Das diesjährige Gipfeltreffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) in Tianjin war das bisher größte in ihrer Geschichte. Mehr als 20 Staatschefs und zehn Vertreter internationaler Organisationen nahmen an dem Gipfel teil. Während dieser SOZ+ hielt Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping eine Rede, in der er prominent die Global Governance Initiative (GGI) des Landes ankündigte. Entwicklung, Sicherheit, Zivilisation und Governance bilden für Peking die vier Säulen für den Aufbau einer »Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Zukunft der Menschheit« oder, konkreter, einer neuen Weltordnung. Daher ist es dringend geboten, dass Deutschland und Europa China in dieser Phase anhaltenden Umbruchs als globalstrategische Herausforderung begreifen.
Neben den gemeinsamen Treffen im Rahmen des SOZ-Gipfels am 31. August und 1. September 2025 in Tianjin ließ Staats- und Parteichef Xi Jinping eine ganze Reihe an offiziellen bilateralen Zusammenkünften organisieren. Sie unterstreichen zum einen den von Xi postulierten Inklusivitätsanspruch, das heißt die Gleichbehandlung großer (Indien oder Kasachstan) wie kleinerer (Armenien oder Belarus) Länder in der chinesischen Außenpolitik. Zum anderen bilden sie den Kern des chinesischen Multilateralismus mit dem Ziel, ein Netzwerk bilateraler Verbindungen zu schaffen. Beim Blick auf die beteiligten Länder fällt auf, wie sehr die chinesische Seite versucht, überregionale Verbindungen zu stärken und Marktzugänge für sich und andere zu schaffen. Beispiele dafür sind die Teilnahme von SOZ-Beobachterstaaten wie Armenien und Aserbaidschan, SOZ-Dialogpartnern wie Kambodscha und Myanmar oder Gaststaaten wie Vietnam und Indonesien. Besonders hervorzuheben ist auch die Teilnahme des indischen Premierministers Narendra Modi, dessen Land seit 2017 Vollmitglied der SOZ ist. Nach sieben Jahren Abwesenheit kann Modis Präsenz eine neuerliche Annäherungsphase in den chinesisch-indischen Beziehungen ebenso signalisieren wie den Versuch Pekings, Neu-Delhi aktiv in Chinas Ordnungsansatz einzubinden.
Xis Präsentation der Global Governance Initiative (GGI) hat somit ein Publikum aus sehr unterschiedlichen Regionen erreicht. Im Kern umfasst die GGI fünf Punkte. Erstens ist dies die Wahrung souveräner Gleichheit unabhängig von Größe sowie politischer oder wirtschaftlicher Stärke der jeweiligen Länder. Damit unterstreicht China, wie sehr es sich selbst und Länder des globalen Südens im gegenwärtigen System unterrepräsentiert sieht. Vor diesem Hintergrund betont Peking oftmals, eine »Demokratisierung der internationalen Beziehungen« sei notwendig. Die Umdeutung und Verwendung zentraler politischer Begriffe durch die chinesische Diplomatie ist gerade aus europäischer Sicht hier besonders zu beachten.
Zweitens fordert China Respekt vor dem internationalen Recht, der Charta der Vereinten Nationen (VN) und den allgemein anerkannten Grundnormen der internationalen Beziehungen. Diese grundsätzliche Anerkennung findet sich in vielen außenpolitischen Dokumenten wieder, etwa im Konzeptpapier der Globalen Sicherheitsinitiative (GSI) von 2023. Dort heißt es beispielsweise, dass Staaten Souveränität und territoriale Integrität sowie die Prinzipien der VN-Charta respektieren sollen. Zugleich sollen die Staaten aber auch die »legitimen Sicherheitsansprüche« aller Staaten ernst nehmen. Aus europäischer Sicht liest sich das oft widersprüchlich (siehe auch Kasten), im Kontext der GGI-Verkündigung unter anderem deshalb, weil Russland prominenter Teilnehmer des SOZ-Gipfels war.
Drittens bekundet China seinen Willen, multilaterale Kooperation als Fundament internationaler Beziehungen zu implementieren. Damit werden Kernprinzipien der chinesischen Belt and Road Initiative in die GGI überführt, und zwar der Dreiklang »gemeinsame Konsultationen, gemeinsame Beiträge, gemeinsame Vorteile«. Aus Chinas Sicht stehen diese Prinzipien im Kontrast zu den vom Westen oder den USA dominierten Entscheidungsprozessen: Sie weisen auf die geteilte Verantwortung aller im Gegensatz zu hegemonialem Zwang weniger hin und betonen Win-win-Kooperationen.
