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Zwei Jahre im »Neuen Armenien«

Politische Polarisierung manifestiert sich auch in Covid-19-Krise

SWP-Aktuell 2020/A 28, 22.04.2020, 4 Seiten

doi:10.18449/2020A28

Forschungsgebiete

Im Zuge von Massenprotesten kam 2018 der Oppositionspolitiker Nikol Paschinyan in Armenien an die Macht. Angetreten war er mit einer ambitionierten Reformagenda, die bei der Bevölkerung hohe Erwartungen geweckt hat. Zwei Jahre später lautet die Bilanz »Work-in-Progress«. Covid-19 durchkreuzt aber nun die (wirtschafts-)politischen Vorhaben der Regierung. Die Krise lässt sowohl negative als auch positive Rahmen­bedingungen für die Umsetzung zentraler Reformen erkennen.

Vor fast genau zwei Jahren, im Frühjahr 2018, führten in Armenien landesweite Massenproteste zu einem politischen Um­bruch. Weite Teile der Bevölkerung waren gegen die damalige politische Führung un­ter Serzh Sargsyan auf die Straße gegangen. In ihren Augen stand er für ein System, das von Machtmissbrauch, einer Verquickung wirtschaftlicher und politischer Interessen sowie unzureichender politischer Teilhabe­möglichkeiten gekennzeichnet war. Un­mittelbarer Auslöser der Proteste war der Wechsel von Präsident Sargsyan auf den Premierministerposten – eine unter seiner Präsidentschaft eingeleitete Umstellung von einem präsidentiellen auf ein parlamenta­risches System bereitete hierfür den Weg.

Die Proteste zwangen Sargsyan zum Rücktritt; Interims-Premier wurde der An­führer der Proteste und oppositionelle Ab­geordnete Nikol Paschinyan. Im Dezember 2018 konnten er und sein »Mein-Schritt«-Bündnis in vorgezogenen Parlaments­wahlen den »Erfolg der Straße« legitimieren. Während die bis dahin dominierende »Republikanische Partei« Sargsyans den Ein­zug in die Nationalversammlung verpasste, verfügt »Mein Schritt« darin seither über die absolute Mehrheit. Die vor allem auf die innerstaatliche Entwicklung gerichtete Re­formagenda der neuen Regierung ist ehr­geizig. Zentrale Vorhaben sind der Kampf gegen Korruption, der Aufbau stabiler demo­kratischer Institutionen, die Etablierung fairen wirtschaftlichen Wettbewerbs und die Förderung inklusiven Wachstums.

Hohe Erwartungen

Zwei Jahre nach der »samtenen Revolution« sind die Zustimmungswerte Paschinyans zwar gesunken, aber noch immer hoch. In der jüngsten repräsentativen Umfrage des International Republican Institute (IRI) vom Oktober 2019 bewerten 76% der Befragten die Arbeit des Premiers positiv – höher ist nur die Zustimmung für die Armee und den Präsidenten (im Protestjahr rangierte der Premier noch an erster Stelle). Auch bei der Bewertung des Kurses, den Armenien steuert, hat die »Revolutions-Euphorie« wie zu erwarten nachgelassen: Während im August 2018 73% der Befragten der Meinung waren, das Land entwickele sich in die rich­tige Richtung, sahen das im Herbst 2019 nur noch 62% so. Trotz der Einbußen sind die Zahlen immer noch weit positiver als jene der Vorgängerregierung. Dabei sind auch die Erwartungen an Paschinyan und sein Team hoch. Gefragt nach den größten Problemen, die es zu lösen gilt, werden in den vier IRI-Umfragen, die zwischen August 2018 und Oktober 2019 durchgeführt wurden, feh­len­de Jobs an erster Stelle genannt. Als beson­ders dringlich zu regelndes Problem sahen im Oktober 2019 über 80% auch das Justiz­wesen an, das kaum Vertrauen genießt.

