Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union streiten wieder einmal über Geld. Genauer gesagt darüber, wie viel Geld sie für Verteidigung zahlen wollen, woher dieses Geld kommen soll und ob sie es gemeinsam ausgeben möchten. Unstrittig ist in Brüssel und den Hauptstädten, dass Europa sich besser verteidigen muss. Trotz vieler Diskussionen, Gipfelbeschlüsse, Dokumente und Initiativen ist noch immer offen, für welche Ziele und in welcher Form die EU finanzielle Aufwendungen für eine bessere europäische Verteidigungsfähigkeit aufbringen sollte. Neben frischem Geld ist vor allem eine Verständigung auf gemeinsame europäische Aufgaben und Ziele erforderlich. Auf deren Basis wäre es dann möglich, die militärische Unterstützung für die Ukraine fortzusetzen und zu verstärken, einen Binnenmarkt für Rüstungsgüter und ‑dienstleistungen zu schaffen und diese dann zumindest teilweise aus dem EU-Budget zu finanzieren.
Zu der Überzeugung, dass die Europäer ihre verteidigungs- und rüstungspolitischen Anstrengungen deutlich steigern müssen, waren die EU-Mitgliedstaaten bereits 2016 gelangt. In dem Jahr stellte der neu gewählte amerikanische Präsident Donald Trump erstmalig die US-Sicherheitsgarantien für Europa offen in Frage. Die EU-27 setzten auf mehr Eigenständigkeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO), einer koordinierten Jährlichen Überprüfung der Verteidigung (CARD) und einem Europäischen Verteidigungsfonds (EDF) sollten Fähigkeitsdefizite gemeinsam behoben, die operative Zusammenarbeit der Streitkräfte verbessert und die europäische Verteidigungsindustrie gestärkt werden.
In Reaktion auf Russlands Vollinvasion der Ukraine verabschiedeten die EU-Staaten im März 2022 ihre erste eigenständige verteidigungspolitische Strategie, den Strategischen Kompass. Darin verpflichten sie sich, ihre militärische Handlungsfähigkeit bis 2030 erheblich auszubauen. Neben der kontinuierlichen Erhöhung der Verteidigungshaushalte gilt jeweils als Quantensprung, dass die EU-Staaten erstmals tödliche Waffen in ein Land im Krieg lieferten und den Beschluss fassten, ukrainische Soldatinnen und Soldaten auszubilden, die anschließend in Kampfhandlungen verwickelt sein werden. Die Europäische Kommission griff auf Haushaltsmittel der Union zurück, um die gemeinsame Beschaffung militärischen Geräts zu finanzieren.
Steigender Druck – schwache Antwort
Zwei Entwicklungen ist es geschuldet, dass viele EU-Staaten ihre nationalen Verteidigungsausgaben 2025 noch einmal drastisch steigern wollen und dass auch die EU ihre Mitglieder dabei zu unterstützen trachtet, genügend Ausrüstung in höherem Tempo bereitzustellen: Zum einen sind sich europäische Geheimdienste einig, dass Russland in etwa fünf Jahren in der Lage sein wird, einen konventionellen Krieg gegen Europa zu führen. Zum anderen werden die Konturen einer isolationistischen Politik der USA für Europa klarer: Washington löst sich von der europäischen Nachkriegsordnung und schreckt nicht davor zurück, die europäischen Partner sicherheitspolitisch zu erpressen. Zum Nato-Gipfeltreffen Ende Juni 2025 drängte Präsident Trump die Partner, die Ausgaben für ihre Verteidigung bis 2035 auf jährlich 5% ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu erhöhen. Zuvor hatte US-Verteidigungsminister Pete Hegseth bei einem Treffen der Nato-Verteidigungsminister im Februar 2025 erklärt, die USA würden keine eigenen Truppen in die Ukraine entsenden, um eine Waffenruhe oder Friedenslösung abzusichern. Dies sei allein Aufgabe der Europäer – die diesen Einsatz zudem außerhalb der Nato organisieren müssten.
