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Machtverschiebungen in der EU: wie Deutschland ein »guter Hegemon« bleibt

Der Einfluss Deutschlands in der EU nimmt weiter zu. Das kann bei den Partnern Befürchtungen vor Fremdbestimmung noch verstärken. Transnationale Mitbestimmungsmöglichkeiten können dabei helfen, einer Gegenmachtbildung vorzubeugen, meint Lars Brozus.

Kurz gesagt, 31.10.2013 Forschungsgebiete

Der Einfluss Deutschlands in der EU nimmt weiter zu. Das kann bei den Partnern Befürchtungen vor Fremdbestimmung noch verstärken. Transnationale Mitbestimmungsmöglichkeiten können dabei helfen, einer Gegenmachtbildung vorzubeugen, meint Lars Brozus.

Seit über drei Jahren wird in den Krisenländern der Eurozone gegen austeritätspolitische Maßnahmen demonstriert. Die Proteste richten sich gegen eine Politik, die nicht nur als falsch, sondern auch als fremdbestimmt wahrgenommen wird. Die Demonstranten vermuten, dass die wichtigen Entscheidungen nicht in Athen oder Lissabon, sondern allenfalls noch in Brüssel, vor allem aber in Berlin getroffen werden. Sie nutzen historische Ressentiments, um dies anzuprangern. So geraten immer wieder Hakenkreuzfahnen vor die Kameras. Gelegentlich sieht man auch Fotomontagen der Kanzlerin oder ihrer Minister in Uniformen des »Dritten Reichs«. Diese Bilder sollen an deutsche Aggressionen in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts erinnern. Sie transportieren die Botschaft, dass die Deutschen heute mit ökonomischen Mitteln nachholen, was ihnen damals militärisch nicht gelungen ist: die Dominanz über Europa zu erringen. Solche Vorwürfe werden nicht nur auf der Straße geäußert. Auch der ungarische Ministerpräsident Orban sprach im letzten Mai davon, dass Deutschland »schon einmal« Panzer in sein Land geschickt habe.

Die Gewichte in der EU verschieben sich zugunsten Deutschlands

Tatsächlich findet in der EU gegenwärtig eine größere Machtumverteilung statt. Das relative Gewicht Deutschlands nimmt zu. Frankreich und die Staaten des Südens sind stärker von der Schuldenkrise betroffen und verlieren dadurch an Einfluss. Durch die Ausdifferenzierung der EU in einen Eurozonenkern und eine Unionsperipherie nimmt gleichzeitig die Bedeutung Großbritanniens ab, das sich letzterer zurechnet. Schließlich geben die USA ihre Stabilisierungs- und Ausgleichsrolle auf dem Kontinent auf, um sich Asien zuzuwenden.

Machtzugewinn erzeugt im Regelfall Gegenmachtbildung. Daher wäre zu erwarten, dass das Erstarken historischer Ressentiments gegenüber Deutschland politisch noch größeren Widerhall findet. Bislang verfängt die Skandalisierung der neuen deutschen Dominanz indes kaum. Das hängt mit der Glaubwürdigkeit der freiwilligen Selbstbindung Deutschlands in der EU zusammen. Der außenpolitische Grundkonsens, nachdem Souveränität im eigenen Interesse mit den europäischen Partnern zu teilen ist, gilt hierzulande ungebrochen. Diese Selbstbindung trägt dazu bei, dass die deutsche Politik – zur Verwunderung mancher Partner – bislang eher zurückhaltend mit dem gewonnenen Einfluss umgeht. Berlin wird deshalb nach wie vor als vergleichsweise »guter Hegemon« wahrgenommen.

Einer Gegenmachtbildung vorbeugen

Der Widerstand gegen die wachsende deutsche Macht dürfte allerdings zunehmen, wenn sich der Eindruck verfestigt, Berlin treffe immer mehr »einsame« Entscheidungen für den Rest der EU. Um der Bildung von Gegenmacht vorzubeugen, sollten daher Möglichkeiten erkundet werden, wie dem Eindruck größerer Fremdbestimmung in den Partnerländern entgegengewirkt werden kann. Dafür kommen zwei Wege in Betracht.