Viertens wird ein »menschenzentrierter« Ansatz befürwortet. Diese Formulierung ist tief im Jargon der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) verankert und wird hier auf die internationale Ebene übertragen. Mit dem Narrativ des menschenzentrierten Ansatzes markiert Peking eine Abkehr von Blockpolitik und legt den Fokus stattdessen auf zentrale Probleme der Menschheit, wie etwa Armutsreduzierung, Konnektivität, Gesundheit oder Klimaschutz. China präsentiert sich als Verfechter von Entwicklung für alle und stellt dies als zentrales Prinzip einer internationalen Ordnung vor, wie bereits zuvor im Rahmen seiner Globalen Entwicklungsinitiative.
Beispiel Xis »Vier Muss« (Sige Yinggai) Die »Vier Muss« führte Präsident Xi direkt nach dem Beginn von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ein, nämlich während eines Videogipfels mit den Staats- und Regierungschefs Frankreichs und Deutschlands. Es ist die bis heute kürzeste Darstellung der chinesischen Position. Sie beinhaltet erstens die Achtung der nationalen Souveränität und Integrität jedes Landes und zweitens den Respekt vor der Charta und den Prinzipien der VN. Drittens werden die legitimen Sicherheitsbedenken jedes Landes berücksichtigt. Viertens betont Xi, dass China eine friedliche Beilegung der »Krise« unterstützt. Die ersten beiden Punkte werden von der chinesischen Seite als »Prinzipien« der internationalen Ordnung angesehen, der dritte spiegelt die »Realität« derselben wider, der vierte bildet eher ein »zukünftiges Ziel oder Interesse«. Aus Sicht chinesischer Forscher beschreiben die »Vier Muss« vier Logiken der chinesischen Außenpolitik, die für den »umfassenden« Ansatz der Außenpolitik stünden. Selbst wenn die chinesische Seite auf den Widerspruch zwischen den »zwei Prinzipien« und »den legitimen Sicherheitsbedenken« hingewiesen wird, verweist sie auf den »umfassenden« Ansatz chinesischer Politik. In dieser Sichtweise handelt es sich daher nicht um Widersprüche oder gar Doppelstandards, sondern in erster Linie um verschiedene Logiken, die in der chinesischen Außenpolitik vereint werden. |
Fünftens genießt die Umsetzung der GGI Priorität. Nicht auf Rhetorik soll der Schwerpunkt liegen, sondern auf Ergebnissen. Hier schließt sich der Kreis zur SOZ, denn diese betrachtet Xi bereits als Ausdruck der Implementierung der GGI und als Vorbild dafür. Grundsätzlich ist Peking bestrebt, Kompatibilität mit chinesischen Vorstellungen und Normen in verschiedenen internationalen Kontexten herzustellen. So können chinesische Ideen und Konzepte als Basis für eine neue Weltordnung etabliert werden. Ferner stärkt die KPCh auch international ihre Autonomie als Impulsgeberin, vor allem gegenüber den USA und Europa.
Relevanz für Deutschland und Europa
Vor diesem Hintergrund sind das SOZ-Gipfeltreffen sowie Xi Jinpings Ankündigung der GGI in vielfacher Weise relevant für Deutschland und Europa. So sind von China angeführte Mechanismen oder Organisationen nicht mehr als reine »Diskussionsforen« (talking shops) abzutun. Die Führung der KPCh hat unter Xi ihre convening power stetig ausgebaut. Der Begriff bezeichnet hier Chinas Fähigkeit, verschiedene Staaten und Gruppen regelmäßig zu spezifischen Themen zu versammeln. Es handelt sich damit um eine Form von soft power, die im Gegensatz zu formaler Führung »neutrale« Diskussionsräume anbietet und lose Vereinbarungen hervorbringt. Sie ist eine Art Führung, die keine universellen (normativen) Bedingungen stellt. Convening power repräsentiert Führung ohne Übernahme von Verantwortung beispielsweise dafür, wie Akteure in anderen Kontexten auftreten und handeln, etwa Putins Russland in der Ukraine. Gerade im derzeitigen Interregnum der Weltordnung, in dem vormals etablierte Machtverhältnisse sich fragmentieren und althergebrachte Strukturen nicht mehr die gewohnte Sicherheit und Stabilität gewährleisten, wächst die Bedeutung von convening power. Im Interregnum entstehen Nischen, in denen Institutionen, Normen und Mechanismen nicht mehr funktionieren wie zuvor. Das eröffnet der chinesischen Regierung die Chance, ihre convening power auszuspielen und sich als verantwortungsvoller und inklusiver Makler der internationalen Ordnung oder ihrer Neugestaltung darzustellen. Beispielhaft dafür ist die Präsentation der SOZ als Ausdruck des »echten Multilateralismus« (zhenzheng duobian zhuyi), welcher auf der Gleichheit aller Länder beruht und sich von der US-Hegemonie ebenso abwendet wie von westlich-liberalen Doppelstandards.