Dieser doppelte Handlungsdruck brachte die Staats- und Regierungschefs der EU Anfang März 2025 dazu, die »Mobilisierung der erforderlichen Instrumente und Finanzmittel [zu] beschleunigen, um die Sicherheit der Europäischen Union und den Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger zu erhöhen«. Sie beschlossen, die Luft- und Raketenabwehr ebenso auszubauen wie den Bestand an Artilleriesystemen, Flugkörpern und Munition sowie Drohnen und Drohnenabwehrsystemen. Auch wollen sie strategische Unterstützungssysteme (Enabler) für den Schutz im Weltraum und von kritischen Infrastrukturen beschaffen sowie die militärische Mobilität, die Cyberabwehr und die Nutzung künstlicher Intelligenz für die elektronische Kampfführung verbessern. Darüber hinaus verpflichteten sie sich, ihre strategischen Abhängigkeiten von den USA zu verringern sowie die technologische und industrielle Basis der europäischen Verteidigung in der gesamten Union zu stärken.
Im Juni 2025 bekräftigte der Europäische Rat erneut den Willen, die Verteidigungsausgaben maßgeblich aufzustocken, die Anstrengungen zu beschleunigen und die eingegangenen Verpflichtungen untereinander besser zu koordinieren.
Die EU-Kommission trat ihrerseits im Oktober 2023 mit dem Instrument zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie durch gemeinsame Beschaffung (EDIRPA) in Erscheinung. Das Programm ist mit einem überschaubaren Gesamtvolumen von 300 Mio. Euro bis Ende 2025 ausgestattet. Gefördert wird die Zusammenarbeit von Mitgliedstaaten bei Maßnahmen für Auf- und Ausbau von Produktionskapazitäten europäischer Unternehmen der Verteidigungsindustrie und der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit sowie bei der gemeinsamen Beschaffung von Verteidigungsgütern. Anhand von Aktionsplänen versucht die Kommission seit 2018, die Beweglichkeit militärischen Personals und Materials zu verbessern. Gemäß dem Aktionsplan zur militärischen Mobilität 2.0 für die Jahre 2022–2026 investieren die EU und ihre Mitgliedstaaten in multimodale Korridore und Logistik-Drehkreuze, unterstützen die Digitalisierung von Verwaltungsprozessen, den Schutz der Verkehrsinfrastruktur und vor Cyberangriffen sowie die Stärkung der Zusammenarbeit mit Partnern in der Nato und anderen regionalen Partnern. Über die Connecting-Europe-Fazilität wurden diese Verkehrsinfrastrukturprojekte mit doppeltem Verwendungszweck (dual use) mit 1,69 Mrd. Euro aus dem EU-Budget finanziert.
Zuletzt hat die Europäische Kommission im März 2024 eine europäische Industriestrategie für den Verteidigungsbereich vorgelegt. Darin fordert sie die schnelle und massive Verbesserung der europäischen Verteidigungsfähigkeit durch private und öffentliche Investitionen und vor allem einen grundsätzlichen Wandel in der europäischen Verteidigungs- und Rüstungsindustrie. Das European Defence Industry Programme (EDIP) soll dazu dienen, in der EU mehr, besser und gemeinsam in den Ausbau der Verteidigungsindustrie zu investieren. Hierfür sollen interoperable und austauschbare Verteidigungsfähigkeiten gefördert, die Zertifizierung von Rüstungsgütern erleichtert und eine gemeinsame Programmplanung und Beschaffung organisiert werden.
