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Durch das gesteigerte gesellschaftliche Schutzbedürfnis infolge der Corona-Pandemie ist »Resilienz« auch zum wirtschaftspolitisch strategischen Leitgedanken der EU avanciert. Allerdings fehlt eine klare Idee, wie sie sich in der Praxis operationalisieren lässt.
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Der wissenschaftliche Resilienzbegriff betont die Fähigkeit von Systemen, auf ganz unterschiedliche und vor allem unerwartete Krisen flexibel zu reagieren, sie abzufedern, sich davon zu erholen und daraus zu lernen.
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Bisherige Krisenmechanismen in wirtschaftlich relevanten Feldern wie der Rohstoff-, Arzneimittel-, Handels- oder Investitionsschutzpolitik zielen hauptsächlich auf die eigene Versorgungssicherheit ab.
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Ein verengter Fokus auf Versorgungsaspekte im heimischen Markt birgt beträchtliche ökonomische Risiken, wie das Beispiel der EU-Ernährungssicherung belegt. Lange genutzte Maßnahmen wie die Reservehaltung, subventionsgesteuerte Produktionsanreize oder eine Marktabschottung durch Zölle vermindern die Flexibilität des Systems. Zudem gehen sie mit Spill-over-Effekten auf andere Länder einher, die kontraproduktiv für die internationale, aber auch die eigene Versorgungssicherung sein können.
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Wirtschaftspolitische Akteure benötigen ein moderneres Verständnis von Resilienz, das die Interdependenz von Krisen und Märkten mit in den Blick nimmt.
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Für künftige Resilienzstrategien lässt sich an Ansätze anknüpfen, die im Ernährungssektor gerade angesichts negativer Erfahrungen im Laufe der Zeit entwickelt wurden. Hierzu zählen das internationale Agricultural Market Information System ebenso wie Instrumente der Subventionsevaluierung von OECD und WTO.
Inhaltsverzeichnis
1 Problemstellung und Empfehlungen
2 Resilienz in Theorie und Politik
2.1 Der Resilienzbegriff in den Wissenschaften
2.2 Begrenzte Anwendungskonzepte für die Politik
3 Resilienzbezüge in ausgewählten EU-Politikfeldern
3.1 Katastrophenschutz und Schutz kritischer Infrastrukturen
3.3 Energie, Rohstoffe, Arzneimittel und umfassende Industrieansätze
3.5 Binnenmarkt, Beschaffungs- und Beihilfenpolitik
3.7 Synopse: Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Resilienzverständnis relevanter Politikbereiche
4 Das Beispiel Ernährungssicherung: Effekte und Folgen einschlägiger Maßnahmen der EU
4.1 Produktionsanreize, Marktinterventionen und Handelsabschottung
4.2 Vorratshaltung: Markt- und Krisenreserven
4.3 Der internationale Blick: Globales Monitoring und Evaluierung von Spill‑over-Effekten
4.4 »Neuer« Krisenschutz: Der EU-Notfallplan für Ernährungssicherheit
4.5 Synopse: Effekte und Risiken der Maßnahmen zur Versorgungssicherung
5 Schlussfolgerungen für künftige Resilienzstrategien
5.1 Resilienzverständnis kontinuierlich klären und operationalisieren
5.2 Einzubindende Akteurs- und Regulierungsebene abwägen
5.3 Fallstricke und Folgeeffekte aus verengtem Resilienzverständnis vermeiden
Problemstellung und Empfehlungen
Die Corona-Pandemie hat einmal mehr die Frage aufgeworfen, wie Gesellschaften und Wirtschaftssysteme besser auf Krisen reagieren können. In vielen aktuellen Debatten wird hierfür »Resilienz« als Schlüsselfaktor genannt. Die Europäische Union (EU) bezeichnet sie sogar als Kompass ihrer zukünftigen Politik.
Doch was genau bedeutet Resilienz – und wie kann sie politisch operationalisiert werden? Gibt es unter Akteuren in wirtschaftlich relevanten Politikfeldern überhaupt ein gemeinsames Verständnis von Resilienz? Und was lässt sich aus den ökonomischen Effekten bisheriger Krisenvorsorge ableiten für die Entwicklung neuer, effektiver Resilienzstrategien?
In der wissenschaftlichen Theorie meint Resilienz die dynamische Fähigkeit von Systemen, auf ganz unterschiedliche – gerade auch unerwartete – Stressoren und Krisen flexibel zu reagieren, sie abzufedern, sich davon zu erholen und daraus zu lernen. Damit erschöpft sich die Idee der Resilienz nicht darin, ein festgelegtes Ziel abzusichern, sondern trägt vielmehr der Variabilität und Interdependenz möglicher Risiken Rechnung.
Die Umsetzung dieser Idee in verschiedenen Politikfeldern der EU sieht anders aus und erstreckt sich, in je eigener Ausprägung, von der Handelspolitik über den Schutz kritischer Infrastrukturen bis hin zur Rohstoffpolitik. Wie sich zeigen lässt, weisen die jeweiligen Politikstränge zwar spezifische Schutzziele und Krisenmechanismen auf, die den Resilienzgedanken aufgreifen. Doch wird dabei das – ohnehin meist implizite – Verständnis von Resilienz oft auf die eigene Versorgungssicherheit begrenzt, etwa was die Verfügbarkeit bestimmter »kritischer« Güter angeht. Darüber hinaus sind Ad-hoc-Reaktionen auf Krisen häufiger anzutreffen als vorausschauende Ansätze, die Resilienz im genuinen Sinn steigern wollen.
Dieses unscharfe, uneinheitliche und tendenziell verengte Verständnis von Resilienz erschwert die Entwicklung eines übergreifenden strategischen Leitkonzepts für das künftige wirtschaftspolitische Krisenmanagement der EU. Auch macht die fehlende explizite Definition des Begriffs es schwierig zu beurteilen, ob konkrete Maßnahmen tatsächlich resilienzfördernd wirken oder nicht.
Gerade (zu) einseitig verstandene Bestrebungen, die eigene Versorgung zu sichern, können sogar negative ökonomische Folgeeffekte im eigenen wirtschaftlichen System haben sowie Spill-over-Effekte auf andere Länder. Paradigmatisch dafür ist die Ernährungssicherung in der EU: So wurden nicht wenige der aktuell im Rahmen der »Resilienz«-Agenda eingebrachten Ansätze, wie etwa die Reservehaltung von Gesundheitsgütern, im Ernährungssektor über Jahrzehnte erprobt, verändert – oder verworfen. Zugleich sind durch die langjährige Erfahrung innovative Lösungen entstanden, die bis heute tragen. Daher sollten die empirischen Einsichten aus der Ernährungssicherung neben konzeptuellen Überlegungen genutzt werden, um künftige Resilienzstrategien zu erarbeiten. Insgesamt lassen sich dafür folgende Empfehlungen geben:
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Es gilt, den Resilienzbegriff explizit zu klären und gemeinsame Zielvorstellungen zu entwickeln. Resilienz sollte nicht bloß Catchword sein; das Thema verlangt einen kontinuierlichen Verständigungsprozess. Es geht darum, den Fokus von einzelnen Versorgungszielen und Risiken hin zu einem systemischen Blick auf die generelle Flexibilität und Reagibilität des Wirtschaftsgefüges zu verschieben. Resilienz beinhaltet Interdependenz und Kohärenz unterschiedlicher Politikstränge. Allerdings kann es aufgrund spezifischer Entscheidungslogiken und Budgetbedingungen in verschiedenen Bereichen teils auch sinnvoll sein, sektorale Resilienzstrategien zu verfolgen.
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Die Rollen staatlicher und privater Akteure sind sorgfältig auszubalancieren. Wirtschaftliche Resilienz als systemische Eigenschaft lässt sich nicht allein durch öffentliche Eingriffe erreichen. Vielmehr sind auf vielen Gebieten Kooperationsmodelle zwischen Staat und Markt angebracht. Ferner ist zu beachten, dass wirtschaftlich relevante Politikfelder unterschiedlich stark vom mehrjährigen Finanzrahmen der EU bestimmt sind. Dies kann ihre Flexibilität und damit ebenso die Effektivität von Resilienzbemühungen begrenzen.
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Alte Fehler und Fallstricke sollten vermieden werden. Wie das Beispiel der EU-Ernährungssicherung zeigt, können Resilienzbestrebungen zu kostspieligen Maßnahmenspiralen, Handelsbeschränkungen und Spill-over-Effekten für andere Staaten führen. Solche Auswirkungen können ihrerseits reaktive Maßnahmen mit Risiken für das eigene Wirtschaftssystem und die eigene Versorgung auslösen und zudem die für Resilienz wichtige Reaktionsfähigkeit von Staaten einschränken. Das gilt insbesondere, wenn Resilienzansätze mit Produktionsanreizen vermischt werden und man sich nur auf die eigene Versorgung und hierbei nur auf den heimischen Markt als Erzeugungsquelle fokussiert.
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Innovative Ansätze aus dem Agrarsektor können in anderen Feldern genutzt werden. Angesichts negativer ökonomischer Erfahrungen im Ernährungsbereich nutzt etwa die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) fortlaufend erhobene und weiterentwickelte Indikatoren, auch um Spill-over-Effekte eigener Versorgungssicherung auf andere Staaten zu erfassen. Unter anderem diese Indikatoren schufen im Kontext der Welthandelsorganisation (WTO) eine Basis dafür, dass sich deren Mitgliedstaaten verpflichtet haben, handelsverzerrende Agrarsubventionen zu definieren und abzubauen. Des Weiteren steht mit dem Agricultural Market Information System (AMIS) eine internationale Monitoring- und Austauschplattform zur Verfügung, die etwa in der Corona-Krise kontraproduktiven Exportverboten von Nahrungsmitteln entgegengewirkt hat und mittlerweile auch für andere Bereiche diskutiert wird, beispielsweise für den Handel mit Metallen und Mineralien. Insgesamt betrachtet ist es wichtig, der Interdependenz von Krisen in vernetzten Märkten durch eine transparente Informationspolitik zu begegnen.
Resilienz in Theorie und Politik
Seit Beginn der Corona-Krise wird »Resilienz« als politischer Leitgedanke für Wirtschaft und Gesellschaft betont. So nennt auch die EU Resilienz als wesentliches Ziel in nahezu allen aktuellen Strategiedokumenten und Reformvorschlägen für einzelne Sektoren. Was aber genau heißt Resilienz – und wie lässt sie sich mit konkreten politischen Maßnahmen operationalisieren, um Krisen besser zu bewältigen? Im Folgenden werden wichtige Bedeutungsfacetten des Resilienzbegriffs in den Wissenschaften beleuchtet und bisherige Anwendungskonzepte für das politische Handeln vorgestellt.
Der Resilienzbegriff in den Wissenschaften
Resilienz als wissenschaftliches Konzept ist Gegenstand sehr unterschiedlicher Disziplinen, von der Psychologie und Medizin über die Ökonomik bis hin zu den Ingenieurwissenschaften, der Physik oder Ökologie.1 Dementsprechend findet sich eine große Bandbreite von Definitionen und Begrifflichkeiten, mit denen Resilienz in den verschiedenen Wissenschaften als theoretisches Konstrukt oder empirisch beobachtetes Phänomen beschrieben wird und die sich teilweise in ihrer Bedeutung überschneiden.
Ungeachtet der teils variierenden Resilienzkonzepte in verschiedenen Zusammenhängen lässt sich für die wirtschaftspolitische Analyse ein Kerngedanke hervorheben: Demnach ist Resilienz die Fähigkeit eines Systems, die Auswirkungen eines Schocks oder einer Krise rechtzeitig zu erkennen, schädliche Effekte abzufedern, sich darauf einzustellen und sich davon zu erholen. Resilienz ist damit kein statisches Merkmal, sondern umfasst verschiedene strukturelle und zeitliche Teilkomponenten, die nach einer häufig verwendeten Definition als Absorption, Adaption und Transformation bezeichnet werden:2
Absorption beschreibt dabei das Auffangen oder Abmildern von bereits eingetretenen Schäden, wie etwa Einnahmeverlusten oder Zerstörungen bei Naturkatastrophen. Ein Beispiel für darauf einwirkende politische Maßnahmen in der Corona-Krise sind die EU-Hilfsprogramme für Unternehmen.
Als Adaption wird dagegen eine vorausschauende Vorbereitung auf mögliche Schadensereignisse und Stressfaktoren sowie die Notwendigkeit der Absorption bezeichnet. Typische darauf abzielende Maßnahmen sind Versicherungslösungen oder bessere Bauweisen in Erdbebengebieten.
Transformation schließlich ist die komplexeste Stufe der Resilienz. Sie meint die Fähigkeit eines Systems, sich grundlegend zu ändern, wenn seine Funktionstüchtigkeit insgesamt an Grenzen stößt.
Insbesondere der Aspekt der Transformation hebt die Idee der Resilienz vom deutlich länger etablierten – und klarer umrissenen – Begriff »Risiko« ab. Während Risikokonzepte typischerweise konkrete Gefahren und potenzielle negative Einwirkungen auf ein System in den Blick nehmen, fokussiert Resilienz umgekehrt auf die positiven Eigenschaften des Systems selbst, seine Widerstands- und Anpassungsfähigkeit, die solche Einwirkungen überwinden helfen.
Die Resilienztheorie trägt dabei der Gleichzeitigkeit vernetzter und unterschiedlicher Risiken und Stressfaktoren Rechnung und betont eine dynamische, nichtlineare Betrachtung. Resiliente Systeme sind flexibel und lernfähig. Im Sinne der Transformation geht es in einer Krise daher nicht nur darum, in den Ausgangszustand zurückzufedern, sondern darum, eine verbesserte und stressresistentere Situation als zuvor zu schaffen,3 in politischen Ansätzen oft als »Build Back Better« ausgedrückt. Auch folgt aus dem besseren Verstehen der Interdependenz von Risiken und Stressfaktoren, dass eine genuine Resilienzstrategie übergreifende Konzepte und Mechanismen über unterschiedliche Politikbereiche und Zuständigkeiten hinweg verlangt.
Begrenzte Anwendungskonzepte für die Politik
Obwohl in den Wissenschaften diese Vielzahl theoretischer Ansätze zu Resilienz existiert, wird Letztere erst in jüngerer Zeit als strategisches Politikziel thematisiert, oft in Form einer Ad-hoc-Reaktion auf große Krisen wie die Corona-Pandemie. Deshalb gibt es nur wenige generalisierende Anwendungskonzepte und Kriterien, um politische Maßnahmen auf eine mögliche Resilienzwirkung hin auszurichten oder um sie entsprechend bewerten zu können.
