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Europas Verteidigungsfähigkeit durch klare Aufgaben und Ziele stärken

Für zusätzliche Finanzen müssen zunächst die Prioritäten der EU-Sicherheit definiert werden

SWP-Aktuell 2025/A 35, 22.07.2025, 8 Seiten

doi:10.18449/2025A35

Forschungsgebiete

Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union streiten wieder einmal über Geld. Genauer gesagt darüber, wie viel Geld sie für Verteidigung zahlen wollen, woher dieses Geld kommen soll und ob sie es gemeinsam ausgeben möchten. Unstrittig ist in Brüssel und den Hauptstädten, dass Europa sich besser verteidigen muss. Trotz vieler Diskussionen, Gipfelbeschlüsse, Dokumente und Initiativen ist noch immer offen, für welche Ziele und in welcher Form die EU finanzielle Aufwendungen für eine bessere europäische Verteidigungsfähigkeit aufbringen sollte. Neben frischem Geld ist vor allem eine Verständigung auf gemeinsame europäische Aufgaben und Ziele erforderlich. Auf deren Basis wäre es dann möglich, die militärische Unterstützung für die Ukraine fortzusetzen und zu verstärken, einen Binnenmarkt für Rüstungsgüter und ‑dienstleistungen zu schaffen und diese dann zumindest teilweise aus dem EU-Budget zu finanzieren.

Zu der Überzeugung, dass die Europäer ihre verteidigungs- und rüstungspolitischen Anstrengungen deutlich steigern müssen, waren die EU-Mitgliedstaaten bereits 2016 gelangt. In dem Jahr stellte der neu gewähl­te amerikanische Präsident Donald Trump erstmalig die US-Sicherheitsgarantien für Europa offen in Frage. Die EU-27 setzten auf mehr Eigenständigkeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO), einer koordinierten Jährlichen Überprüfung der Verteidigung (CARD) und einem Europäischen Verteidigungsfonds (EDF) sollten Fähigkeitsdefizite gemeinsam behoben, die operative Zusammenarbeit der Streitkräfte verbessert und die europäische Verteidigungsindustrie gestärkt werden.

In Reaktion auf Russlands Vollinvasion der Ukraine verabschiedeten die EU-Staaten im März 2022 ihre erste eigenständige ver­teidigungspolitische Strategie, den Strate­gischen Kompass. Darin verpflichten sie sich, ihre militärische Handlungsfähigkeit bis 2030 erheblich auszubauen. Neben der kontinuierlichen Erhöhung der Verteidigungshaushalte gilt jeweils als Quantensprung, dass die EU-Staaten erstmals töd­liche Waffen in ein Land im Krieg lieferten und den Be­schluss fassten, ukrainische Soldatinnen und Soldaten auszubilden, die anschließend in Kampfhandlungen ver­wickelt sein werden. Die Europäische Kom­mission griff auf Haushaltsmittel der Union zurück, um die gemeinsame Beschaffung militärischen Geräts zu finanzieren.

Steigender Druck – schwache Antwort

Zwei Entwicklungen ist es geschuldet, dass viele EU-Staaten ihre nationalen Verteidigungsausgaben 2025 noch einmal drastisch steigern wollen und dass auch die EU ihre Mitglieder dabei zu unterstützen trachtet, ge­nügend Aus­rüstung in höherem Tempo bereitzustellen: Zum einen sind sich euro­päische Geheimdienste einig, dass Russ­land in etwa fünf Jahren in der Lage sein wird, einen konventionellen Krieg gegen Europa zu führen. Zum anderen werden die Kontu­ren einer isolationistischen Politik der USA für Europa klarer: Washington löst sich von der europäischen Nachkriegsordnung und schreckt nicht davor zurück, die europäischen Partner sicherheitspolitisch zu erpres­sen. Zum Nato-Gipfeltreffen Ende Juni 2025 drängte Präsi­dent Trump die Partner, die Ausgaben für ihre Verteidigung bis 2035 auf jährlich 5% ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu erhöhen. Zuvor hatte US-Verteidi­gungsminister Pete Hegseth bei einem Tref­fen der Nato-Verteidigungsminister im Februar 2025 erklärt, die USA würden keine eigenen Truppen in die Ukraine entsenden, um eine Waffenruhe oder Friedenslösung abzusichern. Dies sei allein Aufgabe der Europäer – die diesen Einsatz zudem außerhalb der Nato organisieren müssten.