Bereitschaft 2030 und Weißbuch zur europäischen Verteidigung
Derzeit schützt das europäische Primärrecht (Art. 346 AEUV) die nationale Autonomie der Mitgliedstaaten bei wesentlichen Fragen ihrer Sicherheit, »soweit sie die Erzeugnisse von Waffen, Munition und Kriegsmaterial oder den Handel damit betreffen«. Vor allem bei Ausschreibungen und der Vergabe von Rüstungsaufträgen und damit bei der Beschaffung von Rüstungsgütern und -dienstleistungen verfolgen sie in der Regel eigene industriepolitische Interessen. Die Mitgliedstaaten bestimmen weitgehend die Größe ihrer nationalen Märkte; sie vergeben Exportlizenzen, geben Richtung und Maß der Entwicklung von Innovationen und neuer Produkte vor und schützen ihre nationalen Unternehmen vor interner und internationaler Konkurrenz. Die Märkte für Rüstungsgüter unterliegen hohen Anforderungen der Vertraulichkeit sowie dauerhafter Liefer- und Servicegarantien. Meist sind die Rüstungsgüter keine standardisierten Massenprodukte. Die Produktionsvolumina sind klein und können durch Exportrestriktionen weiter begrenzt werden. Als vorrangige Auftraggeber und Kunden der Rüstungsunternehmen definieren die Nationalstaaten den Bedarf und folglich auch die Produktion militärischer Güter.
Gleichwohl schlug die Europäische Kommission im März 2025 den Plan ReArm Europe vor. Das Programm wurde später in »Bereitschaft 2030« umbenannt und enthält fünf Maßnahmen: (1) Es gestattet den Mitgliedstaaten, die nationale Ausweichklausel des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu aktivieren. Damit wird ihnen haushaltspolitischer Spielraum gewährt, mehr öffentliche Mittel für die Verteidigung zu verwenden. Laut Berechnungen der Kommission beläuft sich dieser auf knapp 650 Mrd. Euro für die 27 EU-Staaten. Doch bislang haben erst 15 Länder von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. (2) Mit Hilfe des Instruments SAFE – Sicherheitsmaßnahmen für Europa leiht die EU-Kommission im Namen der EU bis zu 150 Milliarden Euro auf Kapitalmärkten. Als langfristige Darlehen stellt sie dieses Geld jenen Mitgliedstaaten zur Verfügung, die »bereit sind, in die industrielle Produktion im Verteidigungsbereich durch gemeinsame Beschaffung mit dem Schwerpunkt auf vorrangigen Fähigkeiten zu investieren«. (3) Den Mitgliedstaaten bietet die Kommission an, sich darüber auszutauschen, wie mehr Mittel des EU-Haushalts Verteidigungszwecken dienen können. Die kohäsionspolitischen Programme könnten für Verteidigungs- oder zumindest Dual-use-Ausgaben genutzt werden. (4) Um weitere umfassende Finanzmittel zu generieren, soll auch die Europäische Investitionsbank-Gruppe den Umfang ihrer Kreditvergabe auf Verteidigungs- und Sicherheitsprojekte ausweiten. (5) Schließlich sieht der Plan vor, privates Kapital für Verteidigung zu mobilisieren.
Gemeinsam mit der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik veröffentlichte die EU-Kommission am 19. März 2025 das Weißbuch zur europäischen Verteidigung – Bereitschaft 2030. Darin werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, mindestens 40% ihrer Beschaffungen gemeinsam zu tätigen. Darüber hinaus sollen sie die Integration der europäischen und ukrainischen Verteidigungsindustrie vertiefen und einen Rüstungsbinnenmarkt schaffen. Die Kommission verpflichtet sich ihrerseits, einen strategischen Dialog mit der Rüstungsindustrie zu führen, Industrieprogramme zu straffen und einen rüstungstechnologischen Fahrplan für Investitionen in fortgeschrittene technologische Fähigkeiten mit doppeltem Verwendungszweck zu erarbeiten. Unter der Überschrift »Omnibus für die Verteidigungsbereitschaft« präsentierte die Kommission schließlich am 17. Juni 2025 Maßnahmen, die gemeinsame Investitionen in Verteidigungsfähigkeiten erleichtern, der Industrie mehr Vorhersehbarkeit bieten und den Zugang zu EU-Mitteln vereinfachen sollen.
Geld für welche Ziele?
Offen bleibt indes, für welche Ziele diese stark erhöhten finanziellen Aufwendungen genutzt werden sollen. Fünf unterschiedliche Aufgaben werden mit wechselnder Dringlichkeit diskutiert.
