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Strategische Vorausschau für multilaterale Politik

Herausforderungen, Chancen und Erfolgsfaktoren

SWP-Aktuell 2019/A 55, 21.10.2019, 4 Seiten

doi:10.18449/2019A55

Forschungsgebiete

Staaten verfolgen auf internationaler Ebene zunehmend offen und selbstbewusst natio­nale Interessen. Die USA zum Beispiel haben internationale Regelwerke zur Abrüstung, zum Handel und zum Klimaschutz aufgekündigt. Andere Akteure mit globalem Macht­anspruch wie China und Russland betreiben eine aggressive Terri­torialpolitik. Mit Großbritannien droht die Europäische Union (EU) einen wich­tigen Part­ner zu ver­lieren, was ihre Fähigkeit zu einer strategisch ausgerichteten Politik auf internationaler Ebene beeinträchtigen würde. Die Aus­höh­lung der regelbasierten internationalen Ordnung macht eines deutlich: Notwendig ist eine vorausschauende und wirk­same Politik zur Gestaltung der Zukunft. Denn je geringer die Bin­dungs­kraft internationaler Vereinbarungen, desto niedriger ist die Hemm­schwelle für nicht abge­stimmtes Vorgehen. Als Folge könnten Krisen und Konflikte künftig häufiger und unerwarteter auftreten. Daher sollten Staaten, die den Multi­lateralismus fördern wollen, in gemeinsame strategische Vorausschau investieren. Ein multi­perspekti­vischer Ansatz könnte Situationen aufzeigen, in denen Handeln mit Gleich­gesinnten Chancen bietet für die proaktive Gestaltung internationaler Politik.

Als Reaktion auf den schwindenden Rück­halt für eine regelbasierte internationale Ordnung haben die Bundesregierung, Frank­reich und mehr als fünfzig andere Staaten eine »Allianz für den Multilateralismus« ini­tiiert. Sie wurde am Rande der diesjährigen Generalversammlung der Ver­einten Natio­nen (VN) vorgestellt. Ziel der Allianz ist es, die Kooperation ihrer Mit­glieder in ver­schiedenen Politikfeldern zu fördern. Die Zusammen­arbeit dürfte umso ertrag­reicher aus­fallen, je besser den Part­nern Folgendes gelingt: ihre unter­schied­lichen Sichtweisen, Inter­essen und Präfe­ren­zen mit Blick auf zen­t­rale Heraus­forde­rungen für die inter­natio­nale Gemein­schaft einander anzu­nähern. Gemeinsame strate­gi­sche Vorausschau kann diese Annäherung begünstigen; dies ließe sich im Rahmen der Allianz testen.

Aufgaben und Funktionen strategischer Vorausschau

Strategische Vorausschau hat zum Ziel, die politische Entscheidungsebene frühzeitig auf mögliche Ereignisse und Entwicklungen aufmerksam zu machen, für die rechtzeitig Handlungsoptionen bereitstehen sollten. Wirksam ist sie dann, wenn sich abzeichnende Chancen und Krisen in einem Sta­di­um erkannt werden, in dem noch genug Zeit bleibt für erfolgversprechendes Handeln.

Konzeptionell besteht die Aufgabe darin, Ereignisse und Entwicklungen zu erkennen, die für die internationale Politik rele­vant werden könnten. Zusätzlich sollen Ent­scheidungsträger für Handlungsoptionen sensibilisiert werden, mit denen sie Krisen und Chancen begegnen können. Stra­tegi­sche Vorausschau hat somit zwei Funktionen: Analyse und Präskription.

Auf der analytischen Ebene unterscheidet man zwischen Ereignis- und Entwicklungs­vorausschau. Erstere ist dar­auf aus­gerichtet, konkrete Ereignisse zu antizipieren, die Auswirkungen auf die internatio­nale Politik haben könnten. Dazu zählen etwa unerwartete Machtwechsel oder plötzliche militärische Eskalationen in strategisch wichtigen Regionen, aber auch unangekündigte Zahlungsausfälle system­relevanter Schuldner.