Dieser doppelte Handlungsdruck brachte die Staats- und Regierungschefs der EU Anfang März 2025 dazu, die »Mobilisierung der erforderlichen Instrumente und Finanz­mittel [zu] beschleunigen, um die Sicherheit der Europäischen Union und den Schutz un­se­rer Bürgerinnen und Bürger zu er­höhen«. Sie beschlossen, die Luft- und Raketen­abwehr ebenso auszubauen wie den Bestand an Artilleriesystemen, Flugkörpern und Muni­­tion sowie Drohnen und Drohnen­abwehrsystemen. Auch wollen sie strategische Unter­stützungssysteme (Enabler) für den Schutz im Weltraum und von kriti­schen Infrastrukturen beschaffen sowie die militärische Mobi­lität, die Cyberabwehr und die Nutzung künstlicher Intelligenz für die elektronische Kampfführung ver­bessern. Darüber hinaus verpflichteten sie sich, ihre strategischen Abhängigkeiten von den USA zu verringern sowie die technologische und industrielle Basis der europäischen Verteidi­gung in der gesamten Union zu stärken.

Im Juni 2025 bekräftigte der Europäische Rat erneut den Willen, die Verteidigungsausgaben maßgeblich aufzustocken, die Anstrengungen zu beschleunigen und die eingegangenen Verpflichtungen unterein­ander besser zu koordinieren.

Die EU-Kommission trat ihrerseits im Oktober 2023 mit dem Instrument zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie durch gemeinsame Beschaffung (EDIRPA) in Erscheinung. Das Programm ist mit einem überschaubaren Gesamtvolumen von 300 Mio. Euro bis Ende 2025 ausgestattet. Gefördert wird die Zusammen­arbeit von Mitgliedstaaten bei Maßnahmen für Auf- und Ausbau von Produktionskapazitäten europäischer Unternehmen der Verteidigungsindustrie und der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit sowie bei der ge­meinsamen Beschaffung von Vertei­di­gungs­gütern. Anhand von Aktionsplänen ver­sucht die Kommission seit 2018, die Beweg­lichkeit militärischen Personals und Mate­rials zu verbessern. Gemäß dem Aktions­plan zur militärischen Mobilität 2.0 für die Jahre 2022–2026 investieren die EU und ihre Mitgliedstaaten in multimodale Korri­dore und Logistik-Drehkreuze, unter­stützen die Digitalisierung von Verwaltungsprozessen, den Schutz der Verkehrs­infrastruktur und vor Cyberangriffen sowie die Stärkung der Zusammenarbeit mit Partnern in der Nato und anderen regionalen Partnern. Über die Connecting-Europe-Fazilität wurden diese Verkehrsinfrastrukturprojekte mit doppel­tem Verwendungszweck (dual use) mit 1,69 Mrd. Euro aus dem EU-Budget finanziert.

Zuletzt hat die Europäische Kommission im März 2024 eine europäische Industriestrategie für den Verteidigungsbereich vor­gelegt. Darin fordert sie die schnelle und massive Verbesserung der europäischen Verteidigungsfähigkeit durch private und öffentliche Investitionen und vor allem einen grundsätzlichen Wandel in der euro­päischen Verteidigungs- und Rüstungs­­industrie. Das European Defence Industry Programme (EDIP) soll dazu dienen, in der EU mehr, besser und gemeinsam in den Ausbau der Verteidigungsindustrie zu investieren. Hierfür sollen interoperable und austauschbare Verteidigungsfähig­keiten gefördert, die Zertifizierung von Rüstungsgütern erleichtert und eine gemeinsame Programmplanung und Beschaffung organisiert werden.