Bestehende internationale Leitlinien sind meist aus konkreten Krisenereignissen hervorgegangen. Sie zielen eher auf effektive Abläufe ab, wenn eine Krise bewältigt werden muss, als auf Resilienz im Sinne einer grundlegenden Systemeigenschaft. Eine begrenzte Ausnahme hiervon bilden die Sendai-Prinzipien der Vereinten Nationen (VN) zur Risikoreduktion bei Naturkatastrophen, indem sie anvisieren, relevante Stressfaktoren bis 2030 generell zu minimieren. Sie fokussieren sich dabei in ihrer politischen Stoßrichtung vor allem darauf, wie unterschiedliche Akteure am besten koordiniert werden können.4 Im Zuge der Corona-Krise haben die VN zudem resilienzbezogene Leitlinien entwickelt, die Resilienz mit dem schon länger verfolgten Ziel der Nachhaltigkeit verbinden. Diese Leitlinien sollen dabei helfen, dass Länder auch während und nach der schwierigen Pandemiephase ihre international vereinbarten Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) weiterverfolgen.5
Die G7 bezieht sich ebenfalls explizit auf Resilienz: Analog zum »Washington-Konsens« als Reaktion auf die Schuldenkrise der 1980er Jahre hat sie im Mai 2021 einen »Cornwall Consensus« für resiliente Wertschöpfungsketten nach der Corona-Krise formuliert. Überdies soll ein eigenes Gremium, das Critical Supply Forum, koordinierte Stresstests für besonders kritische Versorgungsbereiche konzipieren.6
Einen guten Ausgangspunkt für dezidiertere politische Resilienzstrategien bieten die Vorschläge der OECD, die sie für Verfahrensabläufe und Governance bei der Gestaltung von Entwicklungsprogrammen ausgearbeitet hat.7 Ein auch auf andere Bereiche übertragbares Grundprinzip lautet, dass Maßnahmen zur Steigerung der Resilienz immer kontextabhängig gestaltet sein müssen und alle betroffenen Akteure einbinden sollten.
Weiterhin gibt es zahlreiche sektorspezifische Ansätze, wie etwa von der OECD im Hinblick auf Finanzsysteme.8 Ein Beispiel aus dem Ernährungssektor ist die bereits lange bestehende Integrated Food Security Phase Classification (IPC) der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der VN (FAO). Sie unterscheidet verschiedene Eskalationsstufen von Ernährungskrisen auch mittels quantitativer Indikatoren und sieht jeweils geeignete politische Reaktionen vor, etwa Entwicklungsprogramme und Nahrungshilfen.9 Darüber hinaus wurde Resilienz auf dem UN Food Systems Summit im September 2021 ausdrücklich als eines von fünf Schwerpunktthemen definiert. Ziel ist, in den kommenden Jahren in einem Stakeholder-Verfahren entsprechende strategische Ansätze voranzubringen.
Resilienz ist zum strategischen Leitbild avanciert – doch es fehlt an politischer Operationalisierung.
Auch die EU hat damit begonnen, Krisenereignisse systematisch zu bewerten und daraus Resilienzstrategien zu entwickeln. So wurde im Jahr 2010 in Reaktion auf die Finanzkrise das European Strategy and Policy Analysis System (ESPAS) unter Einbindung unterschiedlicher EU-Institutionen etabliert.10 Noch einschlägiger ist der erste »Strategic Foresight Report« der EU-Kommission von 2020, mit dem sie eine Resilienz-Agenda entschieden aufgreift, was im mittlerweile vorliegenden zweiten Bericht fortgesetzt wird.11 Hierin werden als zentrale strategische Kernziele die wirtschaftlich-soziale, die ökologische, geopolitische und digitale Resilienz genannt. Mittels sektoraler Dashboards sollen die Mitgliedstaaten ihr Resilienzniveau kontinuierlich erfassen, anhand von Indikatoren, die noch definiert werden müssen.
Wie diese Beispiele zeigen, ist »Resilienz« vor allem in jüngeren Politikansätzen im Zuge der Corona-Krise zu einem strategischen Leitbegriff avanciert. Nichtsdestotrotz wird die konzeptuell sehr weitreichende Idee resilienter Gesellschaften und Wirtschaftssysteme bisher nur ansatzweise durch einzelne politische Maßnahmen operationalisiert. Außerdem wird sie begrifflich oft mit (begrenzteren) Risikokonzepten vermischt.
Eine besondere Herausforderung im politischen Diskurs liegt darin, zwischen Resilienz und Nachhaltigkeit zu unterscheiden. Häufig wird gefordert, beides gleichzeitig zu verfolgen; in ihrem Verhältnis zueinander werden sie aber kaum definiert. Teilweise gelten sie als separate Konzepte ohne wesentliche Überschneidung; andere Interpretationen verstehen Resilienz als eine Voraussetzung für Nachhaltigkeit oder genau umgekehrt.12
Wichtig für den weiteren politischen Prozess dürfte ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden Konzepten sein: Für Nachhaltigkeit hat die Politik über Jahrzehnte ein zumindest generelles Verständnis ihrer diesbezüglichen Ziele ausgebildet, bis hin zu den klar definierten und umsetzungsbezogenen SDGs der VN inklusive der dafür entwickelten quantitativen Indikatoren. Die derzeit diskutierten Resilienzansätze dagegen sind noch recht unkonkret.13 Die beiden »Strategic Foresight Reports« der EU-Kommission von 2020 und 2021 mit der Idee indikatorbasierter sektoraler Resilienz-Dashboards können hier verstanden werden als erster Schritt hin zu mehr Konkretisierung und zur anvisierten Quantifizierung.
Resilienzbezüge in ausgewählten EU-Politikfeldern
Wenn es auch kaum explizit operationalisierte Resilienz gibt, finden sich in verschiedensten Politikfeldern dennoch schon länger fest etablierte Schutzziele und spezifische Krisenmechanismen, die auf unterschiedliche Krisentypen abgestimmt und inhaltlich mit der Idee der Resilienz verbunden sind. Diese unterschiedlichen Ansätze werden die Kommunikation der politischen Akteure untereinander maßgeblich prägen, wenn es um die Frage geht, wie künftige Resilienzstrategien ausgestaltet werden sollen. Insofern ist es entscheidend, sich der Strukturen und Traditionslinien verschiedener Politikfelder bewusst zu werden und ihr jeweiliges – implizites oder explizites – Resilienzverständnis zu klären.
Im Folgenden werden in der Praxis oft miteinander verzahnte Politikbereiche mit ihren jeweiligen Schutzzielen, Krisenkonzepten und den dafür entwickelten Schutzmaßnahmen dargestellt. Die Auswahl konzentriert sich auf jene wirtschaftspolitisch relevanten Politikfelder, die vor allem physische Infrastrukturen und Güter betreffen, wie sie während der Corona-Krise besonders ins Rampenlicht gerückt sind. Maßnahmen zum Finanzmarkt bzw. in der Finanzkrise geborene Ansätze berühren dagegen die unmittelbar güterbezogenen aktuellen Strategiedebatten in geringerem Maße und werden daher hier nicht näher einbezogen.14 Eine Synopse am Ende des Kapitels (siehe S. 20) fasst das Resilienzverständnis in den untersuchten Politikfeldern in einem vergleichenden Überblick zusammen (Tabelle 1, S. 18f).
Katastrophenschutz und Schutz kritischer Infrastrukturen
Der unmittelbarste Resilienzbezug in EU-Politikfeldern besteht im Katastrophenschutz. Dies spiegelt die Betonung des Themas Resilienz in internationalen Leitlinien, die historisch zunächst im Zusammenhang mit Naturkatastrophen entstanden. Das entsprechende Budget für den EU-Haushalt 2021–27 wurde infolge der Corona-Pandemie gegenüber der vorangegangenen Periode auf über 3 Milliarden Euro verfünffacht, liegt allerdings weiterhin bei nur 0,3 Prozent des Gesamthaushalts.15
Das eigentliche Ziel des EU-Katastrophenschutzes – und damit auch sein Resilienzverständnis – ist die solidarische Versorgungssicherheit im Krisenfall. Nach der Solidaritätsklausel in Artikel 222 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) gelten dabei sowohl menschengemachte als auch Naturkatastrophen (»all hazards«) als relevante Krisen. Zu deren Abwehr können sämtliche, explizit auch militärische Mittel genutzt werden. Einem betroffenen Staat haben die anderen EU-Mitglieder auf sein Ersuchen hin Unterstützung zu leisten. Diese umfassende Idee der Krisenabwehr wiederholt die neue, 2020 vorgestellte Strategie für die Sicherheitsunion, die etwa sogenannte hybride Bedrohungen der äußeren und inneren Sicherheit in den Blick nimmt, was wiederum die Koordination unterschiedlicher Politikstränge verlangt.
Die Grundlage für konkrete Hilfen »im Geiste der Solidarität« bietet Artikel 122 AEUV zur Wirtschaftspolitik, wonach bei Naturkatastrophen oder sonstigen außergewöhnlichen Schwierigkeiten sowohl finanzieller Beistand als auch die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen möglich ist. Ausdrücklich erwähnt wird die solidarische Energieversorgung.
Für die konkrete Umsetzung der Hilfsleistungen kennt die EU zwei grundlegende Mechanismen:
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Der Integrierte Krisenmechanismus (Integrated Political Crisis Response, IPCR) kann seit 2013 entweder vom Ratsvorsitz oder von einem Mitgliedstaat, der die Solidaritätsklausel geltend macht, ausgelöst werden und reicht vom Informationsaustausch bis hin zu koordinierten materiellen Maßnahmen.
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Daneben existiert das Katastrophenschutzverfahren (Union Civil Protection Mechanism, UCPM), das vor allem bei Naturkatastrophen und Terroranschlägen greift. Seit 2001 ist über diesen Mechanismus in insgesamt 400 Fällen Hilfe geleistet worden, etwa bei großen Waldbränden.16 Bei Hilfsanfragen koordiniert die EU die Zuteilung bestimmter Ressourcen, beispielsweise von Löschfahrzeugen, die aus den Beständen ihrer Mitglieder sowie sechs weiterer Staaten (Island, Norwegen, Türkei u. a.) gespeist werden. Hilfsberechtigt sind alle Staaten weltweit.
Als dezidiert neues Umsetzungsinstrument der EU zur Katastrophenabwehr und Versorgungssicherung ist 2019 eine gemeinschaftliche Reserve (rescEU) geschaffen worden, deren Bestände von Krisen betroffene Staaten in Anspruch nehmen können. Seit der Corona-Pandemie umfasst sie auch medizinische Produkte wie Schutzmasken und -kleidung und in begrenztem Maße medizinisches Personal. Die EU-finanzierten Vorratsbestände werden dezentral von verschiedenen Mitgliedstaaten beschafft und gelagert.17 Darüber hinaus ist als gesundheitsbezogener Krisenmechanismus im September 2021 eine neue Behörde gegründet worden, die Health Emergency Preparedness and Response Authority (HERA).18 Sie soll unter anderem für einen verbesserten Informationsfluss bezüglich vorhandener Kapazitäten sorgen. In einem Verbund europäischer Impfstoff- und Arzneimittelhersteller (EU-FAB) soll schnell die Produktion gesteigert werden können, auch mithilfe politischer Unterstützung etwa in Form von Abnahmegarantien.
Diese Mechanismen für eine solidarische Versorgungssicherheit kommen zum Tragen, wenn ein Krisenfall bereits eingetreten ist. Daneben soll der eher vorausschauende Schutz kritischer Infrastrukturen (KRITIS) die Ausfall- und Versorgungsrisiken in gesellschaftlich relevanten Bereichen reduzieren. Im Fokus steht deren »Kritikalität«, die auf EU-Ebene dadurch definiert ist, dass sich eine Störung in einem Mitgliedstaat als Spill-over-Effekt auf andere Mitglieder auswirken würde, zum Beispiel aufgrund von grenzüberschreitenden Energieversorgungsnetzen.
Die konkreten Schutzmaßnahmen obliegen in der Regel den privaten Betreibern in den Mitgliedstaaten, wobei Letztere durch die EU-Kommission lediglich koordinierend unterstützt werden. Betreiber kritischer Strukturen haben organisatorische und technische Vorkehrungen zu treffen, um Störungen zu vermeiden und auftretende Schwierigkeiten aufzufangen.19 Gleichzeitig genießen sie bestimmte Privilegien, etwa wenn in Deutschland Beschäftigte in ausgewiesenen »systemrelevanten« Sektoren während der coronabedingten Schließung von Schulen und Kitas Kinderbetreuungsangebote prioritär nutzen konnten.
Aktuell reformiert die EU den Schutz kritischer Infrastrukturen, um der Verzahnung von digitalen und anderen Systemen gerecht zu werden.
Bislang sind als europäische kritische Infrastrukturen (EKIs) nur die Energieversorgung sowie Transport und Verkehr definiert (neben der ohnehin als Querschnittsaufgabe betrachteten Cybersicherheit). Innerhalb dieser zwei Bereiche wurden auf nationaler Ebene bisher 93 grenzüberschreitende und damit europäische Einzelstrukturen festgelegt, wobei die allermeisten auf den Energiesektor entfallen und auf nur wenige Mitgliedstaaten konzentriert sind.20
Aktuell wird der Schutz kritischer Infrastrukturen reformiert, indem die beiden EU-Richtlinien zu EKIs und zur Cybersicherheit (NIS-Richtlinie) zeitgleich überarbeitet werden, um der Verzahnung von digitalen und anderen Systemen besser gerecht zu werden.21 Überdies soll es statt zwei künftig zehn kritische Infrastrukturen geben: Außer Energie sowie Transport und Verkehr zählen dazu dann ebenfalls das Banken- und das Finanzmarktsystem, die Gesundheitsversorgung, Trinkwasser- und Abwassernetze, digitale Infrastrukturen, die öffentliche Verwaltung und die Raumfahrt.
Anders als die EU benennt Deutschland bereits heute mehr kritische Infrastrukturen: neben IT, Energie, Transport und Verkehr auch die Telekommunikation, die Wasser- und die Nahrungsmittelversorgung, das Finanz- und Versicherungswesen sowie das Gesundheitssystem.22
Handelspolitik
Die europäische Handelspolitik bewegt sich im multilateralen Rahmen der WTO, die vorrangig die Idee offener Märkte verfolgt – zugleich aber Ausnahmen für bestimmte Krisen und schützenswerte Interessen anerkennt. Diese umfassen gemäß Allgemeinem Zoll- und Handelsabkommen (GATT) außer der vorrangigen wirtschaftlichen Stabilität (Art. XII GATT) ebenso die Versorgungssicherung (Art. XI GATT), die nationale Sicherheit (Art. XXI GATT) sowie die öffentliche Ordnung und Moral (u. a. in Art. XX GATT).
