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Zum Verfassungsprozess in Chile

Das südamerikanische Land sucht nach einem neuen Gesellschaftsvertrag

SWP-Aktuell 2020/A 23, 27.03.2020, 4 Seiten

doi:10.18449/2020A23

Forschungsgebiete

Die Proteste in Chile, die im Oktober 2019 einsetzten, haben unter anderem eine Verfassungs­initiative nach sich gezogen, die Bürgerinnen und Bürger schon lange gefor­dert hatten. Nun haben sich auch Regierungs- und Oppositionsparteien darauf geeinigt. Sie soll mit einer Volksabstimmung darüber beginnen, ob eine neue Ver­fassung ge­wünscht wird und welches Kollektivorgan sie aus­arbeiten soll. Seit dem 26. Februar befindet sich Chile offiziell im Wahlkampf für dieses Referendum. Wegen der Covid-19-Pan­demie wurde es vom 26. April auf den 25. Oktober verschoben. Die gegebenenfalls abzuhaltende Wahl des verfassunggebenden Organs soll nun erst am 11. April 2021 stattfinden. Zwar ist noch ungewiss, inwiefern eine neue Verfassung dazu bei­tragen wird, die soziale, politische und institutionelle Krise zu bewältigen. Dennoch glaubt die große Mehrheit der Bevölkerung, dass sie unabdingbarer Grund­stein für einen notwendigen neuen Gesellschaftsvertrag ist.

Die soziale Mobilisierung seit Oktober 2019 offen­barte ein erschütterndes Bild der gesell­schaftlichen Verhältnisse in Chile. Nicht nur tiefe Unzufriedenheit, auch starke Ressen­timents und große Wut brachen sich Bahn. Der Weckruf (»Chile despertó«) wurde zum Albtraum für die politische Elite. Die an­dauernden gewaltsamen Aus­schrei­tungen fordern sie weiterhin heraus. Präsi­dent Sebastián Piñera, von 2010–2014 und wieder seit 2018 im Amt, reagierte mit kurz­fristigen Zu­geständnissen. Noch 2019 nahm er Wech­sel in seinem Kabi­nett vor und kündigte eine »Sozialagenda« an: Künf­tig sollte mehr Geld in Gesundheits-, Renten- und Bil­dungs­system fließen. Darüber hinaus suchte Piñera zusammen mit den Regierungs- und Oppositionsparteien einen kon­stitutionellen Ausweg aus der Krise. Er soll den seit 2011 immer wieder erhobenen Forderungen nach einer neuen Ver­fas­sung und den lebhaften Debatten Rechnung tra­gen, die im Zuge der Proteste in zivil­gesell­schaftlich organisierten Nach­barschafts­tref­fen (cabildos und asambleas) stattgefunden hat­ten. All das verhinderte nicht, dass in einer landesweiten Umfrage des Meinungs­forschungsinstituts Activa Ende Februar 2020 rund 81 Pro­zent der Befragten Piñeras Regierungs­führung negativ bewerteten.

Die »Pinochet-Verfassung«

Die aktuelle Verfassung Chiles stammt aus dem Jahr 1980 und damit aus der Zeit der Militärdiktatur, so dass sie häufig als Erbe von General Augusto Pinochet betrachtet wird. Damit mangelte es ihr von vornherein an demokratischer Legitimität (legiti­midad de origen). So wurde sie von einer Kom­mis­sion (Comisión Ortúzar) erarbeitet, die von der Regierung beauftragt war und aus sieben Männern und einer Frau bestand. Ratifiziert wurde sie 11. September 1980 mit 68,5 Prozent der gültigen abgegebenen Stimmen in einem Plebiszit, das freilich unter den Bedingungen einer Autokratie stattfand.

Nach dem Regimewechsel erfuhr der ur­sprüngliche Text der »Pinochet-Verfassung« unter den Mitte-links-Koali­tionsregierungen der Concertación bedeutende demokratisierende Änderungen, vor allem 2005 unter der Prä­sidentschaft von Ricardo Lagos. Im Zuge von Reformen wurden die sogenann­ten auto­ritären Enklaven (also Vorrechte, die bestimmten Akteuren und Organen ge­währt wurden und den pluralistischen poli­tischen Wettbewerb einschränkten) Schritt für Schritt weitestgehend abgeschafft. Den­noch gilt diese mehrmals überarbeitete Ver­fassung mittler­weile weni­ger als demokratischer Stabilitätsanker denn als Absicherung einer starren Eliten­demokratie. Deshalb zementiert sie eher den Status quo, bei­spielsweise durch die hohen erforderlichen Quoren für Verfassungs­reformen und eine Reihe von Geset­zes­initiativen.

Auf die immer lauter ertönende Forderung nach einer völlig neuen Ver­fassung reagierte Michelle Bachelet (2006–2010 und 2014–2018) in ihrer zweiten Prä­si­dent­schaft. Wie im Wahlkampf versprochen, leitete sie einen nationalen, partizipativen und institutionellen Ver­fassungsprozess ein. Auf allen Ebenen des Staates wurden öffentliche Diskussionsveranstaltungen abgehalten. Deren Ergebnisse wurden in einem Abschlussdokument (Bases Ciudadanas del Proceso Constituyente para una Nueva Consti­tución) zusammengetragen und systematisiert. Auf dieser Basis er­arbeiteten Regierungsangehörige ein Verfas­­sungsprojekt, das Präsidentin Bachelet am 6. März 2018, wenige Tage vor der Amtsübergabe, im Kongress einreichte. Aufgrund des Machtwechsels wurde es jedoch nicht weiterverfolgt. Doch die Pro­teste Ende 2019 bauten so viel gesellschaftlichen Druck auf, dass auch die Parteien der Mitte-rechts-Regie­rungskoalition einwilligten, eine voll­ständig neue Verfassung zu konzipieren.

Mit dieser verknüpfen die Chileninnen und Chilenen diverse Erwar­tungen. Sie soll den endgültigen Abschied von der »Pino­chet-Verfassung« und damit eine neue, uneingeschränkt demokratische Ära einleiten. Zugleich soll sie den Rahmen für eine erneuerte gesellschaftliche und poli­tische Verständigung bieten. Schließlich sollen erweiterte Rechte anerkannt und die ordnungspolitische Grundlage für die Bewäl­tigung der dringendsten Probleme geschaffen werden.

Die überparteiliche Vereinbarung

Am 15. November 2019 unterzeichneten zehn politische Parteien aus Regierung und Opposition (Evópoli, P. Comunes, PDC, PL, PPD, PR, PS, RD, RN, UDI) ein »Übereinkom­men für den sozialen Frieden und die neue Verfassung«. Lediglich die Kommunistische Partei und die Mitte-links-Partei FREVS ver­weigerten sich der Einigung, der gemäß ein Ver­fassungsprozess initiiert und die Bil­dung eines begleitenden technischen Aus­schusses (Comisión Técnica Asesora del Proceso Constitu­yente) veranlasst wurde. Rechtskraft erlang­ten die vereinbarten Punkte durch Kongress­­beschlüsse und ein Dekret der Exe­kutive (Decreto Nr. 2.445 vom 27. Dezem­ber 2019).

Chiles Bürgerinnen und Bürger wer­den aufgerufen, in einer Volksabstim­mung, dem Eingangsplebiszit, zwei Fragen zu beantworten: zum einen, ob sie eine neue Verfassung wünschen, zum anderen, ob diese von einem Gemischten Ver­fassungs­konvent (GVK, Convención Mixta Constitucional) oder einer Verfassunggebenden Ver­sammlung (VV, Convención Constitucional) ausgearbeitet werden soll. Bei jeder Frage obsiegt jeweils die Option, die über 50 Pro­zent der gültigen Stim­men erhält.

Der Hauptunterschied zwischen den beiden verfassunggebenden Kollektivorganen liegt in deren Zusammensetzung. Der GVK würde aus 172 Mitgliedern bestehen, je­weils zur Hälfte aus Kongressmitgliedern und Bürgerinnen und Bürgern. Erstere werden in einer parlamentarischen Plenar­sitzung gewählt, Letztere direkt vom Volk nach den Bestimmungen, die für die Ab­geordnetenwahl gelten. Mitglieder des Kon­gresses, die den Einzug in den GVK schaffen, verlieren ihr Parlamentsmandat nicht, son­dern werden lediglich von der Teilnahme an den Ausschuss- und Plenar­sitzungen befreit. Die VV würde sich hin­gegen aus 155 Mitgliedern zusammensetzen, die vom Volk direkt gewählt werden. Für die direkt gewählten Konvents- bzw. Versammlungsmitglieder gilt, dass ihre Tätigkeit in den verfassunggebenden Organen nicht mit ihrem Amt bzw. Mandat vereinbar ist. Auch nach Abschluss ihrer verfassung­gebenden Arbeit dürfen sie ein Jahr lang keine Posi­tionen in Politik und Ver­waltung überneh­men. Am 4. März 2020 verabschiedete der chilenische Kongress ein zusätzliches Gesetz (Ley Nr. 21.216), das Genderparität für die nichtparlamen­tarischen, also direkt zu wählenden Kandi­datinnen und Kandidaten vorschreibt.