Bereitschaft 2030 und Weißbuch zur europäischen Verteidigung

Derzeit schützt das europäische Primärrecht (Art. 346 AEUV) die nationale Autonomie der Mitgliedstaaten bei wesentlichen Fragen ihrer Sicherheit, »soweit sie die Erzeugnisse von Waffen, Munition und Kriegsmaterial oder den Handel damit betreffen«. Vor allem bei Ausschreibungen und der Vergabe von Rüstungsaufträgen und damit bei der Be­schaffung von Rüstungsgütern und -dienst­leistungen verfolgen sie in der Regel eigene industriepolitische Interessen. Die Mitgliedstaaten bestimmen weitgehend die Größe ihrer nationalen Märkte; sie vergeben Ex­port­lizenzen, geben Richtung und Maß der Entwicklung von Innovationen und neuer Produkte vor und schützen ihre nationalen Unternehmen vor interner und internationaler Konkurrenz. Die Märkte für Rüstungs­güter unterliegen hohen Anforderungen der Vertraulichkeit sowie dauerhafter Liefer- und Servicegarantien. Meist sind die Rüs­tungsgüter keine standardisierten Mas­sen­produkte. Die Produktionsvolu­mina sind klein und können durch Exportrestriktionen weiter begrenzt werden. Als vorran­gige Auftraggeber und Kunden der Rüstungs­unternehmen definieren die Nationalstaaten den Bedarf und folglich auch die Pro­duktion militärischer Güter.

Gleichwohl schlug die Europäische Kom­mission im März 2025 den Plan ReArm Europe vor. Das Programm wurde später in »Bereitschaft 2030« umbenannt und enthält fünf Maßnahmen: (1) Es gestattet den Mit­glied­staaten, die nationale Ausweichklausel des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu akti­­vieren. Damit wird ihnen haushaltspolitischer Spielraum gewährt, mehr öffentliche Mittel für die Verteidigung zu verwenden. Laut Berechnungen der Kommission beläuft sich dieser auf knapp 650 Mrd. Euro für die 27 EU-Staaten. Doch bislang haben erst 15 Länder von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. (2) Mit Hilfe des Instru­ments SAFE – Sicherheitsmaßnahmen für Europa leiht die EU-Kommission im Namen der EU bis zu 150 Milliarden Euro auf Kapi­talmärkten. Als langfristige Darlehen stellt sie dieses Geld jenen Mitgliedstaaten zur Verfügung, die »bereit sind, in die industrielle Produktion im Verteidigungsbereich durch gemein­same Beschaffung mit dem Schwerpunkt auf vorrangigen Fähigkeiten zu investieren«. (3) Den Mitgliedstaaten bietet die Kom­­mission an, sich darüber auszutauschen, wie mehr Mittel des EU-Haushalts Ver­teidi­gungszwecken dienen können. Die kohä­sionspolitischen Programme könnten für Verteidigungs- oder zumindest Dual-use-Ausgaben genutzt werden. (4) Um weitere umfassende Finanzmittel zu gene­rieren, soll auch die Europäische Investi­tionsbank-Gruppe den Umfang ihrer Kre­ditvergabe auf Verteidigungs- und Sicherheitsprojekte ausweiten. (5) Schließlich sieht der Plan vor, privates Kapital für Verteidigung zu mobi­lisieren.

Gemeinsam mit der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik veröffentlichte die EU-Kommission am 19. März 2025 das Weißbuch zur europäischen Verteidigung – Bereitschaft 2030. Darin werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, mindestens 40% ihrer Beschaffungen gemeinsam zu tätigen. Darüber hinaus sollen sie die Integration der europäischen und ukrainischen Verteidigungsindustrie vertiefen und einen Rüstungsbinnenmarkt schaffen. Die Kommission verpflichtet sich ihrerseits, einen strategischen Dialog mit der Rüstungsindustrie zu führen, Industrie­programme zu straffen und einen rüstungstechnologischen Fahrplan für Investitionen in fortgeschrittene technologische Fähigkeiten mit doppeltem Verwendungszweck zu erarbeiten. Unter der Überschrift »Omnibus für die Verteidigungsbereitschaft« präsentierte die Kommission schließlich am 17. Juni 2025 Maßnahmen, die gemeinsame Investitionen in Verteidigungsfähigkeiten erleichtern, der Industrie mehr Vorher­sehbarkeit bieten und den Zugang zu EU-Mitteln vereinfachen sollen.

Geld für welche Ziele?

Offen bleibt indes, für welche Ziele diese stark erhöhten finanziellen Aufwendungen genutzt werden sollen. Fünf unterschied­liche Aufgaben werden mit wechselnder Dringlichkeit diskutiert.

Erste Aufgabe: Militärische Unterstützung für die Ukraine

Seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine steht die EU fest an Kyjiws Seite. Sie unterstützt das angegriffene Land, mit dem sie seit Juni 2024 Verhandlungen über den Beitritt führt, durch politische, huma­nitäre, militärische und finanzielle Hilfen. Angesichts der russischen Entschlossenheit, den Krieg weiterzuführen, bedarf die Ukra­ine fortgesetzten und verstärkten Beistands ihrer europäischen Partner. Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben bislang rund 60 Mrd. Euro an Militärhilfe für die Ukraine mobi­li­siert. Davon wurden bis 2024 über die Euro­päische Friedensfazilität mehr als 6 Mrd. Euro für die Lieferung militärischer Aus­rüstung finanziert. Ein zusätzlicher Unter­stützungsfonds für die Ukraine stellt 5 Mrd. Euro für Schutzausrüstungen, Treibstoff, Munition und Flugkörper bereit. Darüber hinaus hat die europäische Verteidigungsindustrie ihre Kapazitäten für die Muni­tionsproduktion um 40% erhöht. Über die Verordnung zur Förderung der Munitionsproduktion (ASAP) vom Juli 2023 wurden 500 Mio. Euro aus dem EU-Haushalt mobili­siert, um den Ausbau der Produktions­kapazitäten für die Herstellung von Boden-Boden- und Artilleriemunition sowie von Flugkörpern zu fördern. Im Rahmen der Ausbildungsmission EUMAM UA (European Union Military Assistance Mission Ukraine) wurden über 78.000 ukrainische Soldatinnen und Soldaten in taktischer und opera­tiver Kriegsführung geschult und an modernem Kampfgerät ausgebildet.

Die EU geriet zusätzlich unter Druck, weil die USA ihre militärischen Hilfen für die Ukraine spürbar reduzieren. Im März und April 2025 hat Washington erstmals keine neue Unterstützung geleistet, im Juli wurden bereits vereinbarte Waffenlieferungen gestoppt, dann aber wieder geneh­migt. Vor allem Fähigkeiten der Aufklärung oder der strategischen Luftverteidigung, welche die Ukraine dringend benötigt, sind in den EU-Staaten kaum vorhanden.

Zweite Aufgabe: Vorbereitung von Sicherheitsgarantien für Kyjiw

Zwar zeichnet sich aktuell kein Waffen­stillstand und erst recht kein Friedensplan zwischen Russland und der Ukraine ab, doch hat die amerikanische Administration bereits klargemacht, dass die Europäer eine mögliche Waffenstillstandsvereinbarung militärisch absichern und die Ukraine durch umfangreiche Sicherheitsgarantien schützen sollen. Spekuliert wird über eine europäische Friedenstruppe in einer Größen­ordnung von 40.000 Mann. Der ukrainische Präsident Selenskyj nannte gar eine Trup­penstärke von 200.000 Mann.

Um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, müssten die EU-Staaten ihre Streit­kräfte zahlenmäßig wesentlich vergrößern. In Deutschland etwa stagniert der Aufwuchs der Streitkräfte seit Jahren. Die Personalstärke der Bundeswehr steigt nicht deutlich über 182.000 Soldatinnen und Soldaten. Schon die dauerhafte Stationierung einer 5000 Mann starken Brigade in Litauen bedeutet einen Kraftakt für Bundeswehr. Darüber hinaus müssten die EU-27 ihre militärische Zusammenarbeit erheblich ausweiten und ihre rüstungspolitische Fragmentierung überwinden. Andernfalls kämen Wartung und Instandhaltung ihrer militärischen Fähigkeiten einer logistischen Herkules­aufgabe gleich.

