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Zum Stand der Konsensfähigkeit der EU

Kleine oder große Lösung, um qualifizierte Mehrheits­entscheidungen auszuweiten?

SWP-Aktuell 2024/A 24, 19.04.2024, 8 Seiten

doi:10.18449/2024A24

Forschungsgebiete

Die Debatte in der Europäischen Union (EU) über die Ausweitung von Mehrheits­entscheidungen geht in eine neue Runde. Insbesondere Deutschland sucht unter dem Eindruck der teils schwierigen Entscheidungsfindung in der Außen- und Sicherheitspolitik sowie unter der Perspektive künftiger Erweiterungen eine Koalition für mehr Mehrheitsentscheidungen. Unterbeleuchtet ist in der Debatte, wie und mit welchem Ergebnis Mehrheitsentschei­dungen in der Praxis genutzt werden. Eine Ana­lyse der im neuen EU Council Monitor der SWP aufbereiteten öffentlichen Abstim­mun­gen im Rat seit 2010 zeigt: Die EU-Mitglied­staaten streben in der Regel auch bei Mehrheits­entscheidungen einen Konsens an. Größere Gruppen von Mitgliedstaaten werden so gut wie nie überstimmt. Zunehmend ragen aber mit Ungarn und Polen zwei Staa­ten heraus, die – auf einem etwas niedrigeren Niveau als Großbritannien vor dem Brexit – häufiger überstimmt werden als andere. Ein Ausweg aus dem Dilemma zwischen Handlungsfähigkeit der EU und dem Schutz legitimer nationaler Inter­essen könnte ein gut ausbalanciertes Souveränitätssicherheitsnetz sein.

Die Diskussion über die Ausdehnung von Mehr­heitsentscheidungen in der EU ist nicht neu. Mit jeder Vertragsänderung wurde bis­her in weiteren Politikbereichen das Ent­scheidungsverfahren umgestellt, das heißt von Einstimmigkeit im Rat auf Ent­schei­dun­gen mit quali­fizierter Mehrheit (Qualified Majority Voting, QMV). Dies betraf ebenfalls Politikfelder, die für die natio­nale Souveränität der Mitgliedstaaten wich­tig sind, etwa die Justiz- und Innen­politik. Seit dem Ver­trag von Lissa­bon aber ist der Großteil der EU-Staaten nicht bereit, wei­tere Ver­trags­änderungen vorzunehmen. Dennoch gab es immer wie­der Initiativen, die Passe­relle- oder ›Brückenklauseln‹ zu nutzen. Dadurch könnte man ohne Ver­trags­ände­rungen zu anderen Entscheidungsverfahren übergehen: von Einstimmigkeit zur quali­fi­zierten Mehr­heit oder von Sonderverfahren zum ordent­lichen Gesetz­gebungs­verfah­ren, wodurch das Europäische Parla­ment Mitentscheidungs­rechte bekäme (siehe hierzu SWP-Aktuell 60/2022). Bisher liefen aber auch diese Ini­tia­tiven ins Leere.

Neue Dynamik in alter Debatte

2023/24 hat die Debatte über die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen sowohl in der kurz- bis mittelfristigen als auch in der langfristigen Perspektive an Dyna­mik gewonnen. In der kurz- bis mittelfristigen Perspektive steht die Außen- und Sicher­heitspolitik im Vordergrund. Hierzu hat sich 2023 die ›Freundesgruppe für Quali­fi­zierte Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik der EU‹ konsti­tuiert, der neben Mitinitiator Deutschland inzwischen zehn weitere EU-Staaten an­ge­hören. Dass die Außen- und Sicherheits­poli­tik im Fokus steht, liegt nicht nur an der geostrategischen Herausforderung für die EU durch den russischen Krieg gegen die Ukraine. Eine Rolle spielt ebenso die (heftig kritisierte) zu­neh­mende Nutzung von ›takti­schen Veto­s‹ in der Gemein­samen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) mit dem Ziel, Zugeständ­nisse in Politikfeldern zu erzwin­gen, die nicht originär mit der Entscheidungs­grundlage zu tun haben.