Darauf ausgerichtete Schutzmaßnahmen können sowohl am Import ansetzen, etwa mit Schutzzöllen, als auch den Export regulieren, beispielsweise durch Ausfuhrbegrenzungen. Allerdings müssen sich die Maßnahmen in der Regel rechtfertigen lassen, indem eine definierte Krisensituation vorliegt oder sie als notwendig angesehen werden für die Erreichung öffentlicher Ziele. Zudem müssen solche Maßnahmen meist weitere Umsetzungskriterien erfüllen, etwa hinsichtlich Dauer und Umfang begrenzt sein. Die strengen Kriterien der WTO erklären sich daraus, dass ein Abweichen vom offenen weltweiten Handel als globalem öffentlichem Gut sich stets auf Handelspartner auswirkt und damit negative Spill-over-Effekte und letztlich globale Wohlfahrtsverluste mit sich bringen kann.
Welche Handelseinschränkungen in welcher Krisensituation zulässig sind, unterscheidet sich je nach Abkommen. Besonders häufig finden sich Ausnahmen für Agrargüter bzw. ernährungsbezogene Krisen. Sie werden bereits in den generellen GATT-Regelungen von 1947 angesprochen (zum Beispiel erlaubte Exportrestriktionen bei Versorgungskrisen in Art. XI GATT) und im 1994 beschlossenen Agrarabkommen der WTO ergänzt durch konkretere Regelungen.
Das speziell im Gesundheitssektor relevante plurilaterale Pharmaabkommen der WTO enthält als Schutzziel, die Versorgung mit medizinischen Gütern sicherzustellen, und sieht hierzu entsprechende Zollvergünstigungen vor.23
Das Allgemeine Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) bildet die Grundlage für Mobilität und Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte etwa im Pflegebereich oder in der Ernte. Diese handelspolitische Stärkung der Beschäftigtenmobilität wird allerdings durch nationale Visabestimmungen jenseits der WTO-Regelungen begrenzt. Weitere Beschränkungen des Dienstleistungsverkehrs sind außerdem nach WTO möglich, um Bedrohungen der öffentlichen Moral oder der öffentlichen Ordnung abzuwenden. Unter die zu schützenden Ziele fallen explizit auch die menschliche, tierische und pflanzliche Gesundheit (Art. XIV GATS).
Das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) kennt solche übergeordneten Schutzinteressen ebenfalls und beinhaltet damit zumindest implizit ein bestimmtes Resilienzverständnis. So garantiert der Vertrag zwar unterschiedliche Typen geistigen Eigentums als privates Recht. Gleichzeitig aber ist vorgesehen, dass Staaten allgemeine Ziele wie Gesundheit und Ernährung verfolgen und Wirtschaftssektoren, die für deren Umsetzung von vitaler Bedeutung sind, schützen und fördern können. Eine Klausel im Abkommen (Art. 73 TRIPS) ermöglicht, dass in Notlagen oder kriegerischen Situationen Eigentumsrechte aufgehoben werden, um essenzielle Strukturen und Produktionszweige abzusichern.24 Ein aktuelles Beispiel ist das Ringen um den Patentschutz von Impfstoffen in der Corona-Pandemie. Befürworter einer Aussetzung der Schutzrechte argumentieren, dadurch ließe sich die weltweite Impfstoffproduktion entscheidend erleichtern. Schon Ende 2020 hatten Südafrika und Indien einen entsprechenden »Waiver« gefordert. Trotz Unterstützung von 100 Ländern konnte die erforderliche Mehrheit hierfür bislang nicht erreicht werden.25
Die jüngste Handelsstrategie der EU vom Frühjahr 2021 mit ihrem Leitbild der »offenen strategischen Autonomie« ist vor dem Hintergrund des bedingten offenen Handels der WTO zu sehen. Zwar definiert die Kommission dieses Leitbild nur vage, betont aber als wichtigen Teilaspekt ihrer Strategie wirtschaftliche Resilienz. So will sie offene Märkte sichern und gleichzeitig die eigene Importabhängigkeit verringern. Hierfür nennt sie ein breites Spektrum möglicher einzusetzender Maßnahmen wie mehr Handelsdiversifizierung, Anreize und Investitionen zur Steigerung heimischer Produktion bis hin zu Vorratsreserven.26 Dabei unterstreicht die Handelsstrategie auch die Bedeutung eines verbesserten Zugangs der EU zu Rohstoffen und Arzneimitteln, wie er in der Corona-Krise intensiv diskutiert worden ist.
Energie, Rohstoffe, Arzneimittel und umfassende Industrieansätze
Die Energieversorgung hat wegen ihrer hohen wirtschaftlichen und politischen Priorität ähnlich wie der Ernährungssektor eine lange Geschichte der Regulierung für mehr Versorgungssicherheit und Marktstabilität. International hat dies zur Gründung von Organisationen geführt, die wie die Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) die Angebotsmengen steuern oder wie die Internationale Energieagentur (IEA) die Versorgung über Energiereserven sichern. Die EU nutzt Regelungen zu spezifischen Energieträgern wie Öl und Gas, aber auch umfassende Vereinbarungen zum Energiemarkt. Des Weiteren zählt Energie auf EU-Ebene zu den ausgewiesenen kritischen Infrastrukturen und unterliegt entsprechenden Betreiberpflichten. Besteht in einem Mitgliedstaat eine Versorgungskrise, greift Artikel 122 AEUV, der solidarische Hilfslieferungen innerhalb der EU vorsieht (siehe S. 10ff). Erklärtes Ziel ist insgesamt ein voll funktionierender Energie-Binnenmarkt.27 Das Resilienzverständnis der EU-Energiepolitik bestimmt sich daher vor allem durch stabile funktionierende Märkte und Versorgungssicherheit.
Bei der Gasversorgung gibt es private Reserven und ein Stufenschema für Krisenreaktionen. Dabei genießen private Haushalte Vorrang bei der Versorgungssicherung.28 Zudem sind zwischen den EU-Mitgliedstaaten sogenannte Solidaritätspartnerschaften zur gegenseitigen Unterstützung in Krisenfällen vorgesehen. Eine erste derartige Partnerschaft haben 2020 Deutschland und Dänemark geschlossen.
Für Öl müssen die EU-Mitgliedstaaten Reserven zur Marktstabilisierung vorhalten, die den Nettoimport über 90 Tage bzw. den Verbrauch über 61 Tage abdecken, was im Wesentlichen internationalen Vorgaben entspricht.29 Bei einem Aufruf der IEA sind danach auch ihre 19 europäischen Mitglieder zur Freigabe der Ölreserven verpflichtet. Desgleichen kann bei nationalen oder lokalen Versorgungsengpässen eine Koordinierungsgruppe der EU, die die Versorgungssituation verfolgt und gegebenenfalls notwendige Maßnahmen abstimmt, eine Reservenutzung gestatten.
Neben diesen Krisenmechanismen für Öl und Gas weist die EU bereits seit einigen Jahren kritische Rohstoffe aus, die sie für die eigene Wirtschaft als strategisch wichtig bewertet. Ähnlich wie bei den kritischen Infrastrukturen wird hier der Gedanke der Resilienz mit dem Begriff der »Kritikalität« von Rohstoffen zum Ausdruck gebracht. Diese bestimmt sich zum einen danach, wie relevant ein Rohstoff für die industrielle Endverwertung in der EU ist. Zum anderen fließen potenzielle Versorgungsrisiken in die Bewertung ein, die durch eine Konzentration von Zulieferregionen, ein hohes Maß an Importabhängigkeit sowie Handelsbeschränkungen seitens der Lieferländer entstehen können.30 Darüber hinaus spielt für die Kritikalität eines Rohstoffs eine Rolle, ob er recycelt und substituiert werden kann. Zur Substituierbarkeit können dabei sowohl technische Verfahren als auch handelspolitisch beeinflussbare alternative Rohstoffimporte beitragen. Schließlich sieht die EU die Qualität der politischen Governance in den Zulieferregionen als Einflussfaktor, was im Wesentlichen die Verlässlichkeit von Lieferungen meint. Eine hohe Verlässlichkeit senkt dabei die Kritikalität.
Tatsächlich wächst der Katalog ausgewiesener kritischer Rohstoffe beständig: Enthielt die Liste vor zehn Jahren noch 14 Rohstoffe, waren es 2020 schon 30. Gerade Ressourcen, die wie Lithium und Kobalt für die Energieerzeugung wichtig sind, wurden neu aufgenommen.31 Nicht zuletzt nutzt die EU spezielle Rohstoffpartnerschaften (wie mit Grönland und jüngst mit Kanada geschlossen), um den Technologietransfer und Investitionszugang zu verbessern und damit längerfristig stabile Lieferungen zu sichern. Auf einzelstaatlicher Ebene pflegt Deutschland solche Kooperationen mit Kasachstan, der Mongolei und Peru.32 Die EU-Kommission beabsichtigt mit ihrer angekündigten neuen Rohstoffstrategie eine stärker vorausschauende strategische Planung für den Zugang zu Rohstoffmärkten.33
Anders als die Rohstoffstrategie benennt die noch junge Arzneimittelstrategie der EU aus dem Jahr 2020 Resilienz explizit als wirtschaftspolitisches Ziel. Kernpunkt dabei ist, dass Abhängigkeiten in der Versorgung identifiziert und reduziert werden sollen. Ähnlich wie bei der Handelsstrategie schlägt die Kommission dazu unterschiedlichste Maßnahmen vor, die von der Erhöhung der eigenen Produktion durch Subventionen und Investitionen bis zu strategischer Vorratshaltung, diversifiziertem Handel und verbessertem Monitoring reichen. Auch auf eine wirksamere Krisenreaktion mithilfe der neu gegründeten Behörde HERA zielt die Arzneimittelstrategie ab.34
Die Themen Rohstoffe und Arzneimittel sind ebenfalls Teil der umfassenderen Industriestrategie. Vorwiegend aufgrund der Erfahrungen mit der Corona-Pandemie verfolgt diese nunmehr eine systematischere Stärkung des Binnenmarkts in Krisenzeiten über ein Single Market Emergency Instrument (SMEI). Es soll statt der bisher genutzten Ad-hoc-Reaktionen wie der Einrichtung von »Green Lanes« (Transportkorridoren) eine gute Koordinierung des freien Verkehrs für besonders relevante Güter und Dienstleistungen gewährleisten.35
Investitionsregeln
Auch Auslandsinvestitionen können eine Versorgungsstrategie für Rohstoffe sein, da sie die eigene Verfügung über wichtige Ressourcen etwa in Minen oder Landflächen in anderen Ländern sichern. In Schlüsselregelungen zum Umgang mit solchen Investitionen wird Resilienz nicht explizit genannt. Dennoch spielt der Schutzgedanke in Krisen oder für besonders sensible Güter in bilateralen Investitionsschutzabkommen zwischen der EU und Drittstaaten (BITs) ebenso wie im Prüfmechanismus für die Zulassung von ausländischen Investitionen (»Screening«) in der EU eine gewichtige Rolle.
Für Investitionen gibt es anders als für den Handel mit Gütern und Dienstleistungen nur wenige WTO-Regelungen, an denen sich die EU-Politik orientieren muss. Vor allem für die Phase nach Zutritt der Auslandsinvestoren sind bilaterale BITs relevant, die seit dem Lissabonner Vertrag EU-weit zu schließen sind. Diese BITs definieren bestimmte, auch resilienzbezogene Ausnahmen von ihrem Hauptziel, investierende Unternehmer vor staatlichen Eingriffen zu schützen. Hiernach sind beispielsweise Enteignungen nur bei gleichzeitiger Entschädigung möglich; zudem ist der Zugang zu investitionsrelevanten, auch kritischen Infrastrukturen wie Energie und Wasser zu gewährleisten.
In besonderen Krisensituationen können Zielländer jedoch für Investoren nachteilige Schutzregelungen erlassen, die in den jeweiligen BITs (ähnlich wie in der Handelspolitik) typischerweise durch spezielle Klauseln für Krisenfälle abgedeckt sind. Aus den bisher von der Konferenz der VN für Handel und Entwicklung (UNCTAD) erfassten Schiedsverfahren zu Auslandsinvestitionen lässt sich erkennen, dass Zielstaaten diese Krisen oft als Gefährdung ihrer nationalen Sicherheit durch Krieg oder auch als ökonomische Notlagen verstehen. Ein Beispiel: 2003 verklagte der französische Energiekonzern EDF Argentinien, das die befürchteten Wirkungen einer Wirtschaftskrise mit vorsorglichen Enteignungen abzufangen versuchte, was in diesem Fall als ungerechtfertigt beurteilt wurde. Der Konzern gewann das Verfahren.36
Neben dem grundlegenden Verbot entschädigungsfreier Enteignung ist das Recht auf »gerechte und billige Behandlung« ein maßgebliches Prinzip in BITs. Es schützt die legitime Gewinnerwartung eines Investors, die etwa dadurch beeinträchtigt werden kann, dass sich nach gefällter Investitionsentscheidung die Gesetzeslage zum Umweltschutz ändert. Auch im Falle der Corona-Pandemie finden sich etliche Eingriffe in unternehmerische Abläufe, bis hin zu Schließungen einzelner Branchen im Rahmen von Lockdowns. Derartige staatliche Interventionen könnten in Zukunft möglicherweise als Verletzung des Schutzes legitimer Gewinnerwartung Gegenstand von Klagen werden.37
Gerade der Sachverhalt der sogenannten indirekten Enteignung infolge politischer Änderungen im Zielland hat nicht nur zu stetigen Auseinandersetzungen geführt, sondern ebenfalls zur Weiterentwicklung der Investitionsschutzregeln bezogen auf die Frage, ob die staatliche Regelungshoheit (auch für resilienzbezogene Ziele) durch das Verbot entschädigungsfreier Enteignung insgesamt zu stark begrenzt wird.38 Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund verfolgt die EU vornehmlich in neueren Abkommen etwa mit Kanada oder Vietnam ein fortentwickeltes BIT-Modell. Es bietet größeren politischen Spielraum für solche Schutzziele, die als öffentlich wesentlich betrachtet werden; dies kann auch die Abwehr von Gesundheitsrisiken umfassen, indem Maßnahmen ergriffen werden, die für Unternehmen nachteilig sind.39
Der Zugang für Investoren zum EU- und zum mitgliedstaatlichen Markt unterliegt einem spezifischen Überprüfungsmechanismus, dem »Screening«. Hiernach können ausländische Investitionen zugelassen oder abgelehnt werden, wobei eine mögliche Bedrohung der öffentlichen Ziele Sicherheit und Ordnung als Prüfkriterium dient. Für als kritisch definierte Sektoren gelten vor allem bei potenziellen Versorgungsrisiken besonders hohe Anforderungen. Die Definition der sensiblen Bereiche, die vor Übernahmen geschützt werden sollen, ist dabei weiter gefasst als in den derzeitigen Ansätzen zum Schutz kritischer Infrastrukturen; sie erstreckt sich beispielsweise ebenso auf verschiedene Schlüsseltechnologien oder kritische Rohstoffe.
Indes kann der Ausschluss ausländischer Investoren zwar Autonomie stärken, jedoch für die Versorgungssicherung auch kontraproduktiv sein – nämlich dann, wenn die inländische Produktion schlicht nicht leistungsfähig genug ist. Entsprechende Investitionsregeln bergen daher stets Risiken (ähnlich wie Exportrestriktionen im Güterhandel), die es zu berücksichtigen gilt. Dies betrifft gleichfalls die von Deutschland in der Corona-Krise eingeführte »Corona-Novelle« der Außenwirtschaftsverordnung. Diese Regelung hat eine verschärfte Melde- und Prüfpflicht für ausländische Anteile an solchen deutschen Unternehmen etabliert, die etwa medizinische Schutzausrüstungen, Medikamente oder Impfstoffe herstellen oder die für Kommunikationsinfrastrukturen bedeutsam sind.40
Binnenmarkt, Beschaffungs- und Beihilfenpolitik
Der Binnenmarkt gewährleistet als Grundpfeiler der EU innereuropäischen Handel und Mobilität durch freien Grenzverkehr. Die EU-Mitgliedstaaten verpflichten sich dazu, selbst bei schwerwiegenden Krisen oder Spannungen den Binnenmarkt zu erhalten (Art. 347 AEUV). Gleichzeitig aber gibt es Ausnahmen nach dem Schengener Grenzkodex: Dieser umfasst Notfallklauseln,41 gemäß denen etwa bei risikobehafteten Großveranstaltungen oder Terrordrohungen die grenzüberschreitende Mobilität eingeschränkt werden kann. Dabei ist die EU-Kommission gehalten, für den Fall von Grenzkontrollen klare Leitlinien vorzulegen.
Während der Corona-Krise hat dieser dichotome Ansatz von Offenhaltung und Einschränkung dazu geführt, dass einerseits Grenzen geschlossen, andererseits Transportkorridore (»Green Lanes«) für besonders relevante Versorgungsgüter offengehalten wurden. Mit dem SMEI der Industriestrategie soll diese Offenhaltung zukünftig systematischer als bislang für bestimmte Güter und Dienstleistungen in Krisenzeiten sichergestellt werden.
Auch die öffentliche Beschaffung hat Einfluss auf das Funktionieren des Binnenmarkts. Vergaberegeln sollen so gestaltet sein, dass sie den Wettbewerb zwischen europäischen Anbietern nicht behindern. Dabei unterscheidet das Vergaberecht allerdings nach Relevanz und Dringlichkeit, um in Sektoren mit hoher gesellschaftlicher Bedeutung oder in Krisensituationen die Auftragsvergabe und Versorgungssicherung zu erleichtern, zum Beispiel durch kürzere Vergabefristen. Solche flexibleren Vergaberegeln gelten etwa für die Bereiche Energie und Verkehr sowie auf EU-Ebene auch für die Post.42 Im Zuge der Corona-Pandemie wurde für medizinische Güter sogar eine Direktvergabe möglich gemacht.43
Gesonderte Vergaberegeln existieren ebenfalls für die sensiblen Bereiche Sicherheit und Verteidigung. Einerseits wird hier eine höhere Vertraulichkeit gefordert, andererseits die Beschaffung in definierten Krisensituationen erleichtert. Nach der EU-Vergaberichtlinie für Sicherheit und Verteidigung zählen dazu Auslandseinsätze, terroristische Bedrohungen sowie andere potenzielle Großschadensereignisse.44
Ein ähnlich stark auf die Krisenbewältigung ausgerichtetes (implizites) Resilienzverständnis kommt in der europäischen Beihilfepolitik zum Ausdruck. Grundsätzlich dürfen Beihilfen nicht den Wettbewerb im EU-Binnenmarkt stören. Sie sind aber nach Artikel 107 Absatz 2 AEUV explizit erlaubt, um Schäden zu kompensieren, die durch »Naturkatastrophen oder sonstige außergewöhnliche Ereignisse« verursacht wurden. Gerade für Unternehmen, die Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge etwa im Bereich kritischer Infrastrukturen bereitstellen, gelten zudem nach Artikel 106 Absatz 2 AEUV erleichterte Beihilferegelungen, falls sie die ihnen anvertrauten öffentlichen Aufgaben ansonsten nicht erfüllen können.
Auch auf die Corona-Pandemie reagierte die EU-Kommission mit einer temporär gelockerten Beihilfepolitik. So konnten Mitgliedstaaten beispielsweise Unternehmenskredite durch staatliche Garantien absichern.45 Zusätzlichen Spielraum bietet eine Erweiterung der sogenannten Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung (AGVO), die den Mitgliedstaaten mehr Beihilfen gerade für kleine und mittlere Unternehmen sowie bestimmte Tätigkeitsbereiche wie Forschung, Entwicklung und Innovation ermöglicht, und zwar ohne Vorabgenehmigung durch die Kommission. Pandemiebedingt wurden die Regelungen der AGVO auf krisengeschädigte Firmen ausgedehnt und zudem verlängert.46
Während diese Veränderungen durchaus die Krisenreaktionsfähigkeit der europäischen Beihilfepolitik in unterschiedlichen Initiativen belegen, handelt es sich gleichwohl eher um akut reaktive Maßnahmen als um konzeptionelle Ansätze.
Agrarpolitik
Die Agrarpolitik in der EU genießt seit der Gründungsphase eine Sonderstellung, was politische Eingriffsintensität und nicht zuletzt hohe öffentliche Zahlungen an einen Sektor betrifft. Neben einer historisch starken Interessenvertretung aus der Landwirtschaft47 sorgten vor allem die Knappheitserfahrungen während und nach dem Zweiten Weltkrieg dafür, dass der Agrarsektor und die Nahrungsmittelversorgung ins Zentrum der Politik rückten.
Die europäische Agrarpolitik bietet die meisten Resilienzbezüge, vor allem aus historischer Knappheitserfahrung.
Insofern kann die Ernährungssicherung vielleicht als dasjenige Politikfeld gelten, in dem bisher die meisten Erfahrungen hinsichtlich europäischer Resilienzbestrebungen, insbesondere im Sinne von Versorgungssicherheit, gemacht wurden. Sie wird im Kapitel »Schlussfolgerungen für künftige Resilienzstrategien« (S. 31ff) mit ihren wirtschaftlichen Folgeeffekten und einzelnen Maßnahmen im Detail untersucht. Hier sollen kurz die in vielfältigen Maßnahmen angesprochenen Krisenkonzepte und Schutzziele, wie sie diese Politik kennt, umrissen werden, vergleichbar mit denen der anderen Politikfelder.
Seit den Römischen Verträgen von 1957 ist die europäische Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) darauf ausgelegt, gleichermaßen die Nahrungsmittelversorgung zu sichern, den Agrarmarkt zu stabilisieren, die landwirtschaftlichen Einkommen zu erhöhen und angemessene Verbraucherpreise zu gewährleisten. Im Laufe der Zeit haben sich allerdings die Schwerpunkte dieser unterschiedlichen Schutzziele und die jeweiligen politischen Maßnahmen mehrfach verschoben, was sich in erster Linie auf steigende Agrarausgaben, die Erweiterung der EU sowie Vorgaben im WTO-Agrarabkommen zurückführen lässt.
Eine wichtige Entwicklung dabei ist, dass der anfängliche Fokus auf Versorgungssicherung im materiellen Sinn zunehmend um andere, inzwischen auch nachhaltigkeitsbezogene Komponenten ergänzt wurde. Konzeptuell basiert die GAP daher nun auf zwei Säulen:
Quelle: Eigene Zusammenstellung. |
Während die (ursprüngliche) »erste Säule« der Markt- und Einkommensstützung dient, soll die hinzugekommene, begleitende (und vom Finanzvolumen kleinere) »zweite Säule« die ländliche Entwicklung mittels Umwelt- und Regionalfördersubventionen stärken.48
Diese Verschiebung spiegelt sich ebenfalls in einer veränderten Struktur der landwirtschaftlichen Einkommenssubventionen: Diese wurden im Zeitverlauf durch WTO-Vorgaben zunehmend produktionsneutraler ausgestaltet und stärker an ökologische Kriterien gebunden. Auch sank der Anteil des politisch unterstützten landwirtschaftlichen Einkommens am Gesamteinkommen der Landwirte beträchtlich: Lag er in den 1990er Jahren in der EU bei 40 Prozent und damit höher als im OECD-Durchschnitt von 37 Prozent,49 beziffert er sich heute auf nur noch 19 Prozent.50
Ein analoger Trend lässt sich für die Agrar-Importzölle der EU konstatieren. So machte die ursprüngliche Orientierung der GAP auf Produktionsmengen und Preisstabilität einen hohen Zollschutz notwendig, um einen inländischen Preisverfall durch günstigere Importe zu verhindern. Infolge des allmählichen Rückzugs aus der Preisstützungspolitik, der im Einklang stand mit WTO-Vorgaben zur Kürzung und Deckelung von Zöllen, sank indes auch das Zollniveau. Ebenso wurden im Laufe der Jahre die traditionellen Reserven (»Butterberge«, »Milchseen«) mehr und mehr reduziert, die sich aus den Überschüssen speisten, die die politisch gesetzten und übererfolgreichen Produktionsanreize hervorgebracht hatten.
Insgesamt befindet sich aufgrund dieser Entwicklungen auch das generelle Resilienzverständnis der europäischen Agrarpolitik im Wandel: Neben die traditionellen Ziele der Marktstabilität und der stabilen eigenen Nahrungsmittelversorgung sind der Umgang mit Naturkatastrophen und die Verhütung von Folgeschäden getreten, etwa indem Wälder aufgeforstet oder Überschwemmungsflächen angelegt werden. Auf einzelbetrieblicher Ebene werden zudem Risikomanagementmaßnahmen durch staatlich unterstützte Versicherungen gefördert.
Naturgemäß bleiben Widersprüche zwischen den Zielen der beiden Säulen der GAP mit ihren unterschiedlichen Resilienzaspekten bestehen – eine konsistente Resilienzstrategie für den Agrarsektor wäre dementsprechend noch zu entwickeln.
Synopse: Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Resilienzverständnis relevanter Politikbereiche
Verschiedenste Politikbereiche kennen je eigene Krisenkategorien, haben spezifische Schutzziele formuliert und für deren Erreichung Krisenmechanismen eingesetzt, die mit dem Leitbegriff der Resilienz inhaltlich in Verbindung stehen und jeweils eigene politische Aktionsräume definieren. Bemerkenswert ist, dass sich über die unterschiedlichen Politikfelder hinweg bis dato kein klar operationalisiertes Resilienzkonzept findet, das einer umfassenden Idee von Resilienz – im Sinne von systemischer Flexibilität – wirklich gerecht würde. Vielmehr zeigt sich insbesondere die eigene Versorgungssicherung und die meist akute Reaktion auf Versorgungskrisen als wiederkehrendes politisches Motiv, das, wenngleich plausibel, so doch deutlich enger gefasst ist als der strategische Leitgedanke der Resilienz.
Tabelle 1 (siehe S. 18f) fasst die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den bisher überwiegend implizit vorhandenen Resilienzansätzen verschiedener Politikfelder zusammen. Sie bilden zugleich die Ausgangs- und Anknüpfungspunkte für künftige, weiterreichende Resilienzstrategien im eigentlichen Sinn.
Das Beispiel Ernährungssicherung: Effekte und Folgen einschlägiger Maßnahmen der EU
Die meisten EU-Politikfelder verfügen über kein genuines Resilienzkonzept, sondern operationalisieren Resilienz – typischerweise implizit – im Sinne konkreter Schutzziele und Krisenmechanismen. Hierbei dominiert die Sicherung der eigenen Versorgung mit essenziellen Gütern und Dienstleistungen. Die Sicherung der Nahrungsmittelversorgung ist dafür paradigmatisch.
Ernährungssicherheit ist in vielen Staaten ein Schutzziel mit hoher politischer Priorität, so auch in der EU. Daher gelten in vielen unterschiedlichen politischen Regelwerken ernährungsbezogene Krisen traditionell als Ausnahmetatbestand, der besondere Schutzmaßnahmen legitimiert. Dies betrifft ganz unterschiedliche der vorgestellten resilienzrelevanten Politikfelder:
So ist die Nahrungsmittelversorgung in Deutschland (anders als bislang in der EU) als kritische Infrastruktur mit speziellen Betreiberpflichten und -rechten definiert. Auch Chemikalien für die Düngemittel- und damit für die Agrarproduktion werden dort zu den kritischen Rohstoffen gerechnet. Und die Investitionsregeln der EU sehen sogar einen möglichen Ausschluss ausländischer Investoren vor, wenn diese die Autonomie ernährungsrelevanter Sektoren gefährden. Vor allem aber in der Handelspolitik existieren seit dem GATT-Abkommen von 1947 zahlreiche Ausnahmeregelungen und zulässige Schutzmaßnahmen exklusiv zum Zwecke der Ernährungssicherung. Viele Staaten haben solche Handelsschutzmöglichkeiten in großem Umfang genutzt, sodass die WTO in ihrem Agrarabkommen von 1994 wiederum Disziplinierungsmechanismen wie den Abbau von Zöllen ebenso wie den Ab- und Umbau von Subventionen etabliert hat, um schädliche Spill-over-Effekte solcher Maßnahmen auf Handelspartner einzudämmen.
Bei den vielfältigen Schutzmaßnahmen zur Ernährungssicherung geht es keineswegs nur um die bloße Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln in einem Land, etwa durch eigene Produktion, Importe oder Nahrungshilfen. Desgleichen spielen gemäß der FAO-Definition zur Food Security51 die Zugänglichkeit zu Nahrungsmitteln, ihre Erschwinglichkeit sowie ihre Nutzbarkeit eine Rolle, was beispielsweise verarbeitungsrelevante Ressourcen wie Wasser und Energie voraussetzt. Nicht zuletzt sollen all diese Dimensionen der Ernährungssicherheit stabil gehalten werden, womit eine große Bandbreite von dafür anwendbaren sektorübergreifenden Sicherungsmaßnahmen abgesteckt ist.
Die Ernährungssicherung in der EU weist seit deren Gründung eine beispiellose Erfahrungsgeschichte auf. Manche der Konzepte, die aktuell im Zuge der Resilienz-Agenda für andere wirtschaftliche Bereiche diskutiert werden, wurden im Ernährungssektor über Jahrzehnte erprobt, immer wieder verändert, weiterentwickelt oder wegen negativer Folgeeffekte verworfen. Diese Erfahrungen sollten genutzt werden, um effektive Resilienzstrategien auch in anderen Politikfeldern zu entwickeln.
Insbesondere hat die EU-Ernährungssicherung im Laufe der Zeit zu komplexen Maßnahmenspiralen und Kollateraleffekten geführt, die es zu beachten gilt, wenn neue Resilienzansätze in anderen Bereichen erarbeitet werden. Gleichzeitig finden sich im Ernährungssektor innovative Konzepte, die in Reaktion auf negative Erfahrungen entstanden sind. Eine Synopse am Ende des Kapitels (siehe S. 30) bietet einen Überblick über diese verschiedenen Aspekte und Folgewirkungen unterschiedlicher Ansätze (Tabelle 2, S. 28f).
Produktionsanreize, Marktinterventionen und Handelsabschottung
Die europäische Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) zielte in ihren Anfängen in den 1960er Jahren zuallererst auf die materielle Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln für die eigene Bevölkerung ab. Ihre wesentliche Strategie lag darin, staatliche Anreize für die heimische Produktion zu setzen, insbesondere durch eine dezidierte Preisstützungspolitik, die gleichermaßen Einkommen stabilisieren sollte. Dabei kaufte die EU Agrarprodukte auf, sobald deren Marktpreise ein definiertes Mindestniveau (Interventionspreise) unterschritten. Diese Interventionspolitik erwies sich als hoch effektiv für die Produktionssteigerung – brachte aber zugleich ein komplexes System ineinandergreifender Maßnahmen hervor, die die negativen Folgewirkungen dieser Stützungspolitik wieder auffangen sollten.52
Markantes Resultat der Mindestpreisgarantien waren landwirtschaftliche Überschüsse, etwa in Form von »Milchseen« oder »Butterbergen«. Diese wurden als Reserven gelagert (siehe S. 23ff) oder im Falle nicht lagerfähiger Produkte wie Obst auch zerstört, was zunehmend öffentliche Kritik provozierte. Zudem trieb die Preisstützung die Agrarausgaben der wachsenden EU in die Höhe: In den 1980er Jahren machten sie fast zwei Drittel des gesamten EU-Haushalts aus.
Um ihrer Überschüsse Herr zu werden, griff die EU neben dem Aufbau von Reserven auch auf andere Weise in den Markt ein: Beispielsweise wurden Milchquoten eingeführt und Agrarflächen stillgelegt, die das Angebot drosseln und damit die produktionssteigernden Effekte der Interventionspreise wieder eindämmen sollten.
Doch wirkte sich der Agrarpreismechanismus der EU nicht nur auf das eigene Gefüge aus, sondern mittelbar auch auf andere Länder. So wurden hohe Zölle auf Agrarimporte nötig, um das künstlich gestützte Preisniveau gegenüber günstigeren Einfuhren abzusichern. Diese Marktabschottung erschwerte den Zutritt konkurrierender ausländischer Anbieter zum europäischen Markt. Gleichzeitig wurden den heimischen Erzeugern Exportsubventionen gewährt, um Differenzen zu den (damals) niedrigeren Weltmarktpreisen auszugleichen und Agrarausfuhren attraktiver zu machen. Da solche Exportanreize das globale Angebot steigern, die Preise entsprechend senken und Konkurrenten verdrängen können, ist diese Praxis international immer wieder kritisiert worden.53 Während der Hochphase ihrer preispolitisch angeregten Überschussproduktion in den 1970er und 1980er Jahren avancierte die EU vom Nettoimporteur zum Nettoexporteur landwirtschaftlicher Erzeugnisse.
Erst mit dem Übereinkommen über die Landwirtschaft (AoA) der WTO von 1994 veränderte sich die Agrarpolitik der EU und vieler anderer WTO-Mitglieder. Das Abkommen führte verschiedene Disziplinierungsmechanismen ein, um die Subventionierung und Marktabschottung in der Landwirtschaft und daraus resultierende Spill-over-Effekte auf andere Länder zu begrenzen. Demnach bleiben zwar einige Agrarsubventionen weiterhin erlaubt, sofern sie handelsneutral sind. Diese können als Einkommenshilfen dienen oder auch für bestimmte Ziele wie zur Kompensation von Naturkatastrophen oder zum vorbeugenden Risikomanagement (sogenannte »Green Box«-Maßnahmen der »Subventionsampel«; Annex 2 AoA) eingesetzt werden. Handelsverzerrende Praktiken wie die Interventionspreise aber (»Amber Box«-Maßnahmen; Art. 6 AoA) müssen eingeschränkt werden. Darüber hinaus sieht das Agrarabkommen vor, andere handelsverzerrende Maßnahmen abzubauen, die in der EU die Produktionssteigerung zunehmend begleiteten, das heißt Zölle (Zolllisten und Art. 4 AoA) und Exportsubventionen (Art. 9 AoA).
Mittlerweile hat die EU ihr System der Interventionspreise begrenzt auf definierte Ausnahmefälle von Marktkrisen für einzelne Produkte. Auch sind die hohen Agrar-Importzölle auf aktuell durchschnittlich 11 Prozent gesunken, liegen damit allerdings weiterhin über dem Niveau von 4,2 Prozent bei anderen Gütern. Bei einzelnen Erzeugnissen (z. B. Milchprodukten oder Obst und Gemüse) bestehen sogar nach wie vor Spitzenzölle von mehr als 200 Prozent.54 Allerdings legt die WTO Obergrenzen für Agrarzölle fest, sodass diese nicht beliebig erhöht werden können. Exportsubventionen der EU haben sich seit den 1990er Jahren von jährlich rund 10 Milliarden Euro auf nahezu null ab dem Jahr 2010 reduziert.55 2015 hat der WTO-Gipfel in Nairobi Ausfuhrsubventionen formal ganz abgeschafft.56
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die EU mit ihrem ursprünglichen Bestreben, die Nahrungsmittelversorgung durch Produktionsanreize zu sichern, zugleich an anderer Stelle ökonomische Verwerfungen und Spill-over-Effekte provozierte. Letztlich handelte sie also nicht effizient – diese ursprüngliche Politik setzte eine jahrzehntelange wirtschaftspolitische Maßnahmenspirale in Gang. Erst angesichts multilateraler WTO-Verpflichtungen und massiv steigender Agrarausgaben, auch infolge der EU-Erweiterung um große Agrarstaaten wie Polen, wurde die europäische Politik der Interventionspreise reformiert.
Heute dominieren in der GAP produktionsneutrale Anreiz-Instrumente, wie es die WTO erlaubt. Beispielsweise sind Agrarsubventionen nunmehr stärker von der laufenden Produktion entkoppelt und teilweise an ökologische Aspekte gebunden – auch deshalb, damit die weiterhin hohen Transfers öffentlicher Leistungen in die Landwirtschaft im öffentlichen Diskurs zu rechtfertigen und sie legitimiert sind. Denn noch immer entfallen rund 30 Prozent des EU-Haushalts auf Agrarausgaben,57 von denen wiederum rund zwei Drittel vor allem der Einkommensstützung dienen, also der »ersten Säule« der Agrarpolitik (siehe dazu S. 17ff).
Im internationalen Vergleich liegt die EU mit einem Agrarsubventionsvolumen von mehr als 55 Milliarden Euro im Jahr 2020 weit vorn, nämlich auf Rang 3 hinter China und den USA.58 Bezogen auf Transfers mit potenziell handelsverzerrenden Spill-overs etwa durch Mengen- oder Preiseffekte gab es Verbesserungen; dennoch kritisieren Handelspartner, die sich benachteiligt sehen, den immer noch hohen Anteil der preis- und marktwirkenden Unterstützung des landwirtschaftlichen Einkommens (Producer Support Estimate, PSE) von 19 Prozent.
Vorratshaltung: Markt- und Krisenreserven
Infolge der preispolitisch stimulierten landwirtschaftlichen Überproduktion entstanden in der EU umfangreiche Reserven an Nahrungsmitteln: Als Marktreserven dienten sie über lange Zeit dazu, in Phasen hoher Produktion und niedriger Preise Angebotsmengen durch staatliche Aufkäufe aus dem Markt zu nehmen, um sie später bei höheren Preisen wieder in den Wirtschaftskreislauf zurückfließen zu lassen. Dadurch konnten die Agrarpreise unmittelbar beeinflusst werden.
In den 1980er Jahren beanspruchte dieses System der als Interventionsreserven bezeichneten Marktreserven den Großteil des EU-Agrarbudgets.59 Phasenweise lagerten in den europäischen Interventionsbeständen bis zu 1,5 Millionen Tonnen Butter.60
Erst durch das Agrarabkommen der WTO von 1994 wurde die europäische Interventionspolitik stark eingeschränkt. Seither gestattet die WTO subventionierte Nahrungsreserven grundsätzlich nur dann, wenn sie keine handelsverzerrenden Produktionsanreize und Wettbewerbsvorteile für heimische Erzeuger mit sich bringen (»Green Box«, Annex 2 AoA). Es kam zu Konflikten auf internationaler Ebene, insbesondere mit Indien, ob die dortigen Reserven zur Ernährungssicherung in diesem Verständnis handelsneutral sind oder nicht. Bislang konnte 2013 auf WTO-Ebene nur eine Interimslösung für möglicherweise verzerrend wirkende Subventionen gefunden werden. Demnach werden begrenzte entsprechende Produktionsanreize beim Aufbau von Versorgungsreserven aktuell als von der WTO gestattet verstanden.61
In der EU werden Interventionsreserven heute nur noch ausnahmsweise zur Marktstabilisierung bei einigen wenigen Produkten eingesetzt, hauptsächlich bei verschiedenen Getreidesorten und tierischen Produkten wie Rindfleisch, Butter und Milchpulver.62 Die öffentlichen Eingriffe können dabei in Form unmittelbar staatlicher Einlagerung stattfinden oder als Beihilfen zur privaten Lagerhaltung.
Über ihren Hauptzweck als preispolitisches Steuerungsinstrument hinaus fanden die Interventionsbestände historisch teilweise auch eine soziale und humanitäre Verwendung.63 Dabei handelte es sich quasi um eine Umnutzung der Überschussproduktion. Bis in die 1990er Jahre wurde etwa verbilligte »Weihnachtsbutter« aus Interventionsreserven im Einzelhandel angeboten. Zudem wurden direkte Nahrungshilfen für Bedürftige in der EU oftmals den Reserven entnommen. Desgleichen speisten sich über viele Jahre humanitäre Nahrungsmittellieferungen an Entwicklungsländer aus Reservebeständen oder aus direkt auf dem europäischen Markt aufgekaufte Mengen, um sie (ohne den Umweg über die Reservehaltung) in Entwicklungsländer zu verschiffen.
Als die Interventionsbestände infolge des WTO-Agrarabkommens zunehmend reduziert wurden, ging die EU verstärkt dazu über, humanitäre Hilfe in finanzieller Form zu leisten, um beispielsweise Nahrungsmittel für Entwicklungsländer direkt in der jeweiligen Region zu kaufen. Dieses Vorgehen gilt als weniger schädlich im Sinne von Spill-over-Wirkungen für Entwicklungsländer, da es lokale Erzeuger unterstützt, anstatt ihnen mit humanitären Lieferungen zusätzlich Konkurrenz zu machen.64
Auch bei den innereuropäischen Nahrungshilfen, die ursprünglich größtenteils den Interventionsreserven entstammten und daher aus dem EU-Agrarhaushalt bezahlt wurden, hat sich die Politik gewandelt. Heute werden die Hilfen mit Geldmitteln aus einem eigenständigen Fonds außerhalb des Agrarbudgets finanziert, dem Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen (EHAP, engl. FEAD).65 Er ist 2014 eingerichtet worden, nachdem mehrere Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, eine unzulässige Vermischung von Agrar- und Sozialpolitik in einer Subsidiaritätsrüge kritisiert hatten, weil die EU keine gemeinschaftliche sozialpolitische Kompetenz habe. Der Fonds ermöglicht nationalen Behörden und karitativen Partnerorganisationen, außer Nahrungsmitteln auch Bekleidung und Hygieneartikel für Bedürftige zu erwerben. In der letzten EU-Haushaltsphase 2014–20 wurden allein 1,5 Millionen Tonnen Lebensmittel an mehr als 12 Millionen Menschen in 22 Staaten verteilt.66 Deutschland nutzt den Fonds allerdings nicht für Nahrungshilfen.
Der Nutzen der deutschen Krisenreserven zur Nahrungsmittelversorgung dürfte eher symbolisch sein.
Eigentliche Krisenreserven zur Nahrungsmittelversorgung im Katastrophenfall gibt es in der EU indes lediglich auf Ebene einzelner Mitgliedstaaten.67 Anders als im humanitären und sozialen Bereich sind die Krisenreserven unabhängig von Interventionsbeständen und oft schon vor der Zeit der EU-Mitgliedschaft entstanden, etwa in Finnland, Tschechien und Ungarn.
Auch Deutschland unterhält zwei Krisenreserven, schon seit dem Kalten Krieg: die sogenannte Bundesreserve Getreide und die Zivile Notfallreserve. Sie umfassen insgesamt knapp 1 Million Tonnen Getreidearten und Linsen.68 Die jährlichen Kosten für Lagerung, Kühlung, Bewachung und regelmäßigen Austausch der Bestände verdoppelten sich zwischen 2013 und 2019 nahezu und liegen nun bei 21 Millionen Euro.69 Dabei dürfte der Nutzen der Bevorratung eher symbolisch sein, da sich damit im Krisenfall nur ein kleiner Teil der Bevölkerung für kurze Zeit versorgen ließe.70 Für eine bundesweite Notfallversorgung beispielsweise über 30 Tage müssten die Reserven erheblich aufgestockt und außerdem auf schneller nutzbare, bereits verarbeitete Lebensmittel ausgedehnt werden. Die dafür anfallenden Kosten werden auf rund 2 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt.71
Der Bundesrechnungshof kritisierte neben den nicht unerheblichen Kosten vor allem auch die fehlende Verzahnung mit anderen kritischen Infrastrukturen wie Transport und Energie, die für die Verteilung und Verarbeitung der Notreserven entscheidend wäre.72 Ferner wird bemängelt, dass keine Auslöseschwellen und konkreten Schutzziele (z. B. ein bestimmter Versorgungszeitraum) vorgesehen sind, weswegen sich die potenzielle Nutzung der Reserven weder gut planen noch in ihrer Wirkung evaluieren lässt. Nicht zuletzt weist der Rechnungshof auf mangelnde Kooperationen mit privatwirtschaftlichen Akteuren in Verarbeitung und Einzelhandel hin, die für eine flächendeckende Versorgung eine tragende Rolle spielen. Da sie in Deutschland zur kritischen Infrastruktur »Ernährung« zählen, können ohnehin Vorsorgepflichten für sie festgeschrieben werden. Die Schweiz und Großbritannien etwa definieren entsprechende Notfall-Partnerschaften, nach denen Supermärkte sich zu Lager- und Lieferleistungen in Krisensituationen verpflichten. Zudem wurden die Krisenreserven in Deutschland bislang selbst in größeren Notlagen wie Hochwasserkatastrophen noch nie benötigt, weshalb ihre Sinnhaftigkeit prinzipiell infrage gestellt werden kann.
Der internationale Blick: Globales Monitoring und Evaluierung von Spill‑over-Effekten
Politische Strategien zur Ernährungssicherung priorisieren die Versorgung der eigenen Bevölkerung. Durch Produktionsanreize mittels Interventionspreisen konnte die europäische Agrarpolitik seit ihren Anfängen gewährleisten, dass sie dieses Ziel erreichte. Während die Situation in der EU über lange Zeit durch hohe landwirtschaftliche Überschüsse charakterisiert war – und Agrarexporte sogar subventioniert wurden –, griffen dagegen andere Länder aus Sorge vor Versorgungsknappheit immer wieder auf Ausfuhrverbote zurück.
Zwar sind solche handelsbeschränkenden Maßnahmen durch das WTO-Regelwerk für Krisenfälle ausdrücklich gedeckt (etwa Exportrestriktionen durch Art. XI GATT und Art. 12 AoA), doch birgt ihre Nutzung ein hohes Risiko überschießender Marktreaktionen. So können Exportrestriktionen oder auch das Pendant wie staatliche Hamsterkäufe eine Angebotsknappheit auf dem Weltmarkt verschärfen oder mitunter überhaupt erst auslösen – zumal wenn große Akteure solche Maßnahmen anwenden. Wegen der geringen Angebots- und Nachfragereagibilität (geringe Preiselastizitäten) gerade im Agrarsektor führt so etwas schnell zu versorgungskritischen Preisspitzen.
Oft begründen sich Handelsbeschränkungen nicht in einer tatsächlichen, sondern in einer befürchteten Versorgungsknappheit. Die Schwierigkeit, das Weltmarktangebot und die Marktentwicklung richtig einzuschätzen, kann dabei folgenreiche Fehlreaktionen mit erheblichen Wohlfahrtsverlusten für das Resilienzziel der Versorgung hervorrufen. Dementsprechend haben Bemühungen um leistungsfähige Marktinformationssysteme im Agrarsektor eine lange Tradition, nicht nur für die nationale und europäische, auch für die globale Marktsituation.73
Speziell vor dem Hintergrund vorangegangener globaler Agrarpreiskrisen mit historischen Preisspitzen in den Jahren 2008 und 2011 hat die G20 gemeinsam mit FAO, OECD, Weltbank und WTO 2011 das international koordinierte Agricultural Market Information System (AMIS) gegründet.74 Dieses Monitoringsystem ist dahingehend einzigartig, dass es nicht nur existierende Datensysteme zusammenführt, sondern durch ein politisches Reaktionsgremium begleitet wird.
Die Monitoringkomponente von AMIS soll kontinuierlich Informationen zur faktischen Angebotslage auf dem Weltmarkt liefern, um möglichst zu verhindern, dass auf Basis einer falsch wahrgenommenen Versorgungssituation vorschnelle und für die Versorgungssicherung kontraproduktive Exportrestriktionen beschlossen werden. Letztlich geht es darum, durch mehr Markttransparenz Wohlfahrtsverluste zu vermeiden. Dazu führt AMIS zum einen auf einem Datenportal bereits vorhandene Informationssysteme, etwa zu Preisen und Handelsmengen, zusammen. Zum anderen bietet es eine weltweite Übersicht darüber, welche Exportbeschränkungen in welchen Staaten gerade bestehen und welche Produkte sie betreffen.
Das Marktinformationssystem wird politisch flankiert durch einen Dialog der am Weltmarkt beteiligten Agrarländer. Im Rapid Response Forum (RRF) sind hochrangige politische Beamte vernetzt, die sich regelmäßig sowie in Akutsituationen austauschen und öffentlich wirksam kommunizieren sollen.
Gerade in der Corona-Krise hat sich gezeigt, dass das AMIS sich mehr als kommunikativ-strategisches System denn als pures Informationstool versteht: So startete die G20 gemeinsam mit anderen Staaten und Organisationen inklusive der EU bereits früh in der Pandemie eine Informationsinitiative auf Grundlage der AMIS-Informationen, um nationalen Exportrestriktionen von Agrargütern entgegenzuwirken.75 Tatsächlich kam es in der Folge weltweit zu deutlich weniger Ausfuhrverboten für Nahrungsmittel als noch in der Agrarpreiskrise 2008.
Neben AMIS existieren auf europäischer Ebene eigene Monitoringsysteme im Agrarbereich, zum Beispiel der sogenannte »Mittelfristige Ausblick für die Agrarmärkte«, der jährlich veröffentlicht wird und sich auf die folgenden zehn Jahre bezieht.76
Darüber hinaus sind exklusiv im Agrarsektor weitere Ansätze entstanden, die Folgewirkungen politischer Maßnahmen für andere Staaten nicht nur erfassen, sondern auch vermeiden helfen sollen:
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Die OECD nutzt seit den 1980er Jahren ein Bewertungssystem und entwickelt es stetig weiter. Es erfasst ganz unterschiedliche öffentlich finanzierte agrarpolitische Maßnahmen, von Forschung über Beratung bis hin zur Marktpreisbeeinflussung, und macht sie vergleichbar. Auf diese Weise lassen sich Indikatoren berechnen, mit deren Hilfe man etwa abschätzen kann, welcher Anteil des landwirtschaftlichen Einkommens auf politische Einflüsse zurückgeht oder wie stark Verbraucherpreise beeinflusst werden (Producer Support Estimate, PSE; Consumer Support Estimate, CSE). Die Indikatoren werden regelmäßig und produktspezifisch für alle OECD-Staaten ermittelt; sie bilden die staatliche Eingriffsintensität sowie das jeweilige Muster agrarpolitischer Maßnahmen ab. Dieses über Jahre erprobte und ausgebaute Konzept und der darüber mögliche sichtbare Ländervergleich waren eine Voraussetzung dafür, dass man sich auf WTO-Ebene auf eine politische Begrenzung staatlicher Eingriffe verständigen konnte – wenn auch mit angepassten Indikatoren.
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Für das WTO-Agrarabkommen von 1994 konnte ein Klassifizierungsschema für Agrarsubventionen beschlossen werden, eine Art Ampelsystem nach Schwere der Handelsverzerrung und darauf gründender Stärke der Abbauverpflichtung. Es teilt verschiedene Subventionstypen nach ihrer Preis- und Marktwirkung ein und damit nach ihren potenziellen Handelseffekten (»Boxes« in einer »Subventionsampel«). Die Preiswirkungen werden dabei über komplexe Berechnungsformeln ermittelt. Indirekt lassen sich aus einer solchen Preiswirkung einer Subvention begrenzt auch Effekte auf die Versorgungssituation etwa in Form von beeinflussten Importkosten bei Nahrungsmitteln ableiten. Für die verschiedenen Subventionstypen wurden abhängig von ihrer Handelswirkung Abbauverpflichtungen und Obergrenzen festgeschrieben. Die Staaten sind zudem verpflichtet, regelmäßig ihre Agrarsubventionen zu notifizieren und damit für andere Staaten offenzulegen.
Monitoring- und Evaluierungstools sind prinzipiell geeignet, um Störungen des internationalen Agrarmarkts zu vermeiden.
Die Evaluierung politischer Ansätze im Agrarbereich ist freilich nicht ohne Kritik geblieben. Insbesondere wurde immer wieder infrage gestellt, ob die Kriterien der WTO-Klassifizierung die Preis- und Handelswirkung von Subventionen und damit die Auswirkungen auf Handelspartner tatsächlich hinreichend abbilden. Auch können rein strategische Notifizierungen in der von der WTO erlaubten Kategorie vorkommen oder gar Notifizierungen ganz unterlassen werden. Beides kann Gegenstand von Streitverfahren der WTO werden.
Ebenso lässt sich mit Blick auf die verschiedenen agrarpolitischen Monitoringsysteme einwenden, dass zwar ein Großteil der Informationen, etwa zu Anbaumengen, durch technische Lösungen wie GPS-Systeme erhoben werden kann. Manche Elemente des Monitorings sind indes nur möglich, wenn die teilnehmenden Länder bereit sind zu kooperieren und Informationen auszutauschen. Dies ist zum Beispiel Voraussetzung, um Angaben zu nationalen Krisen- oder privatwirtschaftlichen Reserven zu erhalten. Diese zählen zu den verfügbaren Mengen an Nahrungsmitteln eines Landes, sind aber oftmals nicht erfasst.
Gleichwohl stellen Monitoring und Evaluierung dennoch prinzipiell richtungsweisende Instrumente dar, um Marktstörungen auf internationaler Ebene zu vermeiden. Gegenüber früheren agrarpolitischen Ansätzen beinhalten sie damit auch ein moderneres Verständnis von Resilienz, das den Fokus nicht nur auf die Versorgung der heimischen Bevölkerung richtet, sondern Auswirkungen der eigenen Politik auf andere sowie die Interdependenz des weltweiten Güterhandels einbezieht.
»Neuer« Krisenschutz: Der EU-Notfallplan für Ernährungssicherheit
Wenngleich die Lebensmittelversorgung in der EU während der Corona-Krise insgesamt als stabil anzusehen ist,77 hat die Pandemie doch zu dem politischen Bestreben geführt, sich konzeptuell mit der Sicherung der Ernährung in Krisensituationen zu befassen. Ende 2020 wurde die Idee eines »Notfallplans zur Gewährleistung der Lebensmittelversorgung und Ernährungssicherheit in Krisenzeiten« geboren.78 Dieser ist eingebunden in die sogenannte »Farm to Fork«-Strategie, die agrarpolitische Komponente im EU-Nachhaltigkeitskonzept des Green Deal.
Im November 2021 hat die EU-Kommission nunmehr die Grundzüge ihres Notfallplans vorgestellt, wie er prinzipiell vom Agrarrat unterstützt wird und 2022 in den Legislativprozess gehen könnte. Prinzipiell ist das Ziel, die bislang überwiegend national definierten Krisenmechanismen stärker aufeinander abzustimmen. Die Kommission betont die Notwendigkeit, verschiedene EU-Politikfelder ressortübergreifend zu integrieren. Vorgeschlagen wird ein Reaktionsmechanismus (European Food Security Crisis Preparedness and Response Mechanism, EFSCM), zusammengesetzt aus Vertretern der Mitgliedstaaten und der Kommission unter Teilnahme von Interessengruppen, der an das internationale Rapid Response Forum im Rahmen von AMIS erinnert. Auch sollen Dashboards zur Versorgungslage genutzt und Empfehlungen für eine Diversifizierung der Versorgungsquellen entworfen werden.
Damit haben die im Konsultationsverfahren zunächst ebenfalls eingebrachten Vorschläge einer Reservehaltung oder einer verstärkten Subventionierung eigener Produktion keinen Eingang in das Notfallkonzept gefunden. Vielmehr trägt es mit der nunmehr verfolgten Koordinierungs- und Monitoring-Idee grundsätzlich zu einem umfassenderen Verständnis von Resilienz bei, das Spill-over-Wirkungen und Interdependenzen zwischen verschiedenen Akteuren und Wirtschaftssektoren gerecht wird.
Zu konkretisieren bleibt weiterhin, wie eng sich das Konzept an Leitlinien aus dem Katastrophenschutz orientieren wird, was bestimmte Schutzziele, Auslöseschwellen, Ablaufschemata und Verwaltungsprozesse angeht, und wie sich sein Verhältnis zur bereits bestehenden (aber bis dato nicht für den Ernährungsbereich ausgelegten) europäischen Katastrophenreserve
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Quelle: Eigene Zusammenstellung. |
rescEU gestaltet (siehe S. 10ff). Außerdem ist zu klären, wie der im ersten Kommissionsansatz anvisierte höhere Grad der Diversifizierung von Lieferketten aussehen und wie er erreicht werden kann: Bisher ist nur bekannt, dass er zwischen langen und kurzen Versorgungsketten angesiedelt werden soll. Werden aber kurze Versorgungsketten angestrebt, können zu ihrer Durchsetzung abschottende Maßnahmen nötig werden – mit entsprechenden Risiken, die gerade die EU mit ihrer langen Erfahrungsgeschichte in puncto Ernährungssicherung zu vermeiden suchen sollte.
Synopse: Effekte und Risiken der Maßnahmen zur Versorgungssicherung
Das Bestreben, die Nahrungsmittelversorgung und den eigenen Mark zu sichern, hat seit den Anfängen der EU ein kostspieliges, durch Preisgarantien getriebenes System von landwirtschaftlichen Überschüssen, Interventionsreserven, Zollschranken und Exportsubventionen hervorgebracht. Erst unter dem Druck stetig steigender Agrarausgaben und internationaler Handelsverpflichtungen wurden diese agrarpolitischen Instrumente ab den 1990er Jahren reformiert, ihre Spill-over-Effekte eingedämmt und innovativere Ansätze der Versorgungssicherung entwickelt. Tabelle 2 (siehe S. 28f) fasst die einschlägigen Maßnahmen der vergangenen Jahrzehnte mit ihren Auswirkungen und Folgen zusammen.