Die Entwicklungsvorausschau versucht demgegenüber, längerfristigen Trends auf die Spur zu kommen. Darüber hinaus analysiert sie, welche politikfeldübergreifenden Wechselwirkungen die Trends haben könnten, beispielsweise tech­no­logische Innovationen (wie Cyberattacken als mili­tärisches Mittel oder die Rolle sozialer Medien in Wahlkämpfen). Ebenso wichtig ist die Aus­wahl und Beobachtung von Indikatoren, die die Stabilität eines Landes oder einer Region anzeigen, wie die ökono­mische und demo­graphische Ent­wicklung, die Zufrieden­heit mit den politi­schen Institutionen, das Ausmaß gesellschaft­licher Un­gleich­heit oder die Ver­änderung von Um­weltbedin­gungen. Sach- und Länderexpertise gehen gleichermaßen in die Analyse ein.

In präskriptiver Hinsicht lautet die Auf­gabe, aus den analytischen Erkenntnissen Folgerungen für politisches Handeln zu ziehen. Zum einen müssen Fragen be­antwortet werden wie: Worauf sollten sich Regierungen und Parlamente perspektivisch vorbereiten? Welche Ressourcen und Fähig­keiten werden benötigt, um erfolgreich mit eher langfristigen Herausforderungen um­zugehen? Zum anderen werden Ideen und Vorschläge dafür ent­wickelt, wo und wie Entscheidungsträger kurzfristig ein­greifen können, um sich andeutende Krisen zu vermeiden oder Chancen zu nutzen.

Strategische Vorausschau in der politischen Praxis

Strategische Vorausschau auf internatio­nale Politik ist traditionell eine hoheitliche Auf­gabe, die im nationalstaatlichen Rah­men erfüllt wird. Die meisten Regierungen sind von einer gesamtstaatlichen Vorausschau-Praxis indessen weit entfernt. Im Regel­fall dominieren Silo-Ansätze, die ihren Ursprung haben in den verschiedenen Auf­gaben, Aus­richtungen und Organisations­kulturen der jeweils zuständigen Ressorts. Eine typische Folge sind »blinde Flecken« in der Analyse.

In Deutschland sind das Auswärtige Amt (AA), das Bundes­ministerium der Ver­tei­digung (BMVg) und das Bundesministe­rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) primär mit inter­nationalen Angelegenheiten befasst. In den Leit­linien der Bundesregierung »Krisen verhin­dern, Konflikte bewäl­tigen, Frieden för­dern« von 2017 haben die drei Ressorts vereinbart, sich mit Blick auf Krisenfrüh­erkennung untereinander besser abzustim­men. Sie sind sich also dessen bewusst, dass es problematisch ist, Vorausschau neben­ein­ander und nicht miteinander zu betreiben.

Aus dem Bundestag kommen gelegentlich Initiativen, die seine außen-, entwicklungs- und sicherheits­politische Arbeit strategischer und vorausschauender aus­richten wollen. So könnte auf Ausschuss­ebene regel­mäßig über denkbare strate­gische Herausforderungen informiert werden. Weiterhin sind Sachverständigen­anhörungen vor­stell­bar. Über die politischen Maßnahmen der Bundes­regierung im Um­gang mit solchen strategischen Heraus­forde­rungen ließe sich im Plenum debat­tieren. Allerdings steht auch für das Parla­ment die Früherkennung von Krisen und Kon­flikten im Vordergrund.

Bei den wichtigsten internationalen Part­nern Deutsch­lands ist die Situation ähnlich, etwa in Großbritannien, Frankreich und den USA. Häufig sind die Beziehungen zwischen den verschiedenen staatlichen Einrichtungen, die vorausschauen, eher kompetitiv als kooperativ. Für die zwischen­staatliche Ebene in puncto Vorausschau gilt, dass Regierungen zwar fallweise zusammenarbeiten, zum Beispiel der deutsche mit dem französischen Planungsstab in den jeweiligen Außenministerien. Aber selten geschieht dies systema­tisch. Inter- bzw. supranatio­nale Akteure wie EU, Nato und VN arbeiten ebenfalls vorausschauend; auch sie richten ihre Aufmerksamkeit primär auf Krisen und Konflikte.

Der Mehrwert gemeinsamen Vorausschauens

Dabei spricht nichts dagegen, dass stra­te­gische Vorausschau auch auf Situationen hinweist, die eine wünschens­werte Ent­wick­lung ankündigen. Ein multilateraler Ansatz scheint für die Früh­erkennung von Chancen besonders geeig­net. Die Zusammen­arbeit mit Partnern aus unterschied­lichen Regionen und Kul­turen kann den Blick für das globale Geschehen erweitern und gleichzeitig schärfen. So können die be­stehenden »blinden Flecken« nationalstaat­licher Ansätze reduziert werden: erstens die mangelnde Wahrnehmungs­fähigkeit der Analysten für Ereignisse und Entwick­lungen, die außer­halb ihrer Vorstellungskraft liegen, die vom jeweiligen Erfahrungs­hintergrund geprägt ist; zweitens die Prio­risierung von Krisen und Konflikten in den meisten Vorausschau-Aktivitäten. Gemeinsame strategische Voraus­schau kann den Wahrnehmungsraum ausweiten und diese Fixie­rung überwinden. Entscheidungsträger kön­nen dann besser für un­ver­hoffte Handlungschancen sensibilisiert werden.

Die systematische Kooperation di­ver­ser Partner führt verschiedene Per­spekti­ven zusammen. Das muss nicht kon­fliktfrei verlaufen – Verständnis für die Sicht­weisen, Interessen und Präferenzen der anderen ent­steht aber bereits im Prozess, wenn man sich darauf einigt, auf welchen thematischen und geographischen Heraus­forde­run­gen der Fokus liegen sollte. Unterschied­liche Sicht­weisen ergänzen sich so zu Multi­perspektivität. Getestet werden könnte dieser Ansatz im Rahmen der »Allianz für den Multilateralis­mus«. Bewährt sich das Vorgehen, könn­te man perspektivisch darüber nachdenken, wie sich gemeinsame stra­tegische Vorausschau länderübergreifend institutionalisieren ließe, etwa in Lage­zentren oder »Situ­ation Rooms«. Zusätz­liches Ziel wäre das Einüben ko­operativer Hand­lungs­prozesse. In opera­tiver Hinsicht wird da­durch schnelleres Agieren in Entschei­dungs­situationen erleich­tert – eine wich­tige Voraussetzung für effektiven Multi­lateralismus.

In der Realität internationaler Politik liegen Krisen und Chancen oft nah bei­einander. Beispielhaft illustrieren lässt sich dies anhand des Arabischen Frühlings: 2010/11 erfassten Massenproteste praktisch den gesamten Nahen und Mittleren Osten. In Tunesien, Ägypten und Libyen haben sie zur Ablösung der Machthaber geführt, während in Syrien ein bis heute andauernder Bürger­krieg begonnen hat. Die Volks­aufstände hatten ihre Ursache in der tiefen Unzufriedenheit mit den Lebensumständen in der Region, die von Korruption, Per­spektiv­losigkeit und staatlicher Repression geprägt waren. Bei aller Gewalt, mit der sie einher­gingen (und teils bis heute gehen), boten sie auch eine Chance für regionale Transforma­tion. Schnell zeigte sich, dass dies jedoch nur mit massiver Unterstützung von außen möglich sein würde. Entsprechen­de Pläne lagen indes nicht vor; folglich war die internationale Reaktion im Wesent­lichen durch Krisenmanagement geprägt.

Aus der Geschichte kann man lernen: Eine gemeinsame strategische Vorausschau hätte womöglich frühzeitig Ideen dafür erarbeiten können, mit welchen Maß­nahmen insbesondere die EU die poli­tische, soziale und ökonomische Transformation gezielter und effektiver hätte unter­stützen können. Konflikte zwischen den an der Vorausschau beteiligten Staaten über Ziele und Maßnahmen wären früh(er) thematisiert worden und hätten die Ent­schei­dungs­findung in der unmittelbaren Handlungs­situation weniger belastet.