Work-in-Progress

Kampf gegen Korruption

Empörung über Vetternwirtschaft und Patro­nage-Netzwerke war eines der zentralen Motive, die die Bevölkerung 2018 auf die Straße trieb. Kampf gegen Korruption ist die Devise der neuen Regierung. Nach dem politischen Wechsel erregten zahlreiche Verfahren gegen prominente Persönlich­keiten Aufsehen, darunter ehemalige Minis­ter, Abgeordnete und Gouverneure. Im De­zember 2019 wurde gegen Serzh Sargsyan Anklage erhoben, wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder. Mit diesen exponierten Fällen gibt die Paschinyan-Regierung zu erkennen, dass es ihr nicht am politischen Willen fehlt, ihre Antikorruptionsagenda zu implementieren. Sie prägen zudem in der Öffentlichkeit das Bild des Kampfes gegen die Korruption.

Für eine nachhaltige Korruptionsbekämp­fung sind allerdings vor allem koordinierte strukturelle Reformen notwendig: eine Stär­kung der institutionellen Basis, eine Nach­besserung der Gesetze, insbesondere aber die konsequente und transparente Durch­setzung geltender Regeln und ein unabhän­giges Monitoring. Mit der Antikorruptions­strategie 2019–2022, die die Regierung im Herbst 2019 angenommen hat, gibt es nun eine Grundlage für einen solchen Ansatz. Die Fokussierung struktureller Reformen dürfte auch der vor allem von der (außerparlamentarischen) Opposition geäußerten Kritik entgegenwirken, die Regierung würde im Kampf gegen die Korruption selektiv vorgehen und sich auf einzelne unliebsame Personen konzentrieren. Zum Weltantikorruptionstag am 9. Dezember 2019 stellte das Transparency International Anti-Cor­ruption Center in Eriwan fest, dass im »Neuen Armenien« die systemische Korrup­tion reduziert worden sei. Noch könne man aber nicht sagen, so die Einschätzung, dass korrupte Praktiken kein Hemmnis mehr für die Entwicklung des Landes darstellten.

Neuordnung des Justizwesens

Als wesentlich für eine erfolgreiche Korrup­tionsbekämpfung und die weitere Demokrati­sierung gilt die Reform des Justiz­wesens, das viele Armenier als notorisch kompromittiert wahrnehmen. Obschon auch die Paschinyan-Regierung die Sicher­stellung einer unabhängigen, integren und effizienten Justiz als Schlüsselaufgabe begreift, hat sie sich bislang mit tiefgreifenden Reformen zurückgehalten. Die Weichen hierfür stellt nun die Justiz-und Rechts­reformstrategie 2019–2023, die im Oktober 2019 beschlossen wurde. Sie sieht unter anderem Maßnahmen für eine verbesserte Rechenschaftslegung sowie zur Förderung der Unbefangenheit und Effektivität der Gerichte vor.

Zuletzt geriet der Justizsektor vor allem anlässlich der Kontroverse um das Verfassungsgericht und seinen Präsidenten Hrayr Tovmasyan in den Blick. Das Regierungs­team sieht das oberste Gericht als Überbleibsel und Teil des korrupten, unter der Republikanischen Partei herrschenden Systems, folglich als Hemmschuh für die Umsetzung der Reformagenda. Im Zuge der 2015 reformierten Verfassung, die 2018 in Kraft trat, wurde die Amtszeit der ins­gesamt neun Verfassungsrichter auf zwölf Jahre begrenzt. Für Tovmasyan und jene sieben Verfassungsrichter, die vor dem In­krafttreten der neuen Verfassung ins Amt kamen, gilt jedoch eine »Altfallklausel«. Sie erlaubt es ihnen, bis zum Pensionsalter im Amt zu bleiben. Per Verfassungsreferendum soll diese Klausel nun eliminiert werden; die Verfassungsrichter, die vor Inkrafttreten der neuen Verfassung eingesetzt wurden, wür­den abberufen. Der Versuch, die Verfassungsrichter mittels finanzieller Anreize zu bewegen, sich freiwillig frühverrenten zu lassen, war zuvor gescheitert. Tovmasyan und seine Unterstützer werten die von der Regierung getroffenen Maßnahmen als politisch motivierten Versuch, Einfluss auf das Verfassungsgericht zu nehmen, und als vorläufigen Höhepunkt einer persönlichen Vendetta Paschinyans gegen Vertreter der entmachteten Elite. Im Dezember war Tov­masyan wegen angeblichen Machtmiss­brauchs während seiner Amtszeit als Justiz­minister angeklagt worden.