Darüber hinaus kann die Ankündigungspolitik Xi Jinpings, vor allem auch in der Außenpolitik, nicht länger als Rhetorik »leerer Konzepte« abgetan werden. Hinter Chinas Globalen Initiativen stecken nicht nur kohärente Erzählungen, sondern auch knallharte Interessenpolitik. Wie Xi auf dem SOZ-Gipfel nochmals deutlich gemacht hat, geht es Peking im Kern darum, das globale Governance-System umzugestalten. Mit anderen Worten: Das VN-System soll chinesischen Vorstellungen angepasst und eigene Prinzipien wie Rechtsvorstellungen sollen etabliert werden. Das ist keine leere Drohung, sondern ein bereits stattfindender Veränderungsprozess. In den letzten fünf Jahren hat Xi die Säulen dieser neuen Ordnungsvorstellungen mit den vier Globalen Initiativen für Entwicklung, Sicherheit, Zivilisation und jetzt Governance skizziert und untermauert. Prominent platziert werden sie auf jedem Gipfeltreffen, an dem Xi teilnimmt, bei all seinen bilateralen Zusammenkünften, aber auch in den vielen internationalen Public-Diplomacy-Veranstaltungen, die chinesische Thinktanks ausrichten. Hier greifen convening power und Diskursmacht ineinander. Schon jetzt sind die Effekte chinesischer Diskursmacht erkennbar, vor allem der Aufbau eines eigenständigen internationalen Diskurssystems, das langfristig Inhalte des Völkerrechts, aber auch Begriffe wie Entwicklungs- und Technologiepolitik uminterpretiert.
Chinas neue imperiale Qualität
Chinas Diskurse und Praktiken unter Xi weisen imperiale Qualität auf. »Imperial« wird dabei weniger in einem rein militärisch-expansiven Sinne verstanden, sondern bezeichnet hier vor allem die subtile Produktion von Zentrum-Peripherie-Beziehungen, die auf lange Sicht dazu beitragen, Autonomie und Sicherheit des Parteistaates zu wahren. In diesem Verständnis bildet die KPCh bzw. geographisch gesehen die Volksrepublik China das Zentrum. Peripherien stimmen dagegen selten mit den Grenzen anderer Nationalstaaten überein. Im hier dargelegten Sinne beschreibt der Begriff Peripherie nicht zwingend Räume, die geographisch nah beim Zentrum liegen. Vielmehr sind Peripherien als kleinere Einflussräume ganz unterschiedlicher Form und Ausdehnung zu verstehen. Als Beispiel dienen kann hier die Kontrolle chinesischer Akteure über digitale, wirtschaftliche und finanzielle Infrastrukturen in anderen Nationalstaaten oder über transnationale Liefer- oder Wertschöpfungsketten.
Der SOZ-Gipfel spiegelt verschiedene Facetten dieser neuartigen Imperialität wider. Als erste hier zu nennen wäre die wachsende chinesische Kontrolle über Wirtschaftsstrukturen und weitere Infrastrukturen in den Staaten der Region durch Angebote, die von China finanziell gestützt werden. Ein Beispiel dafür ist die Gründung einer SOZ-Entwicklungsbank, die es sanktionierten und nicht sanktionierten Mitgliedstaaten ermöglicht, Mittel über eine multilaterale Institution (in der chinesischen Währung Renminbi, RMB) zu kanalisieren. Ferner stellt China in den nächsten drei Jahren zusätzliche Kredite von 10 Milliarden RMB an die Mitgliedsbanken des SOZ Interbank Consortium (SCO IBC) bereit. Zudem stellt Xi den SOZ-Mitgliedstaaten in Aussicht, Chinas Satellitennavigationssystem BeiDou zu nutzen, als Alternative zum von den USA kontrollierten GPS-System.