Dritte Aufgabe: Die USA in Europa halten

Zahlreiche Mitgliedstaaten sehen es als ihr vitales Interesse an, die USA in Europa zu halten. Die Mehrheit der europäischen Nato-Staaten ist bereit, die Forderung des US-Präsidenten zu erfüllen, 5% ihres BIP für Verteidigung aufzuwenden. Das zeugt davon, wie gewichtig für die Europäer die Sicherheitsgarantien sind, welche die USA ihren europäischen Partnern durch die Stationierung von bis zu 100.000 Soldatinnen und Soldaten in Europa sowie durch die nukleare Teilhabe in der Nato bieten. Bis heute folgen die Europäer im Rahmen der Allianz amerikanischen Vorgaben für Strategie und Fähigkeiten. Um mit den USA militärisch interoperabel zu sein, kaufen die Europäer einen Großteil ihrer militärischen Fähigkeiten dort. Wie zu Beginn des Ukraine-Krieges, als europäische Staaten etwa 63% ihrer zusätzlich benötigten Rüs­tungsgüter in den USA erwarben, halten zahlreiche EU-Staaten daran fest, sich ver­fügbare Fähigkeiten in Amerika zu besor­gen und so die transatlantischen Beziehungen zu pflegen.

Vierte Aufgabe: Die Verteidigung Europas ohne die USA

Mit ihrem drastischen Kurswechsel hat die Trump-Administration die Koordinaten der europäischen Sicherheitsordnung durch­einandergeworfen. Noch immer sendet sie widersprüchliche Signale an ihre Verbündeten, vor allem mit Blick auf Verlässlichkeit und Dauerhaftigkeit des amerikanischen Engagements in Europa sowie ihr Festhalten am Nato-Konsens zu Russland und der Ukraine.

Wie weit die Überzeugung in einigen EU-Ländern reicht, sich auf einen Rück­zug der USA aus Europa vorbereiten zu müssen, zeigt die Debatte über eine eigen­ständige nukleare Abschreckung in Europa. Ein kompletter Ersatz amerikanischer mili­täri­scher Fähigkeiten würde den Europäern bereits im konventionellen Bereich weitere, immense Steigerungen der Verteidigungsausgaben abverlangen. Darüber hinaus muss die politische Bereitschaft vorhanden sein, strategische Ziele und Prioritäten künftig zwischen den Europäern abzustim­men. Es gilt dann festzulegen, in welchem institutionellen Rahmen – intergouvernemental oder supranational, in der Nato oder in der EU – eine kontinuierliche ver­teidigungs- und rüstungspolitische Koordi­nierung stattfinden soll.

Fünfte Aufgabe: Langfristiges Ziel Europäische Verteidigungsunion

Die USA als Garanten der europäischen Sicherheitsordnung zu ersetzen ist eine ebenso lang­fristige Aufgabe wie eine euro­päische Ver­teidigungsunion aufzubauen. Derzeit ist dieses Politikfeld noch weit von einer supranationalen Lenkung entfernt. Die Mitgliedstaaten genießen im Verteidigungsbereich weitgehende Handlungsfreiheit und verfolgen zunächst ihre natio­na­len Interessen; allenfalls koordinieren sie sich intergouvernemental. Dieser Praxis versucht die EU-Kommission entgegenzuwirken. Seit Jahrzehnten bemängelt sie die Unzulänglichkeiten, Schwächen und die Fragmentierung der europäischen Märkte für Rüstungsgüter und -dienstleistungen; immer wieder drängt sie auf die Schaffung und Regulierung eines europäischen Mark­tes für Verteidigungsgüter – ohne jedoch mit ihren Reformüberlegungen durch­zudringen. Die EU-Kommission strebt an, europäische Vernetzung und engere rüs­tungspolitische Kooperation zu fördern. Ihre Ziele lauten bessere Interoperabilität der Rüstungsgüter, geringere Opportunitäts­kosten und Doppel­ausgaben sowie höhere Skaleneffekte. Auf die EU-Mitgliedstaaten werden immense Kosten für den Auf- und Ausbau ihrer Ver­teidigungsfähigkeit zu­kommen und den Druck auf die nationalen Haushalte steigen lassen. Angesichts dessen betrachtet die Kom­mis­sion eine supra­­natio­nale Europäisierung der Rüstungs­güter­industrie als unausweichlich. Ein erster wesentlicher Schritt zu einer Verteidigungs­union wäre also, einen Verteidigungs­binnen­markt zu schaffen. Er gäbe der EU-Kommission Zu­griff auf ein Politikfeld, das ihr gemäß den EU-Verträgen bis dato ver­schlossen ist.

