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Vierzig Jahre Schengen

Vom Integrationsprojekt zur Dauerbaustelle im Schatten der EU-Asylpolitik

SWP-Aktuell 2025/A 29, 10.06.2025, 8 Seiten

doi:10.18449/2025A29

Forschungsgebiete

Vierzig Jahre nach Unterzeichnung ist mit dem Schengener Übereinkommen eines der erfolgreichsten Projekte europäischer Integration mit einem Paradox konfrontiert: Trotz zahlreicher Reformen, die der Stärkung des Außengrenzschutzes und des europäischen Asylsystems dienen sollen, halten zentrale Mitgliedstaaten unbeirrt an nationalen Binnengrenzkontrollen fest. Deutschland nimmt in dieser Entwicklung eine fragwürdige Vorreiterrolle ein. Es hat im September 2024 Kontrollen an den Grenzen zu allen seinen Nachbarn eingeführt und diese im Mai 2025 durch die syste­matische Zurückweisung von Asylsuchenden verschärft. Diese Maßnahmen konter­karieren das Kernversprechen Schengens – die Schaffung eines Raumes ohne Grenz­kontrollen. Treibende Kraft dieser Erosion ist das ungelöste Problem der irregulären Migration, die das politische Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten kontinuierlich aushöhlt. Schengen droht in der Folge zu einer Dauerbaustelle zu werden, weil natio­nalen Sicherheitsinteressen Vorrang vor gemeinsamen Regeln gegeben wird.

Die Möglichkeit, Binnengrenzkontrollen vorübergehend wieder einzuführen, ist so alt wie der Schengenraum selbst. Um Gefahren für die innere Sicherheit und öffentliche Ordnung abzuwehren, können Mitgliedstaaten von dieser Möglichkeit als Ultima Ratio Gebrauch machen, etwa aus Anlass sportlicher Großereignisse oder politischer Gipfeltreffen. Seit der sogenann­ten Flüchtlingskrise 2015/16 wurden Grenz­kontrollen zwischen Schengenstaaten aber immer öfter wieder eingeführt und seitdem von einzelnen Mitgliedstaaten stetig bei­behalten. Diese Praxis quasi-permanenter Grenzkontrollen steht in einem Spannungs­verhältnis zum Schengenrecht.

Unter den Mitgliedstaaten, die diese Praxis pflegen, befinden sich Gründungsmitglieder Schengens wie Deutschland und Frankreich, aber auch andere Mitgliedstaaten wie Österreich, Schweden, Dänemark und Norwegen. Spätestens Ende 2017 hätten alle sechs Staaten diese Maßnahmen einstellen müssen, da der für systemisch begründete Binnengrenzkontrollen zu­lässige maximale Zeitraum von zwei Jahren erreicht war und in Frankreich der natio­nale Ausnahmezustand aufgrund einer außergewöhnlichen terroristischen Bedro­hung aufgehoben wurde. Anstatt aber die Kontrollen zu beenden, verstetigten alle Beteiligten die bis heute anhaltende Praxis, jedes halbe Jahr mit wechselnden, oft ober­flächlichen Begründungen die Verlänge­rung nationaler Binnengrenzkontrollen bei der EU-Kommission zu notifizieren. Mit der Zeit konnte deshalb auch in der Öffentlich­keit der Eindruck entstehen, dieses Vor­gehen sei rechtlich legitim und praktisch tragfähig, da operativ vielfach nur stich­probenartige Kontrollen durchgeführt und der Waren- und Personenverkehr lediglich geringfügig beeinträchtigt wurde.

Aus Sicht des EU-Rechts und der in den Verträgen festgeschriebenen zentralen Bedeutung der Abschaffung von Grenz­kontrollen entstand hingegen eine wach­sende Kluft, selbst wenn die Europäische Kommission vor Vertragsverletzungsverfahren gegen die Mitgliedstaaten in dieser sensiblen Frage zurückschreckte. Von 2020 an verschob sich der Fokus zudem auf die Coronapandemie und die daraus resultierenden radikalen Beschränkungen der innerstaatlichen wie internationalen Mobi­lität. Im Nachgang entwickelte sich eine breitere Dynamik für Reformen mit dem Ziel, die Personenfreizügigkeit wieder­herzustellen und das Schengenregime zu stärken – ein Prozess, der im Frühjahr 2024 mit einer weiteren Reform der Schen­gen-Verordnung vorläufig zum Abschluss gebracht werden konnte. Weitere politische, administrative und technische Maß­nahmen waren bereits in den Jahren davor in Angriff genommen worden und werden aktuell in die Tat umgesetzt.

Die seit 2015 aufrechterhaltenen Kontrollen und insbesondere die ausgeweiteten nationalen Maßnahmen, die von der damals regierenden Ampel-Koalition im September 2024 eingeleitet wurden, stehen somit in immer deutlicherem Widerspruch zu geltendem EU-Recht und den gemeinsam vereinbarten politischen Schritten zur Stabilisierung der Schengenzone. Euro­päische und nationale Gerichte haben die Binnengrenzkontrollen Österreichs und Deutschlands bereits wiederholt für unions­rechtswidrig erklärt, zuletzt im März 2025 der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.

Die Rechtslage zu Binnengrenz­kontrollen und Zurückweisungen

Die Bestimmungen der seit rund einem Jahr geltenden novellierten Schengen-Verord­nung verdienen genauere Beachtung. Sie spiegeln einen bewussten politischen Kom­promiss zwischen mitgliedstaatlichen Sicher­heitsinteressen und gemeinsamen euro­päischen Verfahren wider. Bei vorher­seh­baren und anhaltenden Bedrohungen sind demnach Kontrollen für bis zu zwei Jahre zulässig. Damit wird die bisher offizielle Höchstdauer von sechs Monaten ausgewei­tet, gleichzeitig soll aber der bisherigen Praxis ständiger halbjähriger Kettenverlän­gerungen ein Riegel vorgeschoben werden. In außergewöhnlichen Situationen erlaubt der novellierte Rechtsrahmen eine weitere Verlängerung um zweimal sechs Monate.

Die maximale Dauer von drei Jahren hätte Deutschland damit offenkundig aus­gereizt, zumindest mit Blick auf diejenigen Binnengrenzen, an denen Kontrollen seit 2015 aufrechterhalten werden. Rechtlich insoweit ungeklärt bleibt allerdings, wann eine neue Bedrohungslage die Fortsetzung von Binnengrenzkontrollen rechtfertigen kann. Der novellierte Rechtsrahmen macht in diesem Zusammenhang keine eindeutigen Vorgaben, was die Mitgliedstaaten wie in den letzten Jahren dazu verleiten könnte, Kettenverlängerungen auf Basis leicht modi­fizierter Notifizierungen an die EU-Kommis­sion zu begründen.

Gleichzeitig erweitert und präzisiert die novellierte Schengen-Verordnung die inhaltlichen Gründe, die Binnengrenz­kontrollen rechtfertigen können. Explizit ist nun vorgesehen, dass neben Gefahren für die öffentliche Gesundheit – als Kon­sequenz der Pandemieerfahrung – auch Auswirkungen der sogenannten Sekundärmigration geltend gemacht werden können, also der Weiterwanderung von Schutz­suchenden innerhalb der Schengenzone. Zuvor wurde dieses politisch zentrale The­ma nur indirekt mit Verweis auf Gefahren für die innere Sicherheit berücksichtigt. Allerdings wird im neuen Rechtsrahmen nur auf unerwartete und besonders um­fangreiche unerlaubte Bewegungen von Drittstaatsangehörigen abgestellt, was nicht der aktuellen Lage entspricht. Grundsätz­lich gilt, dass die Mitgliedstaaten hinrei­chende Kapazitäten für die Bearbeitung der erwartbaren irregulären Migration und von Asylgesuchen vorhalten müssen, wie es auch im neuen Pakt für Migration und Asyl mit Blick auf die Frage der innereuro­päischen Solidarität vorgesehen ist und detaillierter geregelt wird.

In jedem Fall soll gemäß der Schengen-Verordnung die europäische Aufsicht über Binnengrenzkontrollen ausgebaut werden. So sind unter anderem regelmäßige Kon­sultationen mit betroffenen Nachbarstaaten abzuhalten und je nach Dauer der Kontrol­len zunehmend detaillierte und verpflich­tende Berichte zur Effektivität der Maßnahmen vorzulegen, die von der EU-Kom­mission bewertet werden müssen. Wenn es sich hierbei um eine mutmaßlich notwendige Reaktion auf größere und unerwartete Migrationsbewegungen handelt, soll Bezug auf – so wörtlich – »objektive und quan­tifizierte Berichte« genommen werden. Dies steht klar im Kontrast zur gängigen Praxis der vergangenen Jahre. So hat die Bundesregierung beispielsweise im April 2023 ihre Kontrollmaßnahmen nur sehr allgemein und knapp mit »sicherheits- und migrations­politischen Herausforderungen« begründet, die aus schwierigen Bedingungen in Syrien, Afghanistan und der Türkei sowie wirtschaft­lichen »Push-Faktoren« in Afrika resultieren.

Insgesamt wurde nach der jüngsten Schengenreform also das Spektrum zulässi­ger Gründe und Zeiträume für Binnengrenz­kontrollen erweitert, die inhaltlichen An­forderungen an deren Rechtfertigung aber verschärft. Dies spiegelt sich offenkundig nicht in der politischen wie administrativen Praxis Deutschlands und weiterer Schengen-Mitgliedstaaten wider. Die seit Septem­ber 2024 praktizierte flächendeckende Aus­weitung der Kontrollen auf alle deutschen Schengennachbarstaaten hat bereits Nach­ahmer in Frankreich und den Niederlanden gefunden – die ausgeweiteten Kontrollen gelten also mittlerweile in drei der fünf Gründungsstaaten Schengens.

Besonders brisant ist die Frage, ob und in welchem Ausmaß Mitgliedstaaten Binnengrenzkontrollen dazu nutzen, Personen, die keine Einreiseerlaubnis besitzen, unmittelbar an der Grenze zurückzuweisen. Recht­lich besteht hier kein direkter Zusammenhang. Kontrollen dienen zunächst nur dem Zweck, festzustellen, ob eine Person ein­reiseberechtigt ist. Ob eine Zurückweisung rechtlich zulässig ist, hängt vom Status der Person ab: Unionsbürger und Unionsbürgerinnen sind in aller Regel einreise­berechtigt, ebenso grundsätzlich auch Asyl­suchende. Andere Drittstaatsangehörige können hingegen unter Umständen ab­gewiesen werden.

Für die letztere Gruppe hat die jüngste Schengenreform ein neues Verfahren ein­geführt, um in Grenznähe aufgegriffene Per­sonen, die keine Aufenthaltsberechtigung besitzen, unmittelbar in den Nachbarstaat zurückzuführen. Für Deutschland gelten aber weiterhin die seit Jahrzehnten beste­hen­den einschlägigen bilateralen Abkom­men, so dass sich je nach Nachbarstaat ein eher differenziertes Bild ergibt. Festzuhal­ten ist jedenfalls, dass für jede Person, die im Rahmen einer Binnengrenzkontrolle ein Asylgesuch stellt, ein reguläres Dublin-Ver­fahren zur Prüfung des für den Asylantrag rechtlich zuständigen Staates eröffnet wer­den muss. Diese Vorgabe ist nicht mit einer unmittelbaren Zurückweisung zu vereinbaren, sondern bestenfalls mit stark gestrafften Verfahren zur Klärung der Zuständigkeit.

Deshalb stellt die im Mai 2025 ergangene Anweisung zur systematischen Zurück­weisung auch von Asylsuchenden an den deutschen Binnengrenzen einen Bruch mit dem geltenden EU-Recht dar, wie auch jüngst das Verwaltungsgericht Berlin fest­gestellt hat. Selbst wenn die Bundesregierung demnächst den Anspruch einlösen sollte, die neuen Maßnahmen mit allen betroffenen Nachbarstaaten und im Kon­sens abzustimmen, änderte das nichts an diesem europarechtlichen Befund.

Zusammengefasst: Die aktuellen Zurück­weisungen Deutschlands verletzen die Dub­lin-Regeln zum Umgang mit Asylsuchenden, zudem fußen sie auf einem überaus frag­würdigen bis rechtswidrigen Verständnis der Zulässigkeit von Binnengrenzkontrollen gemäß der Schengen-Verordnung.

Politische Governance und gegenseitiges Vertrauen

Das Schengener Abkommen entstand als zwischenstaatliches Projekt. Auch nach Überführung in EU-Recht zum Ende der 1990er Jahre bleibt das Regime auf poli­tischer Ebene stark intergouvernemental geprägt. Dies zeigt sich bis heute in dem Nebeneinander von horizontalen »peer review«-Verfahren zur Überprüfung der Einhaltung der Schengenregeln und der regulären Rechtsaufsicht durch die EU-Kommission – wobei Letztere in der Frage von Binnengrenzkontrollen bislang sehr zurückhaltend ausfällt. Dieser doppel­gleisige Ansatz wurde nach Abklingen der Coronapandemie fortentwickelt. Die Steu­erungsarchitektur des Schengenraums wurde schrittweise überarbeitet und ermög­lichte so die Rückkehr zu einem Raum ohne Binnengrenzen.

Auf institutioneller Ebene wurde 2022 auf Initiative Frankreichs ein Schengen-Rat eingerichtet, als neues politisches Koor­dinierungsgremium auf Ebene der Innen­minister. Er soll insbesondere im Falle migrations- oder sicherheitspolitischer Her­ausforderungen einer engeren Abstimmung dienen; im Gegensatz zur regulären Rats­formation der Justiz- und Innenminister bezieht er auch Nicht-EU-Mitgliedstaaten wie Norwegen oder die Schweiz ein. Der Schengen-Rat ist aber nicht befugt, recht­lich verbindliche Beschlüsse zu fassen. Auf verfah­rensrechtlicher Ebene wurde unter­dessen der horizontale Schengen-Evalu­ierungs­mechanismus gestärkt, bei dem Experten der Mitgliedstaaten unter Betei­ligung der EU-Kommission im Rahmen rotierender Länderbesuche überprüfen, ob die umfas­senden Bestimmungen des sogenannten Schengen-acquis zur Grenz- und Migrationskontrolle beachtet werden. Das kann von der Visavergabe über die Funktionsfähigkeit technischer Infrastrukturen bis hin zum Personaleinsatz in bestimmten Bereichen der Grenzkontrolle reichen. Diese Evaluierungen sollen nun thematisch fokussierter durchgeführt und identifizierte Defizite deutlich schneller behoben werden. Die Kommission eta­blierte ihrerseits einen sogenannten »Schen­gen-Zyklus« zur strategischen Steuerung: Konkrete Ergebnisse sind die Schaffung eines »Schengen-Barometers«, das als opera­tiver und quantitativ ausgerichteter Lage­bericht verstanden werden kann und Ent­wicklungen bei der legalen wie irregulären Migration zusammenfasst, sowie ein jähr­licher »State of Schengen Report« als zen­trale politische Vorlage mit diversen Hand­lungsempfehlungen für die Ministerebene.

Die Wirksamkeit dieser überarbeiteten Governance-Prozesse kann bislang nicht eindeutig beurteilt werden. Angesichts der zentralen Rolle, die nationale Regierungen im Schengenregime weiterhin spielen, erscheint der Ausbau intergouvernemen­taler Formate und horizontaler Netzwerke zum Zwecke der Vertrauensbildung grund­sätzlich sinnvoll. Der Beitritt Rumäniens und Bulgariens als Vollmitglieder der Schengenzone zum 1. Januar 2025, der Ein­stimmigkeit erforderte und viele Jahre lang politisch verzögert wurde, könnte in diesem Zusammenhang als der sichtbarste Erfolg gewertet werden. In einem Schengenraum, in dem zahlreiche, politisch teils sehr un­terschiedlich ausgerichtete nationale Ent­scheidungsträger und Sicherheitsbehörden zu­sammenarbeiten, muss ein kooperativer esprit de corps entwickelt und stetig gepflegt werden.

Die Rolle supranationaler Behörden – insbesondere der Europäischen Kommission und der zuständigen EU-Agenturen – tritt als vertrauensbildendes Element der grenz­überschreitenden Sicherheitskooperation hinzu, insbesondere mit Blick auf die Stär­kung der Infrastruktur zur Erfassung und zum Austausch von Daten. Hier wurden in den letzten Jahren umfangreiche technische Reformen angestoßen, wie im Folgen­den skizziert wird. Das übergeordnete poli­tische Ziel des neuen »Schengen-Zyklus« – die Wiederherstellung eines Raumes ohne Binnengrenzkontrollen – konnte bisher jedoch nicht erreicht werden.

Digitale Kontrolle statt physischer Grenzen?

Schengen entstand in einer Zeit, in der Grenzkontrollen primär physischer Natur waren. Noch heute spielt diese Form der Grenzsicherung eine wichtige Rolle, wie das starke öffentliche und politische Interesse an den sichtbaren Maßnahmen der Bundes­polizei zeigt – und an damit möglicherweise einhergehenden Signalen nach innen und außen, dass Deutschland nun eine deutlich strengere Migrations- und Asyl­politik betreibt. Im Schengenraum wurden aber auch von Beginn an weniger sichtbare Kontrollinstrumente genutzt, insbesondere das Schengener Informationssystem (SIS), das heute mit rund 41 Millionen Abfragen pro Tag das Rückgrat der polizeilichen und grenzpolizeilichen Kooperation der Mit­gliedstaaten bildet. In den vergangenen zