Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Chile am Sonntag fallen in eine Zeit des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs. Ein Konsens über die zukünftige Gestaltung des Landes ist noch nicht in Sicht, meint Claudia Zilla.
Inmitten eines Verfassungsprozesses werden die Chileninnen und Chilenen am 21. November turnusgemäß zu den Urnen gebeten. Neben den Regionalräten wählen sie das Staatsoberhaupt sowie sämtliche Abgeordnete und rund die Hälfte der Senatsmitglieder des Nationalkongresses. Diese werden im kommenden Jahr dafür Sorge tragen, dass die Bürgerinnen und Bürger in einer bindenden Volksabstimmung über den konstitutionellen Text entscheiden, den die Verfassungsgebende Versammlung zurzeit erarbeitet. Im Falle einer Annahme stehen die Gewählten dann vor der Aufgabe, die zur Umsetzung der neuen Verfassung erforderlichen politisch-institutionellen und sozioökonomischen Reformen durchzuführen.
Das Unsicherheitsszenario
Dem ergebnisoffenen Szenario gesellt sich ein weiterer Unsicherheitsfaktor hinzu: Nach den Ergebnissen zur Wahl der Verfassungsgebenden Versammlung im Mai dieses Jahres, die das althergebrachte, bipolar strukturiere Parteiensystem definitiv beendete, setzen sich die Fragmentierungs- und zentrifugalen Tendenzen fort: Der politische Wettbewerb erfolgt zunehmend zwischen mehr und ideologisch heterogeneren Parteien. Verantwortlich dafür sind neben einem reformierten Wahlsystem tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen und die Unzufriedenheit der Mehrheit der Bevölkerung mit den traditionellen Parteien, die sie als in seinem Netzwerk von Privilegien abgeschottetes, politisch-ökonomisches Kartell ansehen. Chiles Erfolg bei der Reduzierung der Armut und der sozialen Ungleichheit dank hohen Wirtschaftswachstums bleibt also hinter den steigenden Forderungen der Bürgerinnen und Bürger. Zwar können institutionelle Innovationen und Demokratisierungsimpulse, wie etwa der Verfassungsprozess, aus einer solchen Krise hervorgehen. Diese kann aber auch den Nährboden für populistisch-extremistische Positionen und Kandidaturen bilden. Während breite Teile der Gesellschaft viele Gründe dafür haben, den chilenischen Status Quo nicht weiter für bewahrenswert zu halten, ist es noch nicht abzusehen, wohin der Reformpfad führen wird. In dieser Situation und unter dem Eindruck der massiven Proteste der vergangenen Jahre sehnen sich wiederum einige gesellschaftliche Sektoren nach Sicherheit und Ordnung.
Das Rennen um die Präsidentschaft
Um das höchste Amt im Lande bewerben sich eine Frau und sechs Männer. Da die unmittelbare Wiederwahl nicht zulässig ist, befindet sich Präsident Sebastián Piñera nicht unter ihnen. Darüber hinaus stimmte das Abgeordnetenhaus am 9. November für ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn. Seit der Veröffentlichung der »Pandora Papers« Anfang Oktober wird Piñera der Steuerhinterziehung im Zusammenhang mit dem Verkauf eines Bergbauunternehmens beschuldigt. Nun muss sich auch die Zweidrittelmehrheit des Senats der politischen Anklage anschließen, damit das Amtsenthebungsverfahren gestartet werden kann. Regulär würde seine Amtszeit am 11. März 2022 enden.