Erste Aufgabe: Militärische Unterstützung für die Ukraine
Seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine steht die EU fest an Kyjiws Seite. Sie unterstützt das angegriffene Land, mit dem sie seit Juni 2024 Verhandlungen über den Beitritt führt, durch politische, humanitäre, militärische und finanzielle Hilfen. Angesichts der russischen Entschlossenheit, den Krieg weiterzuführen, bedarf die Ukraine fortgesetzten und verstärkten Beistands ihrer europäischen Partner. Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben bislang rund 60 Mrd. Euro an Militärhilfe für die Ukraine mobilisiert. Davon wurden bis 2024 über die Europäische Friedensfazilität mehr als 6 Mrd. Euro für die Lieferung militärischer Ausrüstung finanziert. Ein zusätzlicher Unterstützungsfonds für die Ukraine stellt 5 Mrd. Euro für Schutzausrüstungen, Treibstoff, Munition und Flugkörper bereit. Darüber hinaus hat die europäische Verteidigungsindustrie ihre Kapazitäten für die Munitionsproduktion um 40% erhöht. Über die Verordnung zur Förderung der Munitionsproduktion (ASAP) vom Juli 2023 wurden 500 Mio. Euro aus dem EU-Haushalt mobilisiert, um den Ausbau der Produktionskapazitäten für die Herstellung von Boden-Boden- und Artilleriemunition sowie von Flugkörpern zu fördern. Im Rahmen der Ausbildungsmission EUMAM UA (European Union Military Assistance Mission Ukraine) wurden über 78.000 ukrainische Soldatinnen und Soldaten in taktischer und operativer Kriegsführung geschult und an modernem Kampfgerät ausgebildet.
Die EU geriet zusätzlich unter Druck, weil die USA ihre militärischen Hilfen für die Ukraine spürbar reduzieren. Im März und April 2025 hat Washington erstmals keine neue Unterstützung geleistet, im Juli wurden bereits vereinbarte Waffenlieferungen gestoppt, dann aber wieder genehmigt. Vor allem Fähigkeiten der Aufklärung oder der strategischen Luftverteidigung, welche die Ukraine dringend benötigt, sind in den EU-Staaten kaum vorhanden.
Zweite Aufgabe: Vorbereitung von Sicherheitsgarantien für Kyjiw
Zwar zeichnet sich aktuell kein Waffenstillstand und erst recht kein Friedensplan zwischen Russland und der Ukraine ab, doch hat die amerikanische Administration bereits klargemacht, dass die Europäer eine mögliche Waffenstillstandsvereinbarung militärisch absichern und die Ukraine durch umfangreiche Sicherheitsgarantien schützen sollen. Spekuliert wird über eine europäische Friedenstruppe in einer Größenordnung von 40.000 Mann. Der ukrainische Präsident Selenskyj nannte gar eine Truppenstärke von 200.000 Mann.
Um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, müssten die EU-Staaten ihre Streitkräfte zahlenmäßig wesentlich vergrößern. In Deutschland etwa stagniert der Aufwuchs der Streitkräfte seit Jahren. Die Personalstärke der Bundeswehr steigt nicht deutlich über 182.000 Soldatinnen und Soldaten. Schon die dauerhafte Stationierung einer 5000 Mann starken Brigade in Litauen bedeutet einen Kraftakt für Bundeswehr. Darüber hinaus müssten die EU-27 ihre militärische Zusammenarbeit erheblich ausweiten und ihre rüstungspolitische Fragmentierung überwinden. Andernfalls kämen Wartung und Instandhaltung ihrer militärischen Fähigkeiten einer logistischen Herkulesaufgabe gleich.
Dritte Aufgabe: Die USA in Europa halten
Zahlreiche Mitgliedstaaten sehen es als ihr vitales Interesse an, die USA in Europa zu halten. Die Mehrheit der europäischen Nato-Staaten ist bereit, die Forderung des US-Präsidenten zu erfüllen, 5% ihres BIP für Verteidigung aufzuwenden. Das zeugt davon, wie gewichtig für die Europäer die Sicherheitsgarantien sind, welche die USA ihren europäischen Partnern durch die Stationierung von bis zu 100.000 Soldatinnen und Soldaten in Europa sowie durch die nukleare Teilhabe in der Nato bieten. Bis heute folgen die Europäer im Rahmen der Allianz amerikanischen Vorgaben für Strategie und Fähigkeiten. Um mit den USA militärisch interoperabel zu sein, kaufen die Europäer einen Großteil ihrer militärischen Fähigkeiten dort. Wie zu Beginn des Ukraine-Krieges, als europäische Staaten etwa 63% ihrer zusätzlich benötigten Rüstungsgüter in den USA erwarben, halten zahlreiche EU-Staaten daran fest, sich verfügbare Fähigkeiten in Amerika zu besorgen und so die transatlantischen Beziehungen zu pflegen.
Vierte Aufgabe: Die Verteidigung Europas ohne die USA
Mit ihrem drastischen Kurswechsel hat die Trump-Administration die Koordinaten der europäischen Sicherheitsordnung durcheinandergeworfen. Noch immer sendet sie widersprüchliche Signale an ihre Verbündeten, vor allem mit Blick auf Verlässlichkeit und Dauerhaftigkeit des amerikanischen Engagements in Europa sowie ihr Festhalten am Nato-Konsens zu Russland und der Ukraine.
Wie weit die Überzeugung in einigen EU-Ländern reicht, sich auf einen Rückzug der USA aus Europa vorbereiten zu müssen, zeigt die Debatte über eine eigenständige nukleare Abschreckung in Europa. Ein kompletter Ersatz amerikanischer militärischer Fähigkeiten würde den Europäern bereits im konventionellen Bereich weitere, immense Steigerungen der Verteidigungsausgaben abverlangen. Darüber hinaus muss die politische Bereitschaft vorhanden sein, strategische Ziele und Prioritäten künftig zwischen den Europäern abzustimmen. Es gilt dann festzulegen, in welchem institutionellen Rahmen – intergouvernemental oder supranational, in der Nato oder in der EU – eine kontinuierliche verteidigungs- und rüstungspolitische Koordinierung stattfinden soll.
Fünfte Aufgabe: Langfristiges Ziel Europäische Verteidigungsunion
Die USA als Garanten der europäischen Sicherheitsordnung zu ersetzen ist eine ebenso langfristige Aufgabe wie eine europäische Verteidigungsunion aufzubauen. Derzeit ist dieses Politikfeld noch weit von einer supranationalen Lenkung entfernt. Die Mitgliedstaaten genießen im Verteidigungsbereich weitgehende Handlungsfreiheit und verfolgen zunächst ihre nationalen Interessen; allenfalls koordinieren sie sich intergouvernemental. Dieser Praxis versucht die EU-Kommission entgegenzuwirken. Seit Jahrzehnten bemängelt sie die Unzulänglichkeiten, Schwächen und die Fragmentierung der europäischen Märkte für Rüstungsgüter und -dienstleistungen; immer wieder drängt sie auf die Schaffung und Regulierung eines europäischen Marktes für Verteidigungsgüter – ohne jedoch mit ihren Reformüberlegungen durchzudringen. Die EU-Kommission strebt an, europäische Vernetzung und engere rüstungspolitische Kooperation zu fördern. Ihre Ziele lauten bessere Interoperabilität der Rüstungsgüter, geringere Opportunitätskosten und Doppelausgaben sowie höhere Skaleneffekte. Auf die EU-Mitgliedstaaten werden immense Kosten für den Auf- und Ausbau ihrer Verteidigungsfähigkeit zukommen und den Druck auf die nationalen Haushalte steigen lassen. Angesichts dessen betrachtet die Kommission eine supranationale Europäisierung der Rüstungsgüterindustrie als unausweichlich. Ein erster wesentlicher Schritt zu einer Verteidigungsunion wäre also, einen Verteidigungsbinnenmarkt zu schaffen. Er gäbe der EU-Kommission Zugriff auf ein Politikfeld, das ihr gemäß den EU-Verträgen bis dato verschlossen ist.
