresa May nicht bereit gewesen war. Er verkaufte diese aber als diplomatischen Erfolg und gewann unter dem Motto »Get Brexit done« die britischen Parlamentswahlen. Nun hat Premierminister Boris Johnson die Grenze Nordirlands parallel zu den erneut stockenden Verhandlungen wieder auf die Tagesordnung gesetzt – mit seiner Gesetzesvorlage zum britischen Binnenmarkt. Diese soll der britischen Regierung ermöglichen, notfalls ihre Verpflichtungen aus dem Austrittsabkommen mit der EU zu brechen, indem der vereinbarte Sonderstatus für Nordirland ausgehebelt wird. In Westminster kündigen Parteigranden der Konservativen an, gegen den Gesetzesvorschlag der Regierung zu stimmen. Derweil droht Boris Johnson der EU, dass auch ein No-Deal-Brexit ein gutes Ergebnis für London sei.
Die politischen Rahmenbedingungen der aktuellen Brexit-Verhandlungen sind jedoch anders als in der ersten Runde. Die rechtliche Flexibilität der Austrittsverhandlungen gemäß Artikel 50 EU-Vertrag ermöglichte Brüssel und London den drohenden No-Deal-Brexit durch insgesamt drei Fristverlängerungen abzuwenden. Die zurzeit laufende Übergangsphase hätte gemäß Austrittsabkommen jedoch nur einmal verlängert werden können, mit einem Beschluss bis zum 1. Juli 2020. Diese Frist hat die britische Regierung bewusst verstreichen lassen, um den Druck auf die aktuellen Verhandlungen zu erhöhen – obwohl ein No-Deal-Brexit nunmehr eine auch durch die Corona-Pandemie massiv geschwächte britische Wirtschaft treffen würde. Ohne Einigung gibt es zum 1. Januar 2020 aber keine Alternative dazu.
Anders als im vergangenen Jahr gibt es kein parlamentarisches Gegengewicht mehr, das die Regierung Johnson einschränkt. Vor den Neuwahlen im Dezember 2019 hatte Johnson keine eigene Mehrheit, und eine fragile Koalition aus Labour, Liberaldemokraten und konservativen Rebellen zwang ihn zu einer Verlängerung, um den No-Deal-Brexit zu verhindern. Nun verfügen die Konservativen über eine deutliche Mehrheit von 364 zu 278 Abgeordneten. Im Zuge der parlamentarischen Machtkämpfe um den Brexit wurden fast alle moderaten Stimmen aus der konservativen Fraktion gedrängt. Während Theresa May noch laufend mit ihrem Kabinett über den richtigen Brexit-Kurs rang, hat Johnson alle seine Minister auf seine harte Linie verpflichtet. Zudem wurden führende britische Beamte von ihren Posten gedrängt; zuletzt trat etwa der Leiter des juristischen Diensts der Regierung aus Protest gegen den bewussten Bruch der Verpflichtungen aus dem Austrittsabkommen zurück. Schlüsselpositionen wurden mit überzeugten Brexit-Befürwortern besetzt. Die neue Generalstaatsanwältin und Brexit-Befürworterin Suella Braverman etwa verteidigte den anvisierten Bruch des Austrittsabkommen mit dem Verweis auf die Parlamentssouveränität, während ihre direkten Amtsvorgänger die Pläne der Regierung scharf kritisierten.
Trotz Unmuts über den bewussten Bruch völkerrechtlicher Verpflichtungen auch bei einigen Konservativen: Aus dem Unterhaus oder der Regierung wird es keine ausreichend große konservative Rebellion gegen Johnson geben. Das Oberhaus, in dem die Regierung keine Mehrheit hat, könnte die kontroverse Binnenmarktgesetzgebung zwar noch stoppen oder zumindest verzögern, den No-Deal-Brexit aber nicht verhindern. Damit fehlt jegliche innenpolitische Korrektur, die die Regierung von ihrem harten Brexit-Kurs abbringen könnte. Johnson kann daher glaubwürdig mit dem No-Deal-Brexit drohen – oder ihn sogar mutwillig herbeiführen.
Die Kehrseite dieser Machtfülle ist, dass Johnson die alleinige Verantwortung für den Verlauf der Brexit-Verhandlungen übernehmen muss. Angesichts des im europäischen Vergleich bis dato schlechten Corona-Managements steht er innenpolitisch trotz der komfortablen Mehrheit bereits unter Druck. Bei einem No Deal müsste er einen zusätzlichen wirtschaftlichen Einbruch sowie steigenden Druck aus Schottland in Kauf nehmen, das die Unabhängigkeit anstrebt. Für eine Einigung mit der EU müsste er wiederum klare Zugeständnisse machen und diese seinen Hardlinern verkaufen – und das dürfte schwer werden. Denn seine scharfe Rhetorik hat dazu geführt, dass eine Kurskorrektur, wie die Rücknahme der kontroversen Klauseln aus der Binnenmarktgesetzgebung oder Kompromisse mit der EU in den Handelsverhandlungen, nunmehr als Niederlage der Regierung gelten würde.
Noch ist unklar, ob die jüngsten Drohgebärden aus London primär Verhandlungstaktik oder rhetorische Vorbereitung für das »Blame Game« sind, also das Zuschieben von Verantwortung im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen. Der EU fordert diese Verhandlungssituation wieder viel strategische Geduld ab. Trotz allen innenpolitischen Theaters in London liegt es weiterhin im europäischen Interesse, einen Handelsvertrag mit ihrem direkten Nachbarn Großbritannien auszuhandeln. Ein Abbruch der Verhandlungen seitens der EU würde zudem den Hardlinern in London in die Hände spielen, die die Union für einen No-Deal Brexit verantwortlich machen wollen. Gleichzeitig kann die EU nicht akzeptieren, dass ein bereits ausgehandelter und ratifizierter Vertrag gezielt gebrochen wird.
Sie sollte daher weiter gesprächsbereit sein, aber den Abschluss der Verhandlungen daran knüpfen, dass die Klauseln in der Binnenmarktgesetzgebung, die dem Austrittsabkommen zuwiderlaufen, aus der Gesetzesvorlage entfernt werden. In den nächsten Wochen wird es noch viel politisches Drama aus London geben. Die EU sollte sich davon nicht beirren lassen und bei ihrer klar kommunizierten Linie bleiben.
Contribution to a Research Paper 2020/S 18, 10.09.2020, 108 Seiten, S. 51–56
doi:10.18449/2020WP07
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