Parlamentarische und nichtparlamen­­tarische Konvents- und Versammlungs­mitglieder werden finan­ziell unterschiedlich entschädigt. Sie erhalten jeweils wei­ter­hin ihre Abgeordnetendiäten von monat­lich 9,3 Millionen chilenischen Pesos (rund 9.850 Euro) bzw. ein Gehalt von monatlich 2,5 Millionen chilenischen Pesos (rund 2.650 Euro).

Eine Reihe einschränkender Vorgaben, die sogar eine Modifikation der geltenden Verfassung hinsichtlich des Reformmechanismus erforderten, wurde bereits am 23. Dezember 2019 per Gesetz (Ley Nr. 21.200) festgelegt. Der GVK bzw. die VV fasst die Beschlüsse mit Zweidrittelmehrheit, ein Quorum, das nicht verändert werden darf. Zudem muss der GVK bzw. die VV die repu­blikanische Staatsform und das demokra­tische Regime Chiles bewahren sowie die Einhaltung rechtskräftiger Gerichtsurteile und ratifizierter internationaler Verträge garantieren. Die verfassunggebende Arbeit darf eine Dauer von neun Monaten nicht überschreiten, wobei eine einmalige drei­monatige Verlängerung zulässig ist. Der neue Verfassungstext soll 60 Tage nach Fertigstellung durch eine weitere Volks­abstimmung, das Ausgangsplebiszit, ratifi­ziert wer­den, bei der Wahlpflicht besteht. Die ak­tuell geltende Verfassung soll durch einen neuen Verfassungstext vollständig ersetzt und damit automatisch außer Kraft gesetzt werden (derogación orgánica). Erfolgt dies nicht, gilt die alte Verfassung weiter.

Trends und Streitpunkte

Laut einer Umfrage von Activa Ende Feb­ru­ar 2020 befürwortet die große Mehrheit der Befragten, dass eine neue Verfassung erarbeitet wird. Die Zustimmung ist jedoch seit November 2019 von 82,3 auf 73,5 Pro­zent gesunken. 72,3 Prozent der Befragten beab­sichtigen, sich am fakultativen, jedoch für die Regierung bindenden Eingangsplebiszit zu beteiligen. Dabei sprechen sie sich klar für eine vollständig direkt gewählte VV (51,2%) statt einen GVK (24,4%) aus.

Die Präferenz der Bevölkerung für eine VV wird mit dem Gleichheitsprinzip er­klärt, das ihr zu­grunde liegt: Sämtliche Mitglieder werden gemäß Genderparität direkt gewählt und beziehen ein identisches Gehalt. Auch wird der Mangel an Partizipation der Zivil­gesellschaft als Argument gegen die Wahl der Konvents- bzw. Versammlungsmitglieder über Parteilisten angeführt, ebenso die feh­lende explizite Inklusion benachteiligter gesellschaftlicher Gruppen. Zwar können die (stark diskreditierten) poli­tischen Par­tei­en renommierte Persönlichkeiten bzw. un­abhängige Kandidatinnen und Kandidaten in ihre Listen aufnehmen, behalten aber die Organisationshoheit über den Wahlprozess.

Was den Verfassungsinhalt betrifft, ist die Erweiterung sozialer, ökonomischer kultureller und kollektiver Rechte mit Ver­fassungsrang eine der zentralen, geschichts­trächtigen zivilgesellschaftlichen Forderungen. Vor dem Hintergrund einer äußerst tradi­tionellen, konservativen Kultur mit ausgeprägter Genderungerechtigkeit wird dafür plädiert, Gendergleichheit sowie An­erkennung und Schutz von Minderheiten und ihrer Partizipationsrechte in der Ver­fassung zu verankern, auch bezogen auf die indigene Bevölkerung (etwa mapuches).

Die Rolle des Staates, die bisher als rein subsidiär verbrieft ist, soll umdefiniert und um gesellschaftlich relevante sozioökonomische Aufgaben erweitert werden. Dieses Vorgehen würde das Verhältnis zwischen Staat und Markt erheblich verändern: Der Staat gilt heute als von Wirtschaftsinteressen verein­nahmt (state capture), und der Markt bildet den Hauptmechanismus für die Res­sourcen­allokation, selbst in sozialen Berei­chen wie Renten, Gesundheit, Bildung und sozia­lem Wohnungsbau. Gefordert wird auch, die Politik solle im Hinblick auf ihre Beziehung zur Wirtschaft mehr Transparenz gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern schaffen und ihnen Rechen­schaft ablegen (accountability). Mit dem Plädoyer für den Aufbau eines Sozial­staats wird die Hoffnung verbunden, dass die Un­gleichheit verringert und die Leitidee der »Bürgerin« gegenüber der des »Konsumenten« aufgewertet wird.

Zu den eher akademischen Debatten gehört der Vorschlag, die hohe erforder­liche Mehrheit (quorum supermayoritario) für bestimmte Gesetzestypen zu senken. Sie liegt je nach Fall heute bei zwei Dritteln, drei Fünfteln oder vier Siebteln, verleiht der politischen Minderheit eine Vetomacht und fördert den Reformstau. Zudem steht die »präventive Kontrolle«, die das Verfassungs­gericht ausübt, heftig in der Kritik. Auf­grund seiner Zusammensetzung und Kom­petenzen gilt es als letztes Bollwerk der rechtskonservativen Minderheiten bei ihrem Bestreben, unerwünschte Reforminitiativen zu vereiteln, die in Kongress und Exekutive Zustimmung fin­den.

Was die Positionierungen der politischen Parteien angeht, befürworten jene aus dem Mitte-links- und linken Spektrum tendenziell solche Reformen, mit denen sich (Par­ti­zipa­tions-) Rechte erweitern lassen und der Staat ausgebaut werden kann. Parteien, die sich rechts der Mitte verorten lassen, neigen zu einer kon­servativeren Haltung gegenüber dem alten Verfassungstext. Es gibt jedoch auch Kon­flikt­linien, die quer zu diesen ideo­logischen Positionen verlaufen, beispiels­weise jene, die das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative betreffen. Eine Kontroverse zum Beispiel besteht zwi­schen Parteien, die Chancen auf die Präsi­dent­schaft haben, und denen, die sich eher als parlamentarische Akteurinnen begrei­fen.

Chile im regionalen Kontext

Chile ist kurz davor, den Weg zu einer neuen Verfassung zu beschreiten. Erschwert haben ihn veränderungsunwillige Eliten, hohe rechtlich-institu­tionelle Hürden für Reformen und die Treue zur zwar illegiti­men, aber als legal behandelten »Pinochet-Verfassung«. Ab­schreckend wirk­te zudem der vergleichende Blick auf die verfassunggebenden Prozesse in Vene­zuela (1999), Bolivien (2006/07) und Ecuador (2007/08).

So blieb Chile in den vergangenen drei Dekaden eine Insel konstitutioneller Beharr­­lichkeit, während in zahlreichen Ländern der Region (etwa Brasilien 1988, Kolumbien 1991, Peru 1993 und Argentinien 1994) substantielle Verfassungsreformen oder neue Verfassungen durch Ad-hoc-Kollektiv­organe eingeführt wurden. Außer­dem zeichnete sich Chile lange durch poli­tische Stabilität aus, die jedoch zur Starre wurde und 2019 explosionsartig zerbrach.

Veränderte Kostenkalkulationen ermöglichten nun die überparteiliche Verein­barung über einen Verfassungsprozess.­­ Die Legitimitäts- und Ver­trauens­krise, in der Chiles politisches System mitt­lerweile steckt, ist ohne einen kollekt­iven Akt, der Gemeinschaft stiftet und eine poli­tische Erneuerung symbolisiert, nicht zu über­winden. Allerdings führt die Sehnsucht in der Gesellschaft nach einem Neubeginn nicht zwingend dazu, dass ein tiefgreifender politischer Wandel auch tatsächlich gewagt wird.

Dr. Claudia Zilla ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Amerika.
Franziska F. N. Schreiber ist Praktikantin in der Forschungsgruppe Amerika.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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