Geldsegen mit Prioritäten verbinden
Der Blick auf diese unterschiedlichen Ziele zeigt, dass die Aufrüstung europäische Konturen benötigt – im Sinne einer funktionalen Priorisierung, einer sachgerechten Sequenzierung und des bestmöglichen institutionellen Gefüges.
Erster Schritt: Unterstützung für die Ukraine
Die wichtigste Aufgabe der Europäer besteht nach wie vor darin, der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen Russland Beistand zu leisten. Die Unsicherheiten hinsichtlich Washingtons Unterstützung für Kyjiw erhöhen den Druck auf die Europäer, ihre militärischen Hilfen auszuweiten. Bisher nutzte die EU die Europäische Friedensfazilität, um jene Mitgliedstaaten finanziell zu entschädigen, die ihre Waffen und ihre Munition an die Ukraine abgegeben haben. Dieses haushaltsexterne Instrument geriet in die Kritik, weil einige Mitgliedstaaten die Kompensationen nutzen, um der Ukraine veraltetes Gerät zu liefern und sich aus der Fazilität neue Fähigkeiten ersetzen zu lassen. Inzwischen haben zahlreiche Rüstungsunternehmen ihre Produktion in die Ukraine verlegt und kooperieren mit einheimischen Unternehmen. Die EU-Kommission hat Vorschläge unterbreitet, die ukrainische Rüstungsindustrie eng mit der europäischen zu verzahnen. Mit dieser Vorgehensweise sollen nach den Vorstellungen der Kommission weitere Skaleneffekte bei jenen Fähigkeiten erzielt werden, die für den Abwehrkampf gegen Russland benötigt werden. Auch sollen so die Kosten für die Unterstützung der Ukraine gesenkt werden.
Noch immer aber variiert das Ausmaß der Hilfe zwischen den Mitgliedstaaten stark. Daher gelingt es Russland schneller als der Ukraine, sich mit wichtigen Fähigkeiten auszustatten.
Für einen Wandel wäre es kurzfristig wichtig, die anstehenden Haushaltsverhandlungen in der EU zu nutzen, um das Finanzvolumen der Europäischen Friedensfazilität zu vergrößern und überdies die Mitgliedstaaten zu verpflichten, einen Teilbetrag ihrer verteidigungspolitischen Mehrausgaben in die Fazilität fließen zu lassen. So ließen sich die regelmäßig schwierigen Verhandlungen im Rat über die Aufstockung der Finanzausstattung der Fazilität wenigstens teilweise umgehen. Auch könnte die EU-Förderung für ASAP aus dem EU-Haushalt angehoben werden. Beide Maßnahmen könnten die EU in die Lage versetzen, in den USA militärische Fähigkeiten einzukaufen, die Kyjiw dringend benötigt.
Zweiter Schritt: EU-Rüstungsbinnenmarkt schaffen
Die Mitgliedstaaten sollten bereit sein, einen Binnenmarkt für Rüstungsgüter und ‑dienstleistungen zu schaffen. Darin sollten europäische Wettbewerbs- und Beihilferegeln sowie transparente Kriterien für öffentliche Ausschreibungen und die Auftragsvergabe gewährleistet werden. Kosten- und Preisstrukturen bei Rüstungsaufträgen sollten nachvollziehbarer gestaltet, die abgeschotteten nationalen Rüstungsmärkte für neue (und häufig innovativere) europäische Anbieter geöffnet werden. In einem gemeinsamen Markt könnten die Produktionszahlen gesteigert und die Skalenerträge der Rüstungsproduzenten verbessert werden. Darüber hinaus sollte die Möglichkeit eröffnet werden, rüstungsindustrielle Vorprodukte leichter innerhalb der EU zu erwerben, um so den grenzüberschreitenden Wettbewerb in diesem Binnenmarkt zu verstärken.
Eine Europäisierung müsste demzufolge mit einer Öffnung der nationalen Rüstungsmärkte einhergehen und die Liberalisierung des innergemeinschaftlichen Handels einschließen. Mit Blick auf die Exporte in Drittstaaten müssten die Richtlinien für jene Rüstungsgüter harmonisiert werden, die in der EU produziert werden. Auch dies könnte helfen, bei europäischen Rüstungsproduzenten mehr Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft zu erzeugen.