Die Selbstbindung Deutschlands könnte über mehr Integration in der EU verstärkt werden. Berlin würde weitere Kompetenzen an Brüssel abtreten, um den Verdacht zu zerstreuen, andere Staaten bevormunden zu wollen. Diese »Zentralisierungsstrategie« setzt jedoch Reformen der EU-Institutionen voraus, die am Ende den deutschen Einfluss noch verstärken könnten. Das Bundesverfassungsgericht wertet den gegenwärtigen Integrationsstand als gerade noch mit dem Grundgesetz vereinbar. Zusätzliche Kompetenzabtretungen an Brüssel ließen sich nicht mehr rechtfertigen, weil es den EU-Institutionen an der dafür notwendigen demokratischen Legitimation mangelt. Dabei wird etwa auf die ungleiche Vertretung der EU-Bürgerinnen und  Bürger im Europäischen Parlament abgehoben. Hier gilt die degressive Proportionalität, die kleinere Mitgliedstaaten gegenüber größeren besserstellt. Konkret bedeutet dies, dass Wahlstimmen einwohnerschwacher Staaten wie Luxemburg oder Malta das bis zu zwölffache Gewicht der Stimmen aus bevölkerungsstarken Staaten wie Deutschland oder Frankreich haben. Um sich dem grundlegenden demokratiepolitischen Prinzip der Wahlgleichheit anzunähern, wäre eine Neuverteilung der Parlamentssitze zugunsten der größeren und zu Lasten der kleineren Mitgliedstaaten notwendig. Das Ergebnis wäre eine größere deutsche Präsenz in den EU-Institutionen, was vor dem Hintergrund der ohnehin perzipierten Dominanz kontraproduktiv sein könnte.

Transnationale Demokratie: Betroffene an Entscheidungen beteiligen

Ausgangspunkt eines alternativen Wegs ist ein zweites demokratiepolitisches Prinzip, nachdem Entscheidungsbetroffene angemessen an der Entscheidungsfindung zu beteiligen sind. Mit dieser Formel könnte den Bedenken vor einer deutschen Hegemonie Rechnung getragen werden. Sie bedeutet nichts anderes, als politische Verfahren zu entwickeln, die die grenzüberschreitende Partizipation an wichtigen Entscheidungen ermöglichen. Dabei sollten sowohl geographische als auch sektorale Relevanzkriterien angelegt werden. So sind Entscheidungen in Berlin aufgrund ihres automatisch größeren Betroffenenkreises eher mitbestimmungswürdig als Entscheidungen in Nikosia, der Hauptstadt Zyperns. Dass Entscheidungen in Nikosia aber durchaus Auswirkungen auf die Gesamtheit der Eurozone haben können, hat die zyprische Bankenkrise gezeigt. Also müssten für potentiell folgenreiche sektorale Entscheidungen ebenfalls Mitbestimmungsmöglichkeiten eingerichtet werden.

Es wäre ein klares Zeichen an die Bürgerinnen und Bürger der EU, wenn Deutschland sich für transnationale politische Verfahren einsetzte, die auf grenzüberschreitende Beteiligung zielen. Solche Mitbestimmungsmöglichkeiten würden auch die zunehmend postnationale europäische Realität reflektieren, die durch steigende transnationale Mobilität in verschiedenen Lebensphasen (schulische und universitäre Ausbildung, berufliche Entwicklung, Familienbiographien, Alterswohnsitz) gekennzeichnet ist. Die Frage der angemessenen transnationalen Ausdrucks- und Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger der EU steht schon lange auf der Tagesordnung. Ihr sollte von künftigen Regierungen in Berlin im eigenen Interesse Priorität eingeräumt werden, um einer gegen Deutschland gerichteten Blockbildung zuvorzukommen.

Der Text ist auch bei EurActiv.de und Handelsblatt.com erschienen.