Geldsegen mit Prioritäten verbinden

Der Blick auf diese unterschiedlichen Ziele zeigt, dass die Aufrüstung europäische Konturen benötigt – im Sinne einer funk­tionalen Priorisierung, einer sachgerechten Sequenzierung und des bestmöglichen institutionellen Gefüges.

Erster Schritt: Unterstützung für die Ukraine

Die wichtigste Aufgabe der Europäer besteht nach wie vor darin, der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen Russland Bei­stand zu leisten. Die Unsicherheiten hin­sichtlich Washingtons Unterstützung für Kyjiw erhöhen den Druck auf die Euro­päer, ihre militärischen Hilfen auszuweiten. Bisher nutzte die EU die Europäische Frie­densfazilität, um jene Mitgliedstaaten finanziell zu entschädigen, die ihre Waffen und ihre Munition an die Ukraine abgegeben haben. Dieses haushaltsexterne Instru­ment geriet in die Kritik, weil einige Mit­glied­staaten die Kompensationen nutzen, um der Ukraine veraltetes Gerät zu liefern und sich aus der Fazilität neue Fähigkeiten ersetzen zu lassen. Inzwischen haben zahl­reiche Rüstungsunternehmen ihre Produk­tion in die Ukraine verlegt und kooperieren mit einheimischen Unternehmen. Die EU-Kommission hat Vorschläge unterbreitet, die ukrainische Rüstungs­industrie eng mit der europäischen zu ver­zahnen. Mit dieser Vorgehensweise sollen nach den Vorstellungen der Kommission weitere Skalen­effekte bei jenen Fähigkeiten erzielt werden, die für den Abwehrkampf gegen Russland benötigt werden. Auch sollen so die Kosten für die Unterstützung der Ukraine gesenkt werden.

Noch immer aber variiert das Ausmaß der Hilfe zwischen den Mitgliedstaaten stark. Daher gelingt es Russland schneller als der Ukraine, sich mit wichtigen Fähigkeiten auszustatten.

Für einen Wandel wäre es kurzfristig wichtig, die anstehenden Haushaltsverhandlungen in der EU zu nutzen, um das Finanz­volumen der Europäischen Friedensfazilität zu vergrößern und überdies die Mitgliedstaaten zu verpflichten, einen Teilbetrag ihrer verteidigungspolitischen Mehrausgaben in die Fazilität fließen zu lassen. So ließen sich die regelmäßig schwierigen Ver­handlungen im Rat über die Aufstockung der Finanzausstattung der Fazilität wenigs­tens teilweise umgehen. Auch könnte die EU-Förderung für ASAP aus dem EU-Haus­halt angehoben werden. Beide Maß­nahmen könnten die EU in die Lage verset­zen, in den USA militärische Fähigkeiten einzukaufen, die Kyjiw dringend benötigt.

Zweiter Schritt: EU-Rüstungs­binnenmarkt schaffen

Die Mitgliedstaaten sollten bereit sein, einen Binnenmarkt für Rüstungsgüter und ‑dienst­leistungen zu schaffen. Darin sollten europäische Wettbewerbs- und Beihilferegeln sowie transparente Kriterien für öffentliche Ausschreibungen und die Auftragsvergabe gewährleistet werden. Kosten- und Preisstrukturen bei Rüstungsaufträgen sollten nachvollziehbarer gestaltet, die abgeschotteten nationalen Rüstungsmärkte für neue (und häufig innovativere) europäische Anbieter geöffnet werden. In einem gemeinsamen Markt könnten die Produktionszahlen gesteigert und die Skalenerträge der Rüstungsproduzenten verbessert werden. Darüber hinaus sollte die Möglichkeit eröffnet werden, rüstungsindustrielle Vorprodukte leichter innerhalb der EU zu erwerben, um so den grenzüberschreitenden Wettbewerb in diesem Binnenmarkt zu verstärken.