Die Gräben zwischen Anhängern der Republikanischen Partei sowie den frühe­ren Präsidenten Sargsyan und Kocharyan auf der einen und den Vertretern und Sym­pathisanten der Paschinyan-Regierung auf der anderen Seite sind tief. Für die Regie­rung ist mit der Polarisierung ein Dilemma verbunden: Einerseits kann die frühere politische Elite die ihr verbliebenen Hebel nutzen, um die Umsetzung der Reformen zu behindern und so eigene Partikularinter­essen zu wahren. Andererseits machen radikale Reformen wie etwa das Vorgehen gegen das Verfassungsgericht die neue Füh­rung selbst angreifbar, werfen diese doch ihrerseits Fragen in Hinblick auf eine mög­liche Macht­konzentration auf. In jedem Fall dürften sich die Fronten weiter verhärten.

Revolution im Wirtschaftssektor

Die Hauptsorge der Bürgerinnen und Bür­ger gilt den sozio-ökonomischen Problemlagen. Die Erwartung an die Regierung wächst, dass sie Verbesserungen beim Lebensstandard erwirkt: Während sich in der IRI-Umfrage vom Oktober 2018 61% für schnelle oder möglichst schnelle Reformen aussprachen, waren es im Oktober 2019 75%. Nach den aktuellsten Daten des arme­nischen Statistikamts, die von 2018 datie­ren, lag die Arbeitslosigkeit bei 19%; ins­besondere die Situation vieler junger Men­schen ist prekär. Gemäß Daten der Inter­nationalen Arbeitsorganisation waren 2017 fast 37% der 15- bis 24-Jährigen weder be­schäftigt noch in schulischer oder beruf­licher Ausbildung. Die Armutsquote ist zwar seit einigen Jahren rückläufig, 2018 bezif­ferte sie sich aber immer noch offiziell auf 23,5%. Der Mangel an geeigneten Ar­beits­plätzen im Land war in der Vergangenheit Ursache für massive Abwanderung und eine starke Abhängigkeit von Rücküberweisungen jener, die im Ausland arbei­ten. Laut Daten der Weltbank machten Rück­überweisungen 2018 12% des Brutto­inlandsprodukts (BIP) aus.

Angesichts dieser Herausforderungen kündigte Paschinyan im Februar 2019 eine »wirtschaftliche Revolution« an. Der Slogan ist Programm: Im Wesentlichen sollen politische Kernziele auch in der Wirtschaft verfolgt werden. Folglich kommen Anti­korruptionsanstrengungen, Antimonopolmaßnahmen und dem Abbau wettbewerbs­widriger Vergünstigungen eine zentrale Rolle zu. Entsprechende Vorhaben werden unter anderem von der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Europäischen Union unterstützt. Beob­achter sind sich einig, dass diese Maßnahmen an den richtigen Stellen ansetzen. Gravierende Defizite beim freien und fairen Wettbewerb, wie sie unter der Vorgängerregierung bestanden, gelten als zentrales Hindernis für wirtschaftliches Wachstum.

Neben der Behebung regulatorischer Mängel und dem Aufbau von Kapazitäten zur Überwachung und Durchsetzung hat das Justizwesen eine Schlüsselfunktion. Schließlich sind unabhängige und effektive Gerichte eine wichtige Voraussetzung, um Rechtsansprüche einzuklagen. Auch für die Umsetzung der »wirtschaftlichen Revolu­tion« sind Justizreformen daher essentiell. Offen ist, inwieweit Wirtschaftswachstum auch (schnelle) Erfolge bei der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Armut zeitigen hilft. In der Vergangenheit hat sich die posi­tive Entwicklung des BIP, so eine Studie des IWF, kaum auf die Arbeitslosenzahlen niedergeschlagen. Paschinyan sieht Arme­niens Zukunft in einer wissensbasierten Wirtschaft mit einem florierenden Infor­mations- und Hochtechnologiesektor als Motor. Auf diese Weise ließe sich der Man­gel an Konnektivität – zwei der vier Gren­zen sind geschlossen – ausgleichen. Die Frage ist aber, für wie viele Armenierinnen und Armenier sich hier berufliche Chancen eröffnen und wie sie sich schnell notwen­dige Qualifikationen aneignen können.