Die Freundesgruppe zielt bewusst auf eine Politik der kleinen Schritte ab – so sollen nur in Teilbereichen der GASP Ent­scheidungen per qualifizierter Mehrheit ein­geführt werden, ohne Vertragsänderungen und unter Anwendung der Passerelle-Klausel. Anbieten würden sich hierfür Beschlüsse zu zivi­len Operatio­nen der Gemeinsamen Sicher­heits- und Verteidigungspolitik (GSVP), Sanktions­beschlüsse oder Stellungnahmen zu Men­schen­rechtsfragen. Die Mitglieder der Freundesgruppe streben ausdrücklich keine Vertragsänderungen an, sie wollen keine Vor­entscheidungen in Bezug auf QMV in anderen Bereichen treffen und sich zu­dem selbst verpflichten, in Zukunft stär­ker die ›konstruktive Enthaltung‹ in der GASP zu nutzen. Gleichwohl gilt auch bei An­wen­dung der Passerelle-Klausel: Am Ende müssen alle EU-Mitgliedstaaten im Europäischen Rat dem Wechsel zu Mehr­heits­ent­schei­dungen zustimmen und dies auf natio­naler Ebene ratifizieren – in vielen Staaten einschließ­lich Deutschlands mit parlamentarischen Verfahren. Auch der sehr fokus­sierte An­satz der Freundesgruppe müsste also alle 27 EU-Staaten überzeugen, den Weg über die Passerelle-Klausel mitzugehen.

Die langfristige Perspektive steht im Zei­chen der EU-Reform, die wiederum mit der nächsten Erweiterung zusammenhängt. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hat die EU der Ukraine, der Republik Moldau und Geor­gien eine Beitrittsperspektive er­öff­net und im Dezember 2023 beschlossen, mit den ersten beiden Beitrittsverhandlungen auf­zu­nehmen. Außerdem wurden die Bei­tritts­prozesse mit den Staaten des West­bal­kans (bei fort­bestehenden bilateralen Blocka­den) wiederbelebt. Die Perspektive einer EU mit 30 oder mehr äußerst unter­schied­lichen Mitgliedern ist damit zurückgekehrt – und mit ihr die Debatte über die notwendige Reform der EU.

Angesichts dieser möglichen Entwicklung forderte Bundeskanzler Olaf Scholz im August 2022 in seiner Prager Rede, ›schritt­weise‹ zu mehr Mehrheitsentscheidungen überzugehen, etwa in der Außen- oder in der Steuerpolitik. Im September 2023 legte eine deutsch-französische Exper­tengruppe Vorschläge für die Reform und die Erweite­rung der EU vor, die unter anderem einen Übergang zu QMV bei allen Politik­beschlüs­sen der EU vorsehen. Im Dezember ver­ein­barten die EU-27 (unter kurzfristiger Ab­wesenheit des ungarischen Ministerpräsi­den­ten Viktor Orbán) nicht nur, Beitritts­verhand­lungen mit der Ukraine und Moldau zu beginnen, son­dern auch, dass die EU in der kommenden Legis­latur­periode refor­miert werden müsse, um ihre Auf­nahme­bereit­schaft und Handlungsfähigkeit zu stärken. Wie diese Reformen aussehen sollen und ob mehr Mehrheitsentscheidungen dazu­gehören, wurde vom Europäischen Rat ex­plizit nicht vereinbart. In einer sepa­raten Initia­tive haben Deutschland und Slowe­nien zudem die Idee ein­ge­bracht, bei tech­nischen Entscheidungen zur Erweiterung QMV ein­zuführen – aller­dings nicht bei großen poli­tischen Ent­schei­dungen wie derjenigen, welche Länder schließ­lich auf­genommen werden. Ziel ist, Erweiterungsprozesse all­gemein zu beschleu­nigen.