Eine Europäisierung müsste demzufolge mit einer Öffnung der nationalen Rüstungs­märkte einhergehen und die Liberalisierung des innergemeinschaft­lichen Handels einschließen. Mit Blick auf die Exporte in Drittstaaten müssten die Richtlinien für jene Rüstungsgüter harmonisiert werden, die in der EU produziert werden. Auch dies könnte helfen, bei europäischen Rüstungsproduzenten mehr Wettbewerbsfähig­keit und Innovationskraft zu erzeugen.

Bislang verweigern sich die Mitgliedstaaten diesen Schritten und achten streng auf ihre nationalen Spielräume. Nach wie vor verfehlen die ökonomischen und industriepolitischen Anreize der EU-Kommission ihre Ziele. Besonders bei ihren Kooperations­­anforderungen macht sie Zugeständnisse und reduziert die Anforderungen an eine konsortiale Zusammenarbeit der Unternehmen. Dennoch: Allein ein europäischer Binnenmarkt für Rüstungsgüter eröffnet den EU-Staaten die Chance, kritische Fähig­keitslücken schnell und kostengünstiger zu schließen. Die EU-Kommission würde ein solcher Binnenmarkt in die Lage versetzen, im gemeinsamen europäischen Interesse steuernd in die Planung, Entwicklung und Beschaffung einzugreifen.

Von der Stärkung verteidigungspolitischer Zuständigkeiten und rüstungspolitischer Regulierungsmöglichkeiten der EU könnten auch die Partnerschaftsabkommen profitieren, welche die EU-Kommission jüngst mit Kanada, Japan, Südkorea und dem Vereinigten Königreich geschlossen hat. Je stärker die rüstungsindustrielle Basis der Europäer, desto größer ist das Interesse der Partnerstaaten. Mit Binnenmarktvorgaben der EU-Kommission sowie durch Öff­nung und Transparenz der nationalen Rüstungsmärkte ließen sich im besten Falle Standardisierungen vorgeben. Sie könnten auf lange Sicht für bessere Interoperabilität zwischen den Streitkräften der EU-Mitglied­staaten und denen ihrer Partner sorgen.

Ein gemeinsames Vorgehen gleichgesinn­ter Staaten könnte nicht nur in politi­scher, sondern auch in rüstungsindus­trieller Hin­sicht dabei helfen, einen mög­lichen Rück­zug der USA aus Europa abzu­federn. Wenn die Europäer energischer auf ihre Eigenständigkeit pochen, könnte dies viel­leicht die USA dazu bringen, ihren für europäische Wettbewerber bisher ges­chlossenen Rüstungsmarkt zu öffnen und den Weg für einen transatlantischen Markt zu ebnen.

Dritter Schritt: Gemeinschaftliche Finanzierung

Die europäischen Haushaltsverhandlungen könnten genutzt werden, um den Europäischen Verteidigungsfonds (EDF) innerhalb des EU-Haushalts besser auszustatten. Bis­lang verfügt der Fonds über ein Gesamt­volumen von 7,3 Mrd. Euro, um die inno­vative, industrielle und wissenschaftliche Basis der europäischen Verteidigungsindus­trie zu fördern. Soll die Förderung aus dem EDF auf weitere verteidigungspolitische Auf­gaben erweitert werden, etwa den gemeinschaftlichen Ankauf von Munition oder anderen Rüstungsgütern, müsste allerdings der EU-Vertrag (Art. 42 Abs. 3 EUV) geändert werden.

Schließlich könnten Anreize gesetzt werden, um mit Hilfe anderer europäischer Programme Dual-use-Fähigkeiten zu fördern. So könnten in die nun auszuhandelnden neuen Verordnungen für die euro­päischen Struktur- und Kohäsionsfonds Regelungen und beispielsweise eine Mindest­förderquote aufgenommen werden, um mit europäischen Fördergeldern den Ausbau der europäischen Verkehrswege gemäß den Notwendigkeiten militärischer Mobilität zu finanzieren. Ebenso denkbar wäre es, Mittel aus europäischen Förderprogrammen für Maß­nahmen zur Cyberabwehr, Schutzmaß­nahmen für Einrichtungen der kritischen Infrastruktur oder europäische Rüstungsforschungsnetzwerke zu verwenden. Gene­rell geht es also darum, die strikte Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Fördermaßnahmen zu lockern.