»Neues Armenien« und Covid-19

Aufgrund der grassierenden Coronavirus-Pandemie müssen insbesondere die Wirt­schaftsprognosen und anvisierten Entwicklungshorizonte angepasst werden. Von den drei südkaukasischen Ländern weist Arme­nien bezogen auf die Bevölkerungsgröße der­zeit die meisten bestätigten Infektionsfälle auf. Tourismus, Rücküberweisungen vor allem aus Russland und Warenexporte dort­hin sind nur einige Elemente, bei denen die Auswirkungen der Pandemie zu spüren sein werden. Hinzu kommt, dass von Drittlän­dern ergriffene Eindämmungsmaßnahmen wie (Ein-)Reisebeschränkungen dem Ein­fluss der Regierung in Eriwan entzogen sind.

Die Regierung hat ein Hilfspaket geschnürt, das sowohl Unternehmen als auch Bürgerinnen und Bürgern verschiedene Optionen finanzieller Unterstützung bietet und sich – so der derzeitige Stand – auf 2% des BIP belaufen soll, also auf rund 300 Millionen US-Dollar. Inwie­weit damit die wirtschaftlichen Einbußen und Nöte abgefedert werden können und wer sich damit überhaupt erreichen lässt, muss sich zeigen. Armeniens Bevölkerung, für deren Mehrheit eine Verbesserung des Lebensstandards Priorität hat, wird sich weiter in Geduld üben müssen. Erst ein­mal steht das öffentliche Leben still. Seit 17. März 2020 herrscht der nationale Notstand. Infolge­dessen wurde schließlich auch das auf den 5. April angesetzte Verfassungsreferendum über die Neuordnung des Verfassungs­gerichts auf unbestimmte Zeit vertagt.

Auch in etablierten Demokratien rufen die gegen die Ausbreitung von Covid‑19 eingeleiteten Notstandsmaßnahmen und Eingriffe in freiheitliche Grundrechte Kon­troversen hervor. Im Zwist mit der neuen Führung bringt die entmachtete politische Elite die veranlassten Maßnahmen als Argu­mente gegen die Regierung in Stellung, diese würde ihren eigenen Demokratisierungsanspruch unterminieren. Die Paschi­nyan-Regierung reagiert nervös auf solche Vorwürfe: Bei Journalistenorganisationen, aber auch beim Beauftragten für Medienfreiheit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa rief ein Gesetz Kritik hervor, das die Verbreitung von »fake news« im Zusammenhang mit Covid‑19 unterbinden soll und dabei in die Medienfreiheit eingreift. Daraufhin wurde es in seiner Reichweite abgeschwächt. Anders das kontroverse Gesetz zum Handytracking, das trotz eines Boykotts der Opposition am 31. März 2020 im Parlament angenommen wurde. Derzeit gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass (außerparlamentarische) Oppo­sition und Regierung im Kampf gegen das Virus zusammenfinden. Streitigkeiten wie die über die Neuordnung des Verfassungs­gerichts sind lediglich auf Eis gelegt.

Jenseits der parteipolitischen Auseinandersetzung zeigen die Debatten über den richtigen Umgang mit der Krise aber auch, dass zivilgesellschaftliche Organisationen im »Neuen Armenien« ihre Watchdog-Rolle weiterhin wahrnehmen – angesichts der Nähe des Paschinyan-Teams zu diesen Krei­sen und seiner Wurzeln darin gab es daran zunächst Zweifel. Nicht zuletzt für die an­stehende Umsetzung der Reformen bei der Korruptionsbekämpfung und im Justiz­wesen ist das ein gutes Zeichen.

Dr. Franziska Smolnik ist Stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364