Die zweite Facette von Chinas neuer Imperialität ist die strategische Etablierung informeller Zugänge zu jenen Teilnehmerstaaten des SOZ-Gipfels und dabei vor allem zur Politik- und Wirtschaftselite, die bereit sind, chinesischen Akteuren teilweise die Kontrolle über nationale (oder lokale) Wirtschaftsprozesse einzuräumen. Überdies stärken die immer wiederkehrenden Begegnungen am Rande der SOZ-Gipfel (oder anderer China-plus-x-Formate) die transnationale Verbindung chinesischer Akteure oder Firmen mit lokalen Partnern. Wesentlich in diesem Kontext sind aber auch zusätzliche auf Unternehmen bezogene Mechanismen der SOZ. Zum Beispiel wurde schon am 17. Juli 2025, also sechs Wochen vor dem Gipfel in Tianjin, ein Treffen des Business Forum der SOZ mit etwa 400 Wirtschafts- und Regierungsdelegierten veranstaltet. Der Fokus lag dieses Mal besonders auf der grünen Transformation im Energiesektor – ein wichtiges Thema auch auf dem Gipfel. Bereits am 6. September kamen in Wladiwostok die SOZ-Wirtschaftsminister nochmals zusammen, um die Ergebnisse des soeben beendeten Gipfels zu untermauern. Innerhalb der SOZ sind mittlerweile unzählige weitere Konsortien und Foren entstanden, in deren Rahmen sich unterschiedlichste Akteure regelmäßig treffen.
Als dritte Facette der neuen Imperialität Pekings kann das Ziel gelten, ein stetig wachsendes Netzwerk bilateraler Partnerschaften aufzubauen. Es geht nicht darum, neue Allianzen zu schmieden, sondern vielmehr spezifische Privilegien für unterschiedliche Partner zu definieren. In Frage kommt hier zum Beispiel, der SOZ-Entwicklungsbank oder dem SCO IBC Ressourcen bereitzustellen oder im Rahmen der SOZ-Umweltkooperation den Zugang zu bestimmten Technologien zu gewähren. Deshalb sind bilaterale Treffen auf multilateralen Gipfeln äußerst bedeutsam für die chinesische Regierung. Außerdem ersetzt diese chinesische Praxis des »Teile und herrsche« an vielen Stellen die traditionelle Politik des Mächtegleichgewichts. Die Vorteile für Peking sind dabei nicht immer sofort messbar. Manchmal entstehen sie beispielsweise dadurch, dass andere Staaten das »Ein-China-Prinzip« unterstützen, welches die chinesische Führung als international anerkannte Norm zu etablieren versucht. In diese Richtung deuten lassen sich etwa Äußerungen des armenischen Premierministers Nikol Paschinjan am Rande des Gipfels, nachdem Xi eine strategische Partnerschaft zwischen den beiden Ländern angekündigt hatte.
Die vierte Facette der neuartigen Imperialität offenbart sich in Pekings Fähigkeit, bestimmte Ideen zu verbreiten und deren Akzeptanz bei anderen zu befördern. Auffallend ist dabei die hohe inhaltliche Kohärenz außenpolitischer Konzepte, wie Chinas Globale Initiativen unterstreichen. Auch während des SOZ-Gipfels ließ Xi Jinping keinen Zweifel daran aufkommen, dass er eine Vision für die Welt hat. Der Schwerpunkt liegt darauf, das VN-System umzuformen und damit letztlich den globalen Kontext zu verändern, in dem internationale Politik stattfindet. Das kann als Versuch gewertet werden, Chinas Praktiken im Hinblick auf das Südchinesische Meer, Taiwan, aber auch die Arktis sowie in einer Vielzahl techn(olog)ischer Kontexte zu legitimieren.