Zurzeit ist noch offen, ob und in welcher Form eine Ausweitung von Mehrheitsentschei­dungen Eingang findet in ein Paket zur Reform­ der EU. Sicher ist nur, dass der Re­form- und der Erwei­terungs­prozess parallel verhandelt wer­den sollen und beides sehr langfristige Pro­zesse mit der Perspektive 2030+ sind. Sowohl für die Erweiterung als auch die Reform – sei es über Vertragsände­rungen, Beitritts­verträge oder Instrumente wie die Passerelle-Klausel – gilt: Keine kon­stitutionellen Ent­scheidungen ohne Ein­stimmigkeit, auch nicht der Übergang zu Mehrheitsentscheidungen.

Zwischen Handlungsfähigkeit der EU und nationaler Souveränität

Dass sich alle EU-Mitgliedstaaten für mehr Mehrheitsentscheidungen aussprechen, scheint aktuell in weiter Ferne. Vielmehr lassen sich hier drei Gruppen von EU-Staa­ten unterscheiden. Im Kern geht es in der De­batte um die Frage, wie die Balance zwi­schen Hand­lungs­fähig­keit der EU einerseits und nationaler Souveränität andererseits gewahrt werden kann; aber auch die Angst vor der Dominanz großer Mitgliedstaaten spielt eine Rolle.

Zur ersten Gruppe, den Befürwortern der Ausdehnung von QMV, gehören neben Deutschland etwa Belgien und Spanien, bezüglich der GASP ebenso Finnland und Slowenien. Sie betonen, dass durch mehr Mehr­heits­entschei­dungen die Handlungs­fähigkeit der EU gestärkt würde. Allerdings sei es nicht Ziel, regel­mäßig Grup­pen von Mitgliedstaaten zu überstimmen – was in der Praxis, wie unten auf­gezeigt, bisher auch selten der Fall ist –, son­dern die Verhandlungs­situa­tion so zu verändern, dass sie von Beginn an auf Kompromiss­suche ausgerichtet ist. Ferner solle damit die Einflussnahme externer Akteure wie Russland oder China über einzelne Veto­spieler in der EU ver­hindert werden.

Eine zweite Gruppe insbesondere kleiner und mittelgroßer EU-Staaten lehnt weitere Mehrheitsentscheidungen nicht prinzipiell ab, hat aber zwei sehr konkrete Befürch­tun­gen: Auf der einen Seite hat jeder EU-Staat in sensiblen Berei­chen wie der Außen- und Sicherheitspolitik zentrale nationale Inter­essen, in denen er auf keinen Fall EU-Be­schlüsse gegen seinen Willen sehen will. Hier­zu gehört etwa die Russland-Politik für die baltischen Staa­ten oder die Türkei-Poli­tik für Griechenland und Zypern. Auf der anderen Seite befürch­ten gerade klei­nere und mittelgroße Staa­ten, dass die gro­ßen, namentlich Deutschland und Frank­reich, die Beschlussfassung domi­nieren würden. Da sich die qualifizierte Mehrheit entlang der Bevölkerungsgröße berechnet, brauchen Deutschland (18,7 Prozent) und Frank­reich (15,1 Prozent) nur wenige Partner, um die Blocka­de­minderheit von mindestens 35 Pro­zent der repräsentierten EU-Bevöl­kerung zu erreichen, wobei mindestens vier Staaten insgesamt not­wendig sind. Staaten wie Est­land (0,3 Prozent), Irland (1,15 Prozent) oder Tschechien (2,4 Prozent) benö­tigen ent­weder große Staaten als Partner oder viele kleinere. Bei Ein­stim­migkeit hingegen hat jede ein­zelne natio­nale Regierung (rechtlich betrachtet) das gleiche Stimmengewicht.

Zuletzt gibt es mit Ungarn mindestens einen EU-Staat, der Mehrheitsentscheidungen grundsätzlich kritisch sieht und eine Rückkehr zu mehr Inter­gouvernementalität und Ein­stimmigkeit fordert. Dies gilt beson­ders für die EU-Mig­rations- und ‑Asyl­poli­tik – die Mehrheits­beschlüsse von 2015/16 zur EU-Flüchtlings­verteilung sieht Ungarn als Ver­letzung seiner nationalen Souveränität an. Die zur­zeit verhandelte Reform des Gemein­samen Euro­päischen Asylsystems (GEAS), bei der die Positionierung des Rates eben­falls nur mit Mehrheitsentscheidungen ver­abschiedet werden konnte, lehnt die un­ga­rische Regierung strikt ab. Gemeinsam mit Polens damaligem Ministerpräsidenten Morawiecki hat Ungarns Ministerpräsident Orbán mehrfach versucht, die GEAS-Reform auf die Ebene des Europäischen Rates und damit zur Einstimmigkeit zu holen. Die anderen Mitgliedstaaten erteilten dem je­doch eine Absage. In der Folge haben Ungarn und Polen mehrere Monate lang Schluss­folge­rungen des Europäischen Rates zur Mig­ra­tionspolitik blockiert, die dann – ohne Zu­stimmung der beiden Länder – im Namen des Präsidenten des Euro­päischen Rates Charles Michel veröffentlicht wurden. Die neue polnische Regierung hat zwar von dieser Fundamentalopposition Abstand ge­nom­men, ist aber dennoch dagegen, Mehr­heitsentscheidungen auszuweiten.

Grafik 1

Grafik 1: Konsensrate bei Mehrheitsentscheidungen im Rat der EU, 2010 bis 2023

Hoher Konsens auch bei QMV

Um diese festgefahrenen Positionen zu über­winden und die Debatte voranzubringen, lohnt sich ein Blick auf die Praxis: Wie und mit welchem Ergebnis werden Ent­schei­dun­gen mit quali­fizierter Mehrheit genutzt? Hierzu hat die SWP im EU Council Monitor das Abstimmungs­verhalten der nationalen Regierungen in über 1.300 öffentlichen Ab­stimmungen im Rat erfasst, und zwar seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages bis September 2023.

In diesen Abstimmungen zeigt sich eine erstaunlich hohe Konsensrate unter den Mitgliedstaaten – im Durchschnitt erziel­ten diese bei knapp 83 Prozent der Abstim­mungen einen Konsens, obwohl Mehrheitsbeschlüsse mög­lich gewesen wären. Die Kon­sensrate um­fasst diejenigen Abstimmun­gen mit qualifizierter Mehrheit, in denen es keine Gegen­stimmen gab, poten­ziell aber Ent­hal­tungen. Über die Zeit ist die Konsens­rate bemerkenswert stabil. Bis zum Brexit lag sie bei 82 Prozent, seit dem Brexit sogar bei 85 Pro­zent. Betrachtet man nur die Ab­stim­mun­gen, in denen alle Staaten zuge­stimmt haben, es also auch keine Enthal­tun­gen gab, liegt der Wert für den gesamten erfassten Zeitraum noch bei 64 Pro­zent.

Eine Veränderung der Konsens­rate lässt sich hin­gegen erken­nen, wenn man einzelne Politikfelder untersucht: Im Bereich Finan­zen etwa konnte bis zum Brexit bei 85 Pro­zent der Abstimmungen ein Konsens gefun­den wer­den, seit dem Brexit bei 93 Pro­zent. Im Bereich Institutionelles ist die Konsensrate ebenfalls gestiegen, von 67 auf 100 Pro­zent. Von 80 auf 70 Prozent gesun­ken ist sie dagegen im Bereich Justiz und Inneres, zu dem die GEAS-Reform gehört (siehe Grafik 1).

Die hohe Konsensrate bedeutet zum einen, dass am Ende von EU-Verhand­lun­gen – allen Differenzen zum Trotz – in der Regel alle Mitgliedstaaten dem er­arbei­teten Kompromiss zustimmen können. Zu­dem scheuen die nationalen Regierungen es, grö­ßere Gruppen von Staaten zu über­stim­men, selbst wenn rechnerisch bereits eine qualifizierte Mehrheit erreicht ist. Abstimmungen, in denen vier oder mehr Mitgliedstaaten über­stimmt werden, blei­ben damit eine abso­lute Seltenheit. Zum anderen zeigt die hohe Konsensrate aber ebenso, dass Mehr­heits­entscheidungen allein keine Lö­sung für Schwierigkeiten der EU in puncto Handlungsfähigkeit sind: Denn auch bei QMV können Verhandlungen im Rat lange dauern oder sogar dauer­haft blockiert sein, wenn die EU-Staaten in mehrere große Gruppen gespalten sind.

Keine strukturellen Minderheiten

Aufschlussreich für die Debatte über die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen ist ein Blick darauf, welche Staaten häufiger überstimmt werden. Wie die Aus­führungen zur Konsensrate bereits andeuten, stand ein Staat lange im Fokus – Großbritannien. Es führt die Liste der am häufigsten überstimm­ten Länder klar an, und zwar sowohl in der Betrachtung bis zum offiziellen Austritt aus der EU als auch in der Gesamtbetrachtung: Insge­samt wurde das Vereinigte Königreich (VK) 167­‑mal überstimmt. Damit war es in seiner Zeit als Mitglied bei gut 16 Pro­zent aller Abstimmungen in dieser Situation (siehe Grafik 2, Seite 6). Im Kont­rast dazu steht Frankreich, das im gesam­ten Beob­ach­tungs­zeitraum nur 5‑mal über­stimmt wurde. Dies entspricht deutlich weni­ger als einem Pro­zent der Abstimmungen.

Vergleicht man das Abstimmungsverhalten vor und nach dem Brexit, so ragen nun­mehr zwei Mitgliedstaaten heraus, deren Regierungen öfter in der Minderheit sind –Ungarn und Polen (sowie Bulgarien). Vor dem Brexit sah dies anders aus: Zwischen 2010 und 2020 waren nach Großbritannien Öster­reich, Deutschland und die Nieder­lande auf den Plätzen zwei bis vier die am häufigsten überstimm­ten Länder. Dennoch ist fest­zu­halten, dass das VK bis zum Brexit fast 3‑mal so oft überstimmt wurde wie Öster­reich und fast 7‑mal so oft wie das zehntplatzierte Bul­garien. Seit dem Brexit wurde das jetzt an der Spitze stehende Ungarn 2,3‑mal so oft wie das viertplatzierte Österreich über­stimmt und etwas mehr als 4‑mal so oft wie das zehntplatzierte Tsche­chien. Damit ist Ungarn noch immer er­heblich konsens­fähi­ger, als es das VK vor seinem Austritt war.

Zwei weitere Dinge fallen beim Abstimmungsverhalten Polens und Ungarns nach dem Brexit auf. Erstens votierten beide häu­fi­ger mit Nein, anstatt sich zu enthalten; dies signalisiert, dass sie einen EU-Beschluss rundherum ablehnten. Zwei­tens stimmten sie deutlich häufiger gemeinsam gegen einen Beschluss – also bestand zumindest bis zum Regie­rungswechsel in Warschau im Dezem­ber 2023 ein Schulterschluss zwi­schen Warschau und Budapest.

Dass alle vier Staaten der Visegrád-Gruppe (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei) über­stimmt wurden, findet sich in den Daten kein einziges Mal. Dies lässt darauf schlie­ßen, dass weiter­verhandelt wurde, wenn alle vier gemeinsam eine Vor­lage ablehnten, Polen und Ungarn aufgrund relativ gesunke­ner Konsensbereitschaft aber bei ihrer Hal­tung blieben und am Ende überstimmt wur­den. Betrachtet man alle Abstimmungen mit Gegenstimmen im gesamten Untersuchungs­zeitraum, gab es bis zum Brexit nur einen einzigen Fall, in dem Polen und Ungarn gemeinsam überstimmt wurden: eine Ab­stimmung zur Sozialpolitik. Seit dem Brexit geschah dies je einmal in den Politikbereichen Wirtschaft, Ener­gie und Umwelt sowie dreimal in der Innen- und Justizpolitik. Zum Vergleich: Deutschland und Frankreich wur­den im März 2024 erstmals überhaupt bei einer öffentlichen Abstimmung gemein­sam über­stimmt, im Fall der Richtlinie über Plattformarbeit.

Interessant ist auch ein Vergleich mit den Mitgliedern der ›Freundesgruppe für QMV‹: Ihr gehö­ren sowohl Staaten wie Frankreich oder Italien an, die in den öffent­lichen Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit selten bis nie überstimmt wur­den, als auch mit Belgien, Deutschland, den Niederlanden oder Schweden (als Beobachter) solche, die relativ häufig überstimmt wurden. Zählt man für den gesamten Zeit­raum seit 2010, wurde Deutschland ähnlich häufig über­stimmt wie Polen oder Ungarn.

Grafik 2: Überstimmungen pro EU-Mitgliedstaat vor und nach dem BrexitGrafik 2

Selbst wenn Polen und Ungarn zuletzt öfter überstimmt wurden als andere EU-Mitglieder, ist eine strukturelle Minderheit nicht zu erkennen. Das heißt, es verhält sich nicht so, dass ein Staat oder eine Staa­ten­gruppe mit hoher Regelmäßigkeit in einer Reihe ver­schiedener Politikfelder überstimmt wird. Gleichzeitig fällt das ver­änderte Abstimmungs­verhalten der ge­nann­ten Länder seit dem Brexit auf – Polen votierte nie dafür, wenn Ungarn dagegen votierte, und umge­kehrt.

Umstrittene Politikbereiche

Nicht nur die Zahl der Überstimmungen unterscheidet Ungarn und Polen von Groß­britannien, sondern auch die Poli­tikfelder, in denen sie stattfanden. Das VK wurde am häufigsten bei Abstimmungen zu Finanzen (26 Prozent) und zu Auswärtigem (18 Pro­zent) über­stimmt, vor allem aber bei denen zu institutionellen Fragen (46 Pro­zent), die das Wesen und Funk­tionieren der Europäischen Union als Ganzes betref­fen. Für Polen und Ungarn stehen andere Politik­bereiche im Vordergrund: Die drei, in denen sie seit dem Brexit am häufigsten überstimmt wur­den, sind Umwelt, Justiz und Inneres sowie Verkehr bzw. Sozialpolitik. Die umstrittene GEAS-Reform, die Orbán als Argument für seine Forderung anführt, zur Einstimmigkeit zurückzukehren, fällt in den Bereich Justiz und Inneres.

Auch insgesamt betrachtet sticht die für Polen und Ungarn nach dem Brexit gestie­gene Überstimmungs­quote im Bereich Justiz und Inneres hervor. Dieser umfasst unter anderem die Migrationspolitik, die die beiden Länder stark kritisieren und poli­tisieren. Schaut man auf diesen Politik­bereich im Ganzen, so ist die Konsensrate im Ver­gleich zu der Zeit vor dem Brexit nur leicht ge­sun­ken (von 80 auf 70 Prozent, siehe Grafik 1, Seite 4). Die Konsensfähigkeit Polens und Ungarns in diesem Politikfeld hat nach dem Brexit hingegen auf­fällig ab­genommen. Dies ist zum einen ihrer Lage an der EU-Außen­grenze geschul­det, zum ande­ren aber auch der starken Politi­sierung von Asyl­rechts­fragen. Dessen un­geachtet ist zu kon­s­tatie­ren: Anders als Groß­britannien drü­cken Polen und Ungarn mit ihren Ent­hal­tun­gen bzw. Nein-Stimmen insgesamt (noch) keine Ab­leh­nung der institutionellen Prozesse der EU aus – und damit letztlich der EU als sol­che –, son­dern verweisen auf Dissens in einem inhalt­lich klar abgegrenzten Politik­feld.

QMV-Ausweitung mit Sicherheitsnetz

Aus der Analyse des Abstimmungsverhaltens lassen sich zwei Schlussfolgerungen ziehen: Auf der einen Seite dienen Ent­schei­dungen per quali­fizierter Mehrheit in den Politikbereichen, in denen sie heute schon angewendet werden, primär als Auf­forderung, einen Konsens zu suchen und sich kompromissbereit zu zeigen. Der Rat der EU fungiert noch sehr als zwi­schen­staatliches Gremium, in dem die nationalen Regierungen im überwiegenden Fall Ein­stimmigkeit oder zumindest einen Konsens anstreben. Das Überstimmen einzelner Re­gie­rungen oder gar größerer Gruppen von Regierungen bleibt eine Selten­heit. Die Kon­sens­fähigkeit der EU‑27 ist nach wie vor hoch, selbst wenn zwischen den Mitgliedstaaten Differenzen bestehen.

Dementsprechend dürfte die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen nicht dazu führen, dass im großen Stil Regierungen überstimmt wer­den – mithin auch nicht in sensiblen Bereichen wie der Außen- und Sicherheits- oder der Steuerpolitik. Dies stärkt die Argumentation der ›Freun­des­gruppe für QMV‹. Zudem ist es für die demokratische Legitimation der EU wichtig, dass in der Regel ein Konsens aller Staaten gesucht und ge­fun­den wird.

Auf der anderen Seite macht der Blick in die Abstimmungsprotokolle deutlich, dass es durchaus Staaten gibt, die erkennbar häufiger überstimmt werden als andere. Auch und gerade mit der Perspektive auf eine (noch) heterogenere EU mit 30 oder mehr Mitgliedstaaten sollte eine Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen mit Mechanismen einhergehen, die nicht nur die legitimen nationalen Interessen in kriti­schen Bereichen schützen, sondern gleich­zeitig mehr Handlungsfähigkeit ermög­lichen, als es das Festhalten am Einstimmig­keitsprinzip momentan tut.

Kleine oder große Lösung

Wenn die Bundesregierung ihr Ziel, Mehr­heitsbeschlüsse erheblich auszuweiten, verwirklichen möchte, stellen sich aktuell mindestens zwei strategische Fragen. Die erste betrifft die Abwägung zwischen ›klei­ner‹ und ›großer‹ Lösung: Die kleine, kurz­fristige Lösung entspricht dem Bestre­ben der Freundesgruppe, QMV in einzelnen, ausgewählten Teilbereichen der GASP ein­zuführen, etwa bei Beschlüssen zu zivi­len GSVP-Operationen, bei Sanktio­nen oder bei Stellungnahmen zu Menschenrechtsfragen. Der Vorteil wäre, dass damit Mehrheits­entscheidungen in der Außen- und Sicher­heitspolitik erprobt und erstmals die Passe­relle-Klausel angewendet werden könnte. Doch auch dafür wäre Einstimmigkeit not­wendig, und viel politisches Kapital müsste eingesetzt werden, um diese, wenn über­haupt, zu erreichen. Angesichts der eher begrenzten Ausweitung wäre die EU am Ende nicht substanziell handlungsfähiger.

Bei der großen, langfristigen Lösung hingegen würde die Frage der Ausdehnung von Mehrheitsentscheidungen mit der Er­weiterung der EU verknüpft. Als Teil eines größeren Reformprogramms würde das Anwendungsgebiet von Mehrheits­beschlüs­sen generell ausgeweitet und dies bis zur Aufnahme des nächsten Mitgliedstaats erfolgen. Auf diese Weise könnte man um­fassender an die Reform der EU-Entschei­dungsprozesse herangehen; in ganzen Poli­tik­feldern würde auf Mehr­heits­ent­scheide umgestellt. Dies gäbe der EU einen echten Schub in puncto Handlungsfähigkeit. Die Verknüpfung mit der Er­wei­terung und der dazugehörigen Reform­agenda für Insti­tu­tionen, Haushalt und die einzelnen Politik­bereiche würde die Ein­bettung in ein breite­res Reformpaket er­mög­lichen, um mit allen Mitgliedstaaten einen Ausgleich zu finden. Doch dieser Pro­zess wird ein langer sein, mindestens über die gesamte nächste EU-Legislatur­periode, mit weithin ungewissem Ausgang.

Die Politik kann und sollte beide Strategien parallel verfolgen. Trotz allem gilt, jede Änderung hin zu mehr Mehrheitsentscheiden erfordert Einstimmigkeit und da­mit kom­plexe Ausgleichsprozesse mit allen Mitgliedstaaten. Ein Ausgleich dürfte in einer großen Reform – auch und gerade mit dem Ziel einer umfassenden Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen – bes­ser zu erreichen sein als bei einer iso­lierten, in der nur wenige ›Aus­gleichs­zahlungen‹ möglich sind. Ferner könnten bei einer großen Reform umfangreichere Änderungen an der QMV-Beschluss­fassung geprüft werden, etwa um die Stimm­rechte von kleinen und großen EU-Staaten in einer erweiterten Union anzupassen.

Bei der zweiten strategischen Frage geht es darum, wie eine Balance hergestellt wer­den kann zwischen den legitimen nationalen Interessen – insbesondere in Politik­feldern, die für die nationale Souveränität bedeutsam sind – und dem Ziel Handlungs­fähigkeit der EU. Darüber hinaus spielt die Balance zwischen großen und kleinen Mit­gliedstaaten eine Rolle. Der Schlüssel hier­zu könnte ein ›Souveränitätssicherheitsnetz‹ sein, wie es zum Beispiel die deutsch-fran­zö­sische Expertengruppe zur Reform und Erweiterung der EU vorgeschlagen hat. Ein solches Sicherheitsnetz würde es Mitgliedstaaten erlauben, Entscheidungsprozesse trotz QMV in den Europäischen Rat zu ver­legen, wenn vitale nationale Interessen be­rührt sind. Dort könnte auf oberster politi­scher Ebene ein Konsens erarbeitet werden.

Der EU-Vertrag kennt bereits ver­gleich­bare ›Notbremsen‹ oder Sicherheitsnetze, etwa in der GASP (Art. 31 Abs. 2 EUV). Für die konkrete Aus­gestaltung wären vor allem zwei Faktoren entscheidend, das Aus­lösen des Netzes und die finale Ent­schei­dungs­kapazi­tät. Beim Aus­lösen steht die Frage im Mittelpunkt, ob eine nationale Re­gierung allein, nur in der Gruppe mit ande­ren oder mit einem Kont­roll­gremium ein solches Schutzinstrument aktivieren könnte. Aus gesamteuropäischer Perspektive wäre eine Kombination zu emp­fehlen: Auslösen durch einen einzelnen Mit­glied­staat, aber eine Art Peer Review durch eine qua­li­fizierte Mehr­heit des Rates, die akzep­tiert, dass zent­rale nationale Interessen betroffen sind. So ist es etwa in Artikel 31 Absatz 2 EUV vorgesehen. Dies er­mög­lichte jedem Staat, seine Kerninter­essen einzubringen, und würde gleichzeitig vor Missbrauch des Inst­ruments als Quasi-Veto schützen.

Bei der finalen Entscheidungskapazität geht es darum, was passiert, wenn das Sicher­heitsnetz ausgelöst worden ist – ent­scheidet dann der Europäische Rat end­gül­tig, oder gibt es eine Frist und noch einen Weg zurück zu Mehrheitsentscheidungen? Wenn die anderen Mitgliedstaaten ein solches existen­zielles Interesse im Rat an­erkannt haben, dann sollte final im Euro­päi­schen Rat eine gemeinsame, für alle trag­bare politi­sche Lösung gefunden werden.

Ein Souveränitätssicherheitsnetz, das sowohl ausreichend Schutz für vitale natio­nale Interessen bietet als auch neue Spiel­räume für die Handlungsfähigkeit der EU eröffnet, könnte ein Ausweg aus der schon länger währenden Blockade in der Debatte über Mehrheitsentscheidungen sein. Damit könnte es den Weg ebnen für eine hand­lungsfähigere EU – insbesondere unter der Erwartung einer EU‑30+.

Dr. Nicolai von Ondarza Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa. Isabella Stürzer ist studentische Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe EU / Europa.
Alle Daten zu den öffentlichen Abstimmungen im Rat seit 2010 finden Sie im neuen EU Council Monitor der SWP: https://www.swp-berlin.org/en/publication/eu-council-monitor.

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