Bislang verweigern sich die Mitgliedstaaten diesen Schritten und achten streng auf ihre nationalen Spielräume. Nach wie vor verfehlen die ökonomischen und industriepolitischen Anreize der EU-Kommission ihre Ziele. Besonders bei ihren Kooperationsanforderungen macht sie Zugeständnisse und reduziert die Anforderungen an eine konsortiale Zusammenarbeit der Unternehmen. Dennoch: Allein ein europäischer Binnenmarkt für Rüstungsgüter eröffnet den EU-Staaten die Chance, kritische Fähigkeitslücken schnell und kostengünstiger zu schließen. Die EU-Kommission würde ein solcher Binnenmarkt in die Lage versetzen, im gemeinsamen europäischen Interesse steuernd in die Planung, Entwicklung und Beschaffung einzugreifen.
Von der Stärkung verteidigungspolitischer Zuständigkeiten und rüstungspolitischer Regulierungsmöglichkeiten der EU könnten auch die Partnerschaftsabkommen profitieren, welche die EU-Kommission jüngst mit Kanada, Japan, Südkorea und dem Vereinigten Königreich geschlossen hat. Je stärker die rüstungsindustrielle Basis der Europäer, desto größer ist das Interesse der Partnerstaaten. Mit Binnenmarktvorgaben der EU-Kommission sowie durch Öffnung und Transparenz der nationalen Rüstungsmärkte ließen sich im besten Falle Standardisierungen vorgeben. Sie könnten auf lange Sicht für bessere Interoperabilität zwischen den Streitkräften der EU-Mitgliedstaaten und denen ihrer Partner sorgen.
Ein gemeinsames Vorgehen gleichgesinnter Staaten könnte nicht nur in politischer, sondern auch in rüstungsindustrieller Hinsicht dabei helfen, einen möglichen Rückzug der USA aus Europa abzufedern. Wenn die Europäer energischer auf ihre Eigenständigkeit pochen, könnte dies vielleicht die USA dazu bringen, ihren für europäische Wettbewerber bisher geschlossenen Rüstungsmarkt zu öffnen und den Weg für einen transatlantischen Markt zu ebnen.
Dritter Schritt: Gemeinschaftliche Finanzierung
Die europäischen Haushaltsverhandlungen könnten genutzt werden, um den Europäischen Verteidigungsfonds (EDF) innerhalb des EU-Haushalts besser auszustatten. Bislang verfügt der Fonds über ein Gesamtvolumen von 7,3 Mrd. Euro, um die innovative, industrielle und wissenschaftliche Basis der europäischen Verteidigungsindustrie zu fördern. Soll die Förderung aus dem EDF auf weitere verteidigungspolitische Aufgaben erweitert werden, etwa den gemeinschaftlichen Ankauf von Munition oder anderen Rüstungsgütern, müsste allerdings der EU-Vertrag (Art. 42 Abs. 3 EUV) geändert werden.
Schließlich könnten Anreize gesetzt werden, um mit Hilfe anderer europäischer Programme Dual-use-Fähigkeiten zu fördern. So könnten in die nun auszuhandelnden neuen Verordnungen für die europäischen Struktur- und Kohäsionsfonds Regelungen und beispielsweise eine Mindestförderquote aufgenommen werden, um mit europäischen Fördergeldern den Ausbau der europäischen Verkehrswege gemäß den Notwendigkeiten militärischer Mobilität zu finanzieren. Ebenso denkbar wäre es, Mittel aus europäischen Förderprogrammen für Maßnahmen zur Cyberabwehr, Schutzmaßnahmen für Einrichtungen der kritischen Infrastruktur oder europäische Rüstungsforschungsnetzwerke zu verwenden. Generell geht es also darum, die strikte Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Fördermaßnahmen zu lockern.