Lehren für Deutschland und die EU
Vor diesem Hintergrund wird klar, dass die deutsche und europäische Sicht auf China ausgeweitet werden muss. In den deutschen und europäischen Beziehungen mit China dominieren inhaltlich (im weitesten Sinne) drei Kernbereiche. Erstens geht es der EU wie Deutschland darum, die Grundsätze fairen Handels zu verteidigen. Daher zielen neuere EU-Instrumente wie zum Beispiel Antisubventions- und Antidumpingzölle oder die Verordnung über drittstaatliche Subventionen darauf ab, sich auch gegen unfaire chinesische Praktiken zu wehren. Weiterhin thematisieren deutsche wie europäische Akteure bei den Treffen mit der chinesischen Gegenseite auf allen Ebenen stets die hohen Hürden, die europäische Unternehmen beim Zugang zum chinesischen Markt überwinden müssen. Nachhaltige Zugeständnisse gibt es von chinesischer Seite kaum, denn wenn Beschränkungen aufgehoben werden, wird dies meist durch neue regulative Anforderungen an ausländische Unternehmen ausgeglichen. Zweitens müssen einseitige Abhängigkeiten identifiziert und reduziert werden. Das gilt beispielsweise für Chinas Monopol bei der Verarbeitung kritischer Rohstoffe oder spezifischer die globale Dominanz Chinas in der Batterielieferkette. Drittens weisen deutsche und europäische Entscheidungsträger immer wieder auf die engen chinesisch-russischen Beziehungen hin. Sie kritisieren sowohl die (geo)politische Annäherung zwischen den beiden Ländern als auch chinesische Exporte von Dual-use-Gütern nach Russland, die von der chinesischen Regierung nicht unterbunden werden. Diese dreifache thematische Fokussierung ist mit Blick auf deutsche und europäische Interessen wichtig im Umgang mit China. Priorisierung bündelt Kapazitäten und Ressourcen.
Allerdings besteht die Gefahr, dass die globalstrategische Ebene in der Auseinandersetzung mit China vernachlässigt wird. Zu viel Konzentration auf die drei Kernbereiche, die für sich schon komplex sind, vermindert die Fähigkeit, das große Ganze zu erfassen. Mit anderen Worten: Der Wald (Chinas globale Ansprüche und Anzeichen einer neuartigen Imperialität) ist vor lauter Bäumen (Kernbereiche) nicht mehr zu sehen. Deshalb besteht die Kunst für deutsche und europäische Politik darin, nicht das eine gegen das andere auszuspielen, sondern Prioritäten im Umgang mit China zu setzen und zugleich die globalstrategische Bedeutung Chinas mitzudenken.
Denn Xi Jinpings Ideen und Initiativen prägen und formen schon heute Prinzipien des Interregnums. Für Nostalgie über die alte, liberale Weltordnung bleibt Deutschland und Europa keine Zeit. Xis Politik verändert oder ersetzt bereits die Funktion zentraler Elemente der traditionellen liberalen Weltvorstellung. So spricht sich China zwar ebenfalls für eine völkerrechtsbasierte Ordnung aus, will aber Bestandteile des Völkerrechts in seinem Sinne modifizieren. Des Weiteren führt es neue Prinzipien ein, etwa die Pflicht, legitime Sicherheitsbedenken aller Staaten anzuerkennen, wenn diese auch die Integrität Dritter verletzen. Das Interregnum ist eine substantielle Herausforderung für deutsche und europäische Ansichten darüber, welche Komponenten der regelbasierten Ordnung zukünftig noch zu halten oder zu erneuern sind. Der Umgang mit Chinas Ideen und Initiativen ist aufs engste damit verknüpft. Zwar ist die Priorisierung deutscher und europäischer Chinapolitik in den konkreten, bilateralen Beziehungen unverändert wichtig. Darüber hinaus bedarf es aber einer dauerhaften, in den Regierungen und Administrationen verankerten strategischen Auseinandersetzung mit chinesischen Ordnungsdiskursen und -praktiken. Diplomatie dient immer auch der Informationsbeschaffung. Deshalb sollten deutsche wie europäische Vertreter – zumindest der zweiten oder dritten politischen Ebene – an Gipfeln teilnehmen, die von China initiiert werden. Europäische Forscher und Forscherinnen sollten sich zudem an Public-Diplomacy-Veranstaltungen in China beteiligen, um europäische Sichtweisen und Narrative dort nachdrücklicher zu vertreten. Über die Priorisierung konkreter Interessen im Umgang mit chinesischen Akteuren hinaus muss Europas Diplomatie China endlich auch im globalstrategischen Sinne die notwendige Aufmerksamkeit einräumen.
Dr. Nadine Godehardt ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Asien. Dr. Maximilian Mayer ist Junior-Professor für Internationale Beziehungen und globale Technologiepolitik an der Universität Bonn.
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DOI: 10.18449/2025A43