Vierter Schritt: Aufbau von Gemeinschaftsstrukturen

Für die Europäisierung der nationalen Rüstungsmärkte und -industrien bedarf es angemessener Strukturen und Institutionen auf europäischer Ebene. Über die traditionelle marktregulierende Rolle der Europäischen Kommission hinaus werden in erster Linie Institutionen benötigt, die geeignet sind, die strategischen und militärischen Prioritäten sowie deren politische Umsetzung und finanzielle Ausstattung abzustimmen. Dabei wird auf angemessene Abstimmung mit den transatlantischen Institutionen im Rahmen der Nato zu achten sein.

Klar scheint, dass ein unregelmäßiges Treffen der EU-Verteidigungsminister und ‑ministerinnen im EU-Rat nicht aus­reichen wird, um grundsätzliche strategische Fragen zu beantworten. Nicht länger zweckmäßig ist auch das Einstimmigkeitserfordernis in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), da die EU-Staaten bei der Steigerung ihrer Ver­teidigungsfähigkeit unter enormem Zeit­druck stehen. Überdies bedarf es größerer Transparenz zwischen den militärischen Planungen der Nato und der EU-Kommis­sion. Bis heute verhandelt die Nato einzeln mit den Mitgliedstaaten. Das hat zur Folge, dass weder zwischen den Mitgliedstaaten noch zwischen Nato und EU Transparenz über militärische Ziele und erforderliche Fähigkeiten herrscht. Ein europäischer Sicherheitsrat könnte als wichtiges Binde­glied zwischen den Mitgliedstaaten und zur Nato dienen. Er könnte von der Hohen Ver­treterin geleitet, an die EU-Kommission angebunden und von einer militärischen Planungsgruppe unterstützt werden. Ein so konzipierter Sicherheitsrat wäre vor allem deshalb sinn­voll, weil die Europäer inner­halb der Nato derzeit keine institutionelle Ausprägung eines europäischen Pfeilers anstreben.

Klug eingesetztes Geld vermehrt Sicherheit und Souveränität

Langfristig umfangreiche Unterstützung für die Ukraine, ein EU-Binnenmarkt für Rüstungsgüter sowie nachdrücklicheres Eintreten für gemeinsame europäische Ziele und Interessen sind notwendig. Können sich die EU und ihre Mitgliedstaaten nicht darauf einigen, dürfte trotz der bereitgestellten und avisierten Finanzmittel ein weiteres Mal das Ziel ver­fehlt werden, Europa schnell und umfassend verteidigungsfähig zu machen. Diese Fokussierung auf die europäische Verteidigung verlangt den Mitgliedstaaten ab, das militärstrategi­sche Problem zurückzustellen, Washington zuvorderst über den Kauf amerikanischer Waffensysteme an Europa binden zu wollen.

Zugleich stehen der Aufwuchs der EU-Gelder für verteidigungs- und rüstungspolitische Maßnahmen sowie der kooperative Ansatz der Kommission in wachsendem Widerspruch zur gängigen Praxis, wonach die Mitgliedstaaten, die auch der Nato angehören, ihre militärischen Fähigkeitsziele individuell im Rahmen der Allianz verhandeln. Um Europa schneller verteidigungsfähig zu machen, müssen die EU-Staaten künftig der Kommission Einblicke in diese Nato-Planungen gewähren und Brüssel in die Lage versetzen, die Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit anzuhalten.

Schließlich wird eine Europäisierung der Rüstungs- und Verteidigungspolitik nicht ohne Verlust staatlicher Kompetenzen und nationaler Freiräume ablaufen. Die Abhän­gigkeit der Europäer vom Wohlwollen der Führungsmacht USA in der Nato würde langfristig ergänzt durch einen Souveränitätsverzicht zugunsten einer gemein­schaft­lichen, stärker integrierten europäischen Verteidigungspolitik. Mittelfristig dürften diese Schritte Europa verteidigungs­politisch vor allem gegenüber Russland stärken und industriepolitisch für seine Partner – samt den USA – attraktiv machen.

Dr. Peter Becker ist Wissenschaftler und Dr. Ronja Kempin Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa. Die Autoren danken Johanna Flach, Studentische Mitarbeiterin der Forschungsgruppe EU / Europa, für ihre Unterstützung und die wertvolle Zuarbeit.

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