Seit dem Übergang zur Demokratie im Jahr 1990 haben sich in Chile konservative und progressive Parteikoalitionen an der Macht abgewechselt. Laut einer CADEM-Umfrage vom Ende Oktober sind die aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten diesmal jedoch an den Rändern des ideologischen Spektrums angesiedelt. Auf der rechtsextremen Seite tritt José Antonio Kast für Partido Republicano an. Der 55-Jährige war lange Mitglied der Partei Unión Demócrata Independiente und später unabhängiger Politiker. Auf der linken Seite kandidiert der 35-Jährige Gabriel Boric für die Partei Convergencia Social. Der ehemalige Studierendenführer kann mit der Unterstützung des Bündnisses Apruebo Dignidad rechnen. Mit jeweils 24 und 19 Prozent der geäußerten Wahlabsichten werden voraussichtlich weder Kast noch Boric die erforderliche absolute Mehrheit der Stimmen im ersten Wahlgang auf sich vereinigen können. Die Stichwahl ist für Dezember vorgesehen. Mit elf Prozent liegt die Christdemokratin Yasna Provoste an dritter Stelle, gefolgt von Sebastián Sichel mit acht Prozent vom Regierungsbündnis Chile Vamos.
Auch wenn weder Kast noch Boric zum ersten Mal die politische Bühne betreten, wird deren Kandidatur jeweils von politischen Parteien getragen, die erst in den vergangenen zwei bis drei Jahren gegründet wurden. Sie sind das Ergebnis der Spaltung, Umstrukturierung und Entstehung politischer und zivilgesellschaftlicher Kräfte, eines noch nicht abgeschlossenen Prozesses, bei dem die alten, höher institutionalisierten Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Parteien massiv an Gewicht verlieren. Mehr oder weniger weiter außen gewinnen nun Kandidaten wie Kast und Boric an Bedeutung.
Der Konsens nach dem Konsens
Nach einer langen Phase der Stabilität, die sich auf einen politisch-institutionellen Grundkonsens zwischen den Regierenden stützte, bahnt sich die Unzufriedenheit der Regierten ihre Wege: neue Akteurinnen und Akteure, soziale Bewegungen und politische Programme sind gefragt. Die Einführung der Genderparität, der Listen von Unabhängigen sowie der Mandate für indigene Völker machten die Verfassunggebende Versammlung diverser und pluraler als jede andere politische Institution zuvor. Die Zweidrittelmehrheit als Beschlussquorum garantiert, dass der neue Verfassungstext auf einem breiten Konsens fußt. Doch dieser wird Naturgemäß zwischen und unter den verschiedenen Erwartungen liegen, die nun im Zuge der Präsidentschaftswahlen, die in der Regel die Polarisierung fördern, sichtbar auseinander gehen. Die große politische Ungewissheit, in der Chile gerade steckt, wirkt sich negativ auf die ökonomische Entwicklung aus. Dies ist insofern ein zusätzliches Problem, da der notwendige Aufbau sozialer Kohäsion nicht nur von einer neuen Umverteilung politischer, sozialer und ökonomischer Chanen abhängt; sie kann auf Wirtschaftswachstum nicht verzichten.
Die Herausforderung besteht also darin, zu einem neuen Grundkonsens über die politische und sozioökonomische Ordnung zu finden, der nicht nur von den politischen Eliten, sondern auch von der Gesellschaft getragen wird. Und in diesem Rahmen sollten Bürgerinnen und Bürger das Gefühl bekommen, zwischen substantiell unterschiedlichen Optionen wählen zu können. Während Demokratisierungsschübe meisten von unten kommen, gehören Machtwechsel, Wandel der Eliten sowie deren Bekenntnis zu demokratischen Prinzipien und deren Bindung an demokratische Verfahren zu den Grundpfeilern demokratischer Stabilität.
Was vor einem Jahr als Protest junger Menschen gegen eine Preissteigerung bei der Metro begann und sich bald zu massiven Demonstrationen ausweitete, mündete am 25. Oktober in ein Plebiszit, in dessen Zuge eine neue Verfassung befürwortet wurde. Doch auf dem Weg dahin muss Chile noch große Herausforderungen meistern, meint Claudia Zilla.
Das südamerikanische Land sucht nach einem neuen Gesellschaftsvertrag
doi:10.18449/2020A23