Vierter Schritt: Aufbau von Gemeinschaftsstrukturen
Für die Europäisierung der nationalen Rüstungsmärkte und -industrien bedarf es angemessener Strukturen und Institutionen auf europäischer Ebene. Über die traditionelle marktregulierende Rolle der Europäischen Kommission hinaus werden in erster Linie Institutionen benötigt, die geeignet sind, die strategischen und militärischen Prioritäten sowie deren politische Umsetzung und finanzielle Ausstattung abzustimmen. Dabei wird auf angemessene Abstimmung mit den transatlantischen Institutionen im Rahmen der Nato zu achten sein.
Klar scheint, dass ein unregelmäßiges Treffen der EU-Verteidigungsminister und ‑ministerinnen im EU-Rat nicht ausreichen wird, um grundsätzliche strategische Fragen zu beantworten. Nicht länger zweckmäßig ist auch das Einstimmigkeitserfordernis in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), da die EU-Staaten bei der Steigerung ihrer Verteidigungsfähigkeit unter enormem Zeitdruck stehen. Überdies bedarf es größerer Transparenz zwischen den militärischen Planungen der Nato und der EU-Kommission. Bis heute verhandelt die Nato einzeln mit den Mitgliedstaaten. Das hat zur Folge, dass weder zwischen den Mitgliedstaaten noch zwischen Nato und EU Transparenz über militärische Ziele und erforderliche Fähigkeiten herrscht. Ein europäischer Sicherheitsrat könnte als wichtiges Bindeglied zwischen den Mitgliedstaaten und zur Nato dienen. Er könnte von der Hohen Vertreterin geleitet, an die EU-Kommission angebunden und von einer militärischen Planungsgruppe unterstützt werden. Ein so konzipierter Sicherheitsrat wäre vor allem deshalb sinnvoll, weil die Europäer innerhalb der Nato derzeit keine institutionelle Ausprägung eines europäischen Pfeilers anstreben.
Klug eingesetztes Geld vermehrt Sicherheit und Souveränität
Langfristig umfangreiche Unterstützung für die Ukraine, ein EU-Binnenmarkt für Rüstungsgüter sowie nachdrücklicheres Eintreten für gemeinsame europäische Ziele und Interessen sind notwendig. Können sich die EU und ihre Mitgliedstaaten nicht darauf einigen, dürfte trotz der bereitgestellten und avisierten Finanzmittel ein weiteres Mal das Ziel verfehlt werden, Europa schnell und umfassend verteidigungsfähig zu machen. Diese Fokussierung auf die europäische Verteidigung verlangt den Mitgliedstaaten ab, das militärstrategische Problem zurückzustellen, Washington zuvorderst über den Kauf amerikanischer Waffensysteme an Europa binden zu wollen.
Zugleich stehen der Aufwuchs der EU-Gelder für verteidigungs- und rüstungspolitische Maßnahmen sowie der kooperative Ansatz der Kommission in wachsendem Widerspruch zur gängigen Praxis, wonach die Mitgliedstaaten, die auch der Nato angehören, ihre militärischen Fähigkeitsziele individuell im Rahmen der Allianz verhandeln. Um Europa schneller verteidigungsfähig zu machen, müssen die EU-Staaten künftig der Kommission Einblicke in diese Nato-Planungen gewähren und Brüssel in die Lage versetzen, die Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit anzuhalten.
Schließlich wird eine Europäisierung der Rüstungs- und Verteidigungspolitik nicht ohne Verlust staatlicher Kompetenzen und nationaler Freiräume ablaufen. Die Abhängigkeit der Europäer vom Wohlwollen der Führungsmacht USA in der Nato würde langfristig ergänzt durch einen Souveränitätsverzicht zugunsten einer gemeinschaftlichen, stärker integrierten europäischen Verteidigungspolitik. Mittelfristig dürften diese Schritte Europa verteidigungspolitisch vor allem gegenüber Russland stärken und industriepolitisch für seine Partner – samt den USA – attraktiv machen.
Dr. Peter Becker ist Wissenschaftler und Dr. Ronja Kempin Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa. Die Autoren danken Johanna Flach, Studentische Mitarbeiterin der Forschungsgruppe EU / Europa, für ihre Unterstützung und die wertvolle Zuarbeit.
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DOI: 10.18449/2025A35