Allerdings wird selbst ein multiperspektivischer Ansatz nicht jede revolu­tionäre Situation oder Chance auf Transformation im Vorfeld antizipieren können. Die wissen­schaftliche Auswertung von Vorher­sage­wettbewerben (»Forecasting Tournaments«) zeigt hingegen, dass multiperspektivisch zu­sammengesetzte Teams besser abschneiden als homogene Vergleichsgruppen. Im 2011 gestarteten »Good Judgment Project« ging es darum, Fragen nach dem Eintritt hypothetischer Ereignisse auf inter­natio­naler Ebene zu beantworten. In die­sem über fünf Jahre laufenden Wett­bewerb mit mehr als 3000 Teilnehmern erzielten fachliche Laien eine höhere Treffergenauig­keit als Experten oder professionelle Ana­lysten – obgleich Letztere auf nicht öffent­lich zugäng­liche Informationen zurück­greifen konnten.

Diversität und Transparenz als Erfolgsfaktoren

Multiperspektivität scheint sich also aus­zuzahlen und wäre eine zentrale Voraussetzung für länderübergreifend organisierte strategische Vorausschau. Damit diese ge­lingt, dürfen die Analyseteams nicht homo­gen zusammengesetzt sein, sondern müssen einen hohen Grad an Diversität aufweisen. Wesentliche Aus­wahl­faktoren können Alter, Geschlecht, ethnischer, kultu­reller und religiöser Hintergrund, kognitive Dis­positio­nen sowie die politische Einstellung sein.

Um die Diversität der Sichtweisen zu erhöhen, können in die Analyse Erkenntnisse nicht staatlicher Akteure einbezogen werden – häufig eine wich­tige zusätzliche Informationsquelle. Indessen sind »shrink­ing spaces« und staatliche Repression nicht nur für die Zivilgesellschaft in immer mehr Ländern ein massives Problem, sondern auch für die Forschung. Feldforschung unter autoritären Bedingungen wird ris­kanter für die Wissen­schaftler und ihre lokalen Quellen, als Folge werden fundierte Infor­ma­tionen über relevante Entwick­lungen spärlicher. Regierungen, die ge­mein­­same strategische Vorausschau betrei­ben wollen, sollten sich deshalb dafür ein­set­zen, dass wissenschaftliche Forschung unter sicheren Bedingungen stattfinden kann.

Heute stehen so viele quantitative Daten über globale Ereignisse und Entwicklungen zur Verfügung wie nie zuvor. Zwar erleich­tert das den Aufbau daten­bankgestützter Modelle für strate­gische Vorausschau, die komplexe und hochauflösende Analysen von Ländern und Regionen ermöglichen. Gleichzeitig sind aber auch die Manipulationsmöglichkeiten von Daten und Informationen immens gewachsen. Das nutzen nicht nur autoritäre Regime. Im Rahmen der gemein­samen strategischen Vorausschau müssen sich jedoch alle beteiligten Akteure darauf verlassen können, dass die verwendeten Daten nicht unzulässig manipuliert werden. Vertrauen zwischen den Partnern ist ebenso Voraussetzung für den Austausch sensibler Informationen.

Transparenz ist zudem wichtig, um Entscheidungsträger davon zu überzeugen, politi­sche Maßnahmen auf der Grundlage von Empfehlungen umzusetzen, die auf Zukunfts­analysen basieren. Sie lässt sich durch die Einführung kompetitiver Elemente in der strate­gischen Vorausschau vergrößern. Die guten Erfahrungen aus Vorher­sagewettbewerben könnten dabei helfen.

Die Partner, die sich an der gemein­­samen strategischen Vorausschau betei­ligen, sollten einen solchen Wettbewerb länder­über­grei­fend ausrichten; damit wäre das Ziel ver­gleichs­weise einfach zu verwirk­lichen: eine höhere Diversität und Multi­perspektivität mit Blick auf die Früh­erkennung von relevanten Ereignissen. Das könnte ein erster Schritt auf dem Weg zu weiteren gemeinsamen Vorausschau-Aktivitäten sein.

Dr. Lars Brozus ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Amerika.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019

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