Aus dem Beispiel der Ernährungssicherung lassen sich generelle wirtschaftspolitische Lehren für künftige Resilienzstrategien ziehen, und zwar in dem Sinne, dass sie komplexe Folgewirkungen gezeitigt hat, die es zu beachten gilt. Die EU und ihre Mitgliedstaaten können von diesen Erfahrungen profitieren, wenn sie zurzeit Vorschläge für mehr Krisenschutz und Resilienz diskutieren und den Aufbau von staatlichen Reserven für andere Sektoren planen, wie etwa für medizinische Güter.
Schlussfolgerungen für künftige Resilienzstrategien
Resilienz als politische Strategie ist ein im Entstehen begriffenes Konzept. Das gesteigerte gesellschaftliche Schutzbedürfnis infolge der Corona-Krise hat dem Ansatz enorme Aufmerksamkeit beschert. Zugleich fehlt bislang in der Politik eine klare Idee, wie sich Resilienz im eigentlichen Sinn befördern lässt. Diverse Politikfelder, die güterbezogene Wirtschaftsprozesse und physische Infrastrukturen betreffen, weisen zwar konkrete Krisenmechanismen und Schutzziele auf, die mit dem Resilienzgedanken in Verbindung stehen. Dabei wird jedoch das Verständnis von Resilienz, oft lediglich implizit vorhanden, nur auf die eigene Versorgungssicherheit bezogen und damit verengt.
Beides, die Unschärfe des politischen Resilienzbegriffs wie seine inhaltliche Engführung, birgt strategische Risiken: Ein mangelhaftes Zielverständnis erschwert die Kommunikation involvierter Akteure und die Entwicklung einer übergreifenden europäischen Resilienzstrategie; die Konzentration auf Versorgungsrisiken blendet andere, wichtige Aspekte aus und kann das Paradigma der Resilienz im ungünstigen Fall sogar konterkarieren.
Denn Resilienz heißt nicht, sich für jedes denkbare Risiko zu rüsten. Genauso wenig geht es darum, ökonomische Schocks einfach auszuhalten. Vielmehr sind mit Resilienz die systemischen Eigenschaften und Faktoren gemeint, die es Gesellschaften und Wirtschaftssystemen erlauben, gerade in unerwarteten Krisen agil und flexibel zu reagieren, ihnen ausweichen, sich davon erholen und sich anschließend transformieren zu können.79
So verstanden, kann Resilienz in der Tat ein »Kompass« für die EU sein und nicht bloß ein Catchword. Ein solcher Kompass ist ein Wegweiser, kein fixiertes Ziel; um ihn auszurichten, müssen einige wichtige Abwägungen getroffen werden. Vor dem Hintergrund der dargestellten konzeptionellen Grundlagen, des Vergleichs der Politikfelder hinsichtlich ihres Resilienzbezugs sowie der europäischen Erfahrungen mit der Ernährungssicherung werden im Folgenden mögliche Fallstricke der Krisenvorsorge herausdestilliert und innovative Ansätze hervorgehoben. Damit werden Hinweise gegeben, wie Resilienz in der politischen Praxis operationalisiert werden kann.
Resilienzverständnis kontinuierlich klären und operationalisieren
Für den politischen Prozess bedarf es zweierlei: Die beteiligten Akteure müssen sich über das generelle Paradigma der Resilienz an sich verständigen und sich über konkrete wirtschaftspolitische Ziele abstimmen. Es geht um eine gemeinsame Kommunikationsgrundlage, ähnlich wie sie etwa für das Prinzip der Nachhaltigkeit besteht.
Konzeptuell sollten Resilienzstrategien dabei insbesondere vom herkömmlichen Risikomanagement abgegrenzt werden (siehe S. 7ff). Während der Risikobegriff spezifische Gefahren und negative Einwirkungen auf ein System in den Blick nimmt, fokussiert Resilienz umgekehrt die positiven Eigenschaften des Systems selbst, seine Reagibilität und Flexibilität, die ganz unterschiedliche Krisen meistern helfen. Dabei trägt der Resilienzgedanke der Gleichzeitigkeit vernetzter Risiken und Stressfaktoren Rechnung. Insofern zeichnet sich Resilienz eher durch Risiko-Unspezifität aus und erfordert ein strukturelles Denken, das über einzelne (wenngleich wichtige) Versorgungsziele hinausgeht.
Neben einer besseren Klärung des grundsätzlichen Resilienzkonzepts müssen Akteure in unterschiedlichen Politikbereichen freilich konkrete Ziele und Maßnahmen definieren. Nur indem strategische Zielvorgaben explizit benannt werden, lassen sich Resilienzansätze evaluieren und miteinander in Einklang bringen. Das ist nicht trivial. So existieren in den untersuchten EU-Politikfeldern (siehe S. 10ff) durchaus verschiedene konzeptuelle Logiken, Verfahrensabläufe und Budgetbedingungen, was sich auf Entscheidungsprozesse auswirken und zu Inkonsistenzen führen kann. Bereiche wie der Katastrophenschutz oder die Handelspolitik haben traditionell ein je eigenes Krisenverständnis und spezifische Schutzmechanismen. Daher kann es in der politischen Praxis sinnvoll sein, bestimmte Schutzziele auch weiterhin unabhängig voneinander zu verfolgen und mehrere, das heißt sektorale Resilienzstrategien nebeneinander (fort)bestehen zu lassen.
Gleichwohl liegt eine Stärke des Resilienzkonzepts gerade darin, dass es die Interdependenz der Politikfelder unterstreicht. Ein gemeinsames Resilienzverständnis oder eine klare Identifizierung von Unterschieden hilft dabei, unterschiedliche Politikstränge kohärenter zu machen. Dafür lassen sich bereits laufende, konkrete Initiativen nutzen: Beispielsweise wird in den aktuellen und bewusst zeitgleich angegangenen Reformen der EU-Ansätze zum Schutz kritischer Infrastrukturen und zur Cybersicherheit eine solche engere Vernetzung angestrebt.80
Auch die EU-Initiativen für eine verbesserte Rechtsetzung bieten Möglichkeiten der Verzahnung. So werden in der EU künftige Gesetzesvorhaben verpflichtenden Politikfolgeabschätzungen (Regulatory Impact Assessments) unterzogen, und zwar im Hinblick auf definierte Wirkungen.81 Während Umwelt und Gesundheit hierbei als Wirkungsdimensionen bereits erfasst sind, könnten prinzipiell auch resilienzbezogene Aspekte stärker einfließen, etwa Versorgungssicherheit, Spill-over-Effekte auf andere Länder oder, im Sinne der Vernetzung, auch auf andere Sektoren. Nicht zuletzt verfolgt die EU-Kommission in ihrer strategischen Vorausschau die Idee, mittels indikatorbasierter Dashboards eine holistische Bewertung des Resilienzniveaus in der EU zu ermöglichen, wobei unterschiedliche politische Bereiche berücksichtigt werden sollen (siehe S. 7ff).82
Resilienz sollte indes durch eine solche Indikatorlogik nicht als statischer, ein für alle Mal zu erreichender Zustand konzipiert werden, der sich anhand einer Messlatte quasi per »box ticking« herstellen ließe. Nimmt man den Resilienzbegriff als Paradigma ernst, führt er vielmehr eine reflexive Perspektive in die politische Praxis ein, um spezifische Maßnahmen immer wieder erneut auf ihre Wirkungsrichtung zu prüfen. Ein entscheidendes Kriterium für Resilienzstrategien ist dabei, ob konkrete Ansätze die generelle Flexibilität und Reagibilität von Wirtschaft und Gesellschaft in Krisensituationen erhöhen oder nicht.
Einzubindende Akteurs- und Regulierungsebene abwägen
Gerade in Krisen rückt der Staat in seiner schützenden Funktion als Akteur verstärkt in den Blick. Dies kommt rechtlich in seiner Fürsorgepflicht zum Ausdruck, die den Krisenschutz und die Versorgung mit essenziellen Gütern auch im Sinne der Daseinsvorsorge umfasst. Das Beispiel der Ernährungssicherung zeigt diesbezüglich einen ursprünglich starken staatlichen Marktakteur.
In der Ökonomik ist staatliches Eingreifen üblicherweise durch Marktversagen gerechtfertigt, das zu suboptimalen Entscheidungen privater Marktakteure führt, so dass ein Wohlfahrtsmaximum verfehlt wird.83 Ursachen können etwa externe Effekte von wirtschaftlichen Aktivitäten, asymmetrische Informationen unter den Marktteilnehmern oder sogenannte natürliche Monopole sein.
Die (räumliche) Ausbreitung des Marktversagens bestimmt dabei theoretisch die optimale Ebene der Regulierung (und Finanzierung) – ob national, europaweit oder global interveniert werden muss, wie es etwa die WTO als Regelungsinstanz für den globalen Handel begründet.84 Allerdings können negative Spill-over-Effekte eines suboptimalen Marktgeschehens oft nicht eindeutig eingegrenzt werden, um die wohlfahrtsmaximierende Ebene öffentlichen Agierens zweifelsfrei zu bestimmen. Das birgt das Risiko, dass durch bloße Verweise auf derartige Effekte vorschnell staatliche und eher zentrale Regulierungen in den Blick geraten, was zumindest regelmäßig zu hinterfragen ist. Dies unter anderem deshalb, weil es neben dem gerade in Krisen häufig herangezogenen Argument des Marktversagens auch das gegenteilige Risiko eines Versagens staatlichen Handelns gibt. Kritiker haben diesen Umstand zu Beginn der Corona-Pandemie vielfach hervorgehoben und sich zum Beispiel auf die schwierige öffentliche Beschaffung von Gütern des Gesundheitsschutzes bezogen. Genereller formuliert lautet die Frage, inwieweit und in welchem Ausmaß der Staat in Ausnahmesituationen die Führung übernehmen muss und welche Komponenten systemischer Resilienz dem privatwirtschaftlichen Handeln überlassen werden können – oder sogar sollten.
In vielen Fällen dürften sich Mischformen als geeignet erweisen. Anders als etwa beim Aufkauf medizinischer Schutzausrüstung, durch den die öffentliche Hand unmittelbar in Angebot und Nachfrage eingreift, bleibt der Staat beim Schutz kritischer Infrastrukturen als Akteur stärker im Hintergrund, indem er privaten Betreibern bestimmte Pflichten auferlegt.
Unabhängig von diesen konzeptuellen Aspekten ist für eine europäische Resilienzstrategie aus realpolitischer Perspektive vor allem relevant, wie sich bestimmte Kompetenzen innerhalb der EU verteilen. Beispielsweise werden die Handels- und die Agrarpolitik durch Entscheidungen auf europäischer Ebene geprägt, während der Katastrophenschutz in größerem Maße den Mitgliedstaaten obliegt.
Zudem beeinflussen Budgetfragen die Entscheidungsprozesse und die Reagibilität von Politikfeldern in der EU. Der für sieben Jahre festgelegte Haushaltsrahmen, der Ausgabengrenzen für Politikfelder enthält und konkrete Maßnahmen für lange Zeit festlegt, lässt in der Regel wenig Spielraum für akute Krisenreaktionen. Gerade bei ausgabenrelevanten Bereichen wie der Agrar- und Strukturpolitik können entsprechende Flexibilitätsregelungen in den langfristigen Legislativvorgaben helfen. Darüber hinaus sollte immer beachtet werden, wie sich Vorschläge für spezifische Resilienzmaßnahmen auf die Umverteilung des EU-Budgets zwischen den Mitgliedstaaten auswirken. Weil diese ein (innenpolitisches) Interesse besitzen, eher als Nettoempfänger denn als ‑zahler zu gelten, müssen diesbezügliche Veränderungen mitbedacht werden. Nur dann kann man die Umsetzungschancen von Resilienzstrategien realistisch einschätzen und gegebenenfalls Kompensationen vorbereiten.
Fallstricke und Folgeeffekte aus verengtem Resilienzverständnis vermeiden
Aus den Erfahrungen der jahrzehntelang verfolgten Strategie der Ernährungssicherung in der EU lassen sich grundsätzliche Lehren ziehen – nicht nur, was innovative Resilienzansätze (siehe S. 35f) betrifft, sondern gleichfalls hinsichtlich möglicher Fallstricke und ökonomischer Folgeeffekte der Krisenvorsorge. Das vielleicht sinnfälligste Beispiel ist der Aufbau von Reserven, wie er auch als Schutz vor durch die Corona-Pandemie gestörten internationalen Lieferketten derzeit für viele Sektoren debattiert wird.
Häufig werden Reserven verstanden als staatliche Krisenreserven zur Absicherung in Ausnahmesituationen. So unterhält Deutschland seit dem Kalten Krieg die Bundesreserve Getreide und die Zivile Notfallreserve, insgesamt rund 1 Million Tonnen Getreidevorräte und Linsen. Allerdings wurden die kostspielig gelagerten Vorräte bisher noch nie genutzt, wären für eine umfassende und längere Versorgung der Bevölkerung zu klein und ließen sich aufgrund schwacher Verzahnung mit kritischen Infrastrukturen wie Transport und Energie im Krisenfall womöglich nicht zügig genug verteilen und verarbeiten (siehe S. 23ff).
Diese Schwächen von Schutzreserven gegenüber Krisen gelten nicht nur für den Ernährungssektor. Deutschland verfügt über die aus 100 Millionen Impfstoffdosen bestehende sogenannte Pockenreserve, die es angesichts bioterroristischer Szenarien Anfang der 2000er Jahre angelegt hat. Im Falle einer Pockenepidemie müsste sie umgehend an viele Millionen Menschen verimpft werden, um einen protektiven Effekt zu entfalten. Bei dem Impfstoff handelt es sich um ein Vakzin, das ursprünglich zur Ausrottung der Pocken eingesetzt wurde, heute nicht mehr offiziell zugelassen ist und überdies vergleichsweise viele Nebenwirkungen hat. Es ist fraglich, wie erfolgreich sich damit eine logistisch hoch anspruchsvolle Impfkampagne überhaupt durchführen und öffentlich kommunizieren ließe. Auch könnte man Anschlägen mit ganz anderen Erregern oder Giftstoffen mit der Pockenreserve nicht begegnen.85
Allgemein gesprochen ist es beim Aufbau von Reserven relevant, was genau gelagert und wie auf veränderliche Anforderungen reagiert werden soll. Zudem haben Krisenreserven einen politisch nicht zu vernachlässigenden Symbolcharakter und eine starke Beharrungstendenz, weshalb ihr nachträglicher Abbau schwerfällt. Dies kann Flexibilität beschränken und Ressourcen binden.
Jedoch ist nicht nur die Frage von Bedeutung, wie effizient Reserven sind –eine möglicherweise weit größere Rolle spielen potenzielle ökonomische Folgeeffekte. Insbesondere die Vermischung von Krisen- und Marktreserven sowie deren Aufbau mithilfe von Produktionsanreizen ist problematisch. So führte das durch Interventionsreserven und Preisgarantien charakterisierte agrarpolitische System der EU in den 1970er und 1980er Jahren zu erheblichen Handelsverzerrungen und Spill-over-Effekten auf andere Länder. Diese Folgewirkungen wurden erst durch Disziplinierungsmechanismen im WTO-Agrarabkommen von 1994 reduziert (siehe S. 22f).
In jüngerer Zeit kam es innerhalb der WTO zu einem Konflikt über die vorgeblich rein für Versorgungszwecke aufgebauten Nahrungsmittelreserven Indiens, in denen andere Staaten eine wettbewerbsverzerrende Subventionierung der dortigen Agrarproduzenten sahen. Bislang konnte der Konflikt nur provisorisch durch eine Interimslösung entschärft werden. Vor diesem Hintergrund ist der Vorschlag der EU-Kommission für eine neue Ernährungsnotfallversorgung als klug zu bewerten, da er keine Hinweise darauf enthält, dass die Idee einer europäischen Reservehaltung wiedererwacht wäre. Vielmehr fokussiert er koordiniertes Monitoring in Anlehnung an das internationale AMIS-System.
Die detaillierten Disziplinierungsregeln der WTO für subventionierte Reserven gelten exklusiv für den Agrarhandel, greifen also beispielsweise nicht für Gesundheitsgüter. Nichtsdestotrotz sollten auch in anderen Sektoren wie dem Gesundheitssektor generell Spill-over-Effekte berücksichtigt werden, die sich für andere Staaten bemerkbar machen können. Dies könnte für die in Deutschland anvisierte Nationale Reserve Gesundheitsschutz, die medizinische Schutzausrüstung vorhalten soll, relevant sein oder für die laut Koalitionsvertrag von 2021 vorgesehene Arzneimittelbevorratung. Solche Reserven bergen Risiken, insbesondere bei Vermengung verschiedener Aspekte wie der Krisenvorsorge, der humanitären Nutzung kurz vor dem Ablaufdatum stehender Güter sowie der wirtschaftspolitischen Stärkung der heimischen Produktion durch entsprechende staatliche Aufkäufe. Vor allem Letzteres könnte sich nachteilig auf konkurrierende europäische wie globale Anbieter auswirken; ferner könnten international sinkende Anreize zur Produktion in anderen Staaten auch die eigene Versorgung gefährden, wenn es zu globaler Knappheit kommt.86 Inwieweit der neu gegründete europäische Produktionsverbund EU-FAB einem Risiko innereuropäischer Konkurrenzverzerrung durch nationale (auch produktionssteigernde) Maßnahmen entgegenwirken kann, bleibt abzuwarten.
Eine stark versorgungswirksame Schwäche der WTO-Regeln betrifft alle Sektoren, auch Agrargüter, nämlich die quasi bedingungslos möglichen Exportrestriktionen. Für Gesundheitsgüter wurden entsprechende Beschränkungen zu Beginn der Corona-Pandemie sogar innerhalb der EU erlassen, mit dem erklärten Ziel, die eigene Versorgung zu sichern. Versorgungsmängel in anderen EU-Staaten wurden dabei in Kauf genommen – trotz Solidaritätsklausel im AEUV.
Ein Anreiz, von solchen Handelsbeschränkungen im Krisenfall abzusehen, könnte für die jeweiligen Akteure in der Tatsache liegen, dass solche Restriktionen Bumerang- und Kaskadeneffekte auslösen können, wodurch sich wiederum die Versorgungslage im eigenen Land verschlechtern kann. Denn wenn das Güterangebot im heimischen Markt wegen der Ausfuhrverbote wächst, kann bei geringeren Preisen in der Folge der Anreiz zur eigenen Produktion sinken. Zudem werden Exportrestriktionen nicht selten durch entsprechende Gegenmaßnahmen der Handelspartner beantwortet, sodass sich Versorgungsrisiken international hochschaukeln und auf vielfältige Güterbereiche übergreifen können.87
Mit ähnlich negativen Folgeeffekten muss auch beim sogenannten Reshoring (oder »Nearshoring«) gerechnet werden, das seit Beginn der Corona-Pandemie weithin als probates Mittel für resiliente Wirtschaftskreisläufe gilt. Tatsächlich ist die Idee der Rückverlagerung der Produktion in heimische oder nachbarschaftlich nahe Märkte nicht neu und fügt sich ein in die generelle Debatte um Deglobalisierung. So lässt sich seit Längerem ein Trend zu kürzeren Wertschöpfungsketten beobachten. Gründe dafür liegen zum einen in stetig wachsenden Qualitätsstandards sowie digitalisierten und robotisierten Prozessen, die die Fertigung an teureren Standorten attraktiver machen. Zum anderen nähren Handelskonflikte anderer Staaten den Wunsch nach eigener wirtschaftlicher Autonomie.88
Der jüngste Handelsbericht der WTO stuft Handel durchaus als ambivalent ein, gleichermaßen als Risiko und Erfolgsfaktor für Resilienz:89 Risiken resultieren hiernach etwa aus grenzüberschreitender Krankheitsverbreitung bei Arbeitskräfte- und Tiermobilität, aus CO2-Emissionen beim Transport und schneller Verbreitung nationaler Wirtschaftsschocks entlang verwobener Lieferketten. Andererseits aber trägt gerade ein offener Handel dazu bei, dass nationale Schocks durch größere verbundene Markträume aufgefangen werden. Simulationen für Deutschland deuten darauf hin, dass ein mithilfe von Zollschranken bewirktes »Nearshoring« zu Wohlfahrtsverlusten führt.90 Insgesamt zeigt dies: Effektive Resilienzstrategien sollten weniger die Autonomie im Sinne nur eigener Versorgungssicherung in den Blick nehmen, sondern vielmehr die Interdependenz von Wirtschaftssystemen.
An bewährte Ansätze anknüpfen
Angesichts negativer ökonomischer Erfahrungen mit komplexen Folgewirkungen der Versorgungssicherung wurden im Agrarsektor innovative Instrumente entwickelt, die bis heute tragen. Insbesondere stehen Ansätze zur Verfügung, die eine Evaluierung von Spill-over-Effekten erlauben und der Verzahnung von Wirtschaftskreisläufen durch transparentes Monitoring besser gerecht werden.
So nutzte die OECD bereits in den 1980er Jahren Kriterien und entwickelt sie seitdem weiter, um für Agrarprodukte die staatliche Eingriffsintensität international vergleichbar zu machen. Letztlich schuf dies eine Basis für die Klassifizierung von Subventionen nach dem Grad der Handelsbeeinflussung und für Reduktionsvorgaben im WTO-Agrarabkommen von 1994 (siehe S. 25ff). Mittlerweile werden die OECD-Kriterien zur internationalen Analyse von Subventionen auch in anderen Sektoren angewendet, beispielsweise bei fossilen Energieträgern91 oder bei Aluminium und Halbleitern.92
Noch weiter geht der von der Universität St. Gallen konzipierte Global Trade Alert (GTA): Er versucht, für unterschiedlichste Güter, Dienstleistungen und Investitionen eine breite Palette politischer Maßnahmen (Subventionen, Zölle, Exportrestriktionen, Regelungen zur Arbeitsmigration) in ihrer Handelswirkung weltweit zu erfassen.93 Denkbar wäre, diese verschiedenen Bewertungssysteme zukünftig stärker zu verknüpfen und zudem um spezifische Aspekte der Versorgungssicherung und der Auswirkung auf Resilienz zu ergänzen.
Eine analoge Entwicklung lässt sich für das internationale Monitoring von Marktprozessen feststellen, das wesentlich auf Impulse aus dem Agrarsektor zurückgeht. Das Agricultural Market Information System (AMIS), gegründet von der G20 vor dem Hintergrund der weltweiten Agrarpreiskrisen 2008 und 2011, ermöglicht nicht nur eine transparente Erfassung der faktischen Versorgungslage, sondern durch das begleitende politische Rapid Response Forum (RRF) auch einen Austausch auf höherer politischer Ebene. Dadurch kann es für die Versorgungssicherung kontraproduktiven Maßnahmen wie Exportrestriktionen entgegenwirken. Während der Corona-Pandemie trug der kontinuierliche Verweis auf die AMIS-Information, dass ausreichend internationale Nahrungskapazitäten vorhanden seien, entscheidend dazu bei, dass es zu deutlich weniger Ausfuhrbeschränkungen für Agrarprodukte kam, als dies angesichts früherer Krisen befürchtet worden war.
Demgegenüber belegten viele Staaten gerade zu Beginn der Pandemie Medizinprodukte mit drastischen Handelsrestriktionen; die EU führte sie in Form von »Exportautorisierungen« ein – dies stand sehr im Widerspruch zur ihrer im Agrarsektor deutlichen Linie, Restriktionen zu vermeiden.94 Die Lehre aus dieser Krisen(über)reaktion sollte sein, ein transparentes und politisch gestütztes Monitoring ebenso für medizinische und andere kritische Güter und Infrastrukturen voranzutreiben, wie es für Agrarprodukte etabliert ist.95
Tatsächlich sind wesentliche Prinzipien des AMIS-Systems mittlerweile nicht nur in den EU-Notfallplan für Ernährungssicherheit eingegangen, der im November 2021 vorgestellt wurde (siehe S. 27ff). Ebenso hat die G7 bereits im Sommer desselben Jahres ein analoges Monitoring für Mineralien und Metalle ins Spiel gebracht, ein Critical Minerals and Metals Information System (CriMMIS), und dabei explizit auf AMIS verwiesen. Desgleichen schlägt sie für die politische Ebene einen generellen Rapid-Response-Mechanismus vor, ähnlich dem RRF-Mechanismus der G20 für kritische Agrargüter.
Voraussetzung für den Erfolg solcher Instrumente sind stets ein offener Austausch und vollständige Meldungen durch genügend relevante Marktakteure. Das gilt besonders für jene kritischen Güter, die nur eingeschränkt an internationalen Börsen gehandelt werden und sich auch nicht durch technische Lösungen erfassen lassen, anders als es im Agrarbereich mittels GPS-Systemen zur vorausschauenden Abschätzung von Erntemengen möglich ist. Insofern kann der Überblick über wichtige Marktentwicklungen in anderen Sektoren schwieriger sein.
Gleichwohl ist der Ansatz einer transparenten Informationspolitik zum Zwecke größerer Flexibilität und Krisenreaktionsfähigkeit in vielen Bereichen nicht mehr wegzudenken. So dient etwa auch der am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 2020 eingerichtete Beirat zu Liefer- und Versorgungsengpässen dazu, die faktische Versorgungslage im Pharmasektor systematisch und vorausschauend zu bewerten.96 Nun sollte ebenso ein europäisches Monitoring gestärkt werden, das Rohstoffe für die Arzneimittelproduktion einbezieht und sich mittelfristig auf die weltweite Ebene ausdehnen könnte. Darüber hinaus sollte geprüft werden, wie sich die unterschiedlichen Ansätze sektorübergreifend integrieren lassen, um der Wechselwirkung und Gleichzeitigkeit von Risiken sowohl in verschiedenen Sektoren als auch in verschiedenen Ländern besser gerecht zu werden.
Generell formuliert bedeutet all dies, dass neue Krisenkonzepte gerade die Interdependenz von Krisen und internationalen Versorgungslagen einberechnen müssen, um wirksam zu sein. Eigene Resilienz ist ohne die Resilienz der Akteure, die von Spill-over-Effekten eigener Maßnahmen betroffen sind, langfristig nicht zu erreichen.
Abkürzungsverzeichnis
AEUV |
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union |
AGVO |
Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung |
AMG |
Arzneimittelgesetz |
AMIS |
Agricultural Market Information System (Agrarmarkt-Informationssystem) |
AoA |
Agreement on Agriculture (Übereinkommen über die Landwirtschaft) |
BIT |
Bilateral Investment Treaty (bilaterales Investitions[schutz]abkommen) |
BMWi |
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (heute Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, BMWK) |
BSI |
Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik |
CO2 |
Kohlendioxid |
CriMMIS |
Critical Minerals and Metals Information System |
CSE |
Consumer Support Estimate |
DIHK |
Deutscher Industrie- und Handelskammertag |
EFSCM |
European Food Security Crisis Preparedness and Response Mechanism (Europäischer Mechanismus zur Krisenvorsorge und Krisenreaktion im Bereich der Ernährungssicherheit) |
EHAP |
Europäischer Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen (engl. FEAD) |
EKI |
Europäische kritische Infrastruktur |
EP |
Europäisches Parlament |
ESPAS |
European Strategy and Policy Analysis System (Europäisches System für strategische und politische Analysen) |
EU |
Europäische Union |
EUI |
European University Institute |
FAO |
Food and Agriculture Organization of the United Nations (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen) |
FEAD |
Fund for European Aid to the Most Deprived (dt. EHAP) |
G7 |
Gruppe der Sieben (die sieben führenden westlichen Industriestaaten) |
G20 |
Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer |
GAP |
Gemeinsame Agrarpolitik |
GATS |
General Agreement on Trade in Services (Allgemeines Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen) |
GATT |
General Agreement on Tariffs and Trade (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen) |
GPS |
Global Positioning System |
GTA |
Global Trade Alert |
HERA |
Health Emergency Preparedness and Response Authority (EU-Behörde für die Krisenvorsorge und ‑reaktion bei gesundheitlichen Notlagen) |
IATRC |
International Agricultural Trade Research Consortium |
IEA |
Internationale Energieagentur |
IPC |
Integrated Food Security Phase Classification |
IPCR |
Integrated Political Crisis Response |
KRITIS |
Kritische Infrastrukturen |
NIS |
Network and Information Security (Netz[werk]- und Informationssicherheit) |
ODI |
Overseas Development Institute |
OECD |
Organisation for Economic Co-operation and Development (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) |
OPEC |
Organization of the Petroleum Exporting Countries (Organisation erdölexportierender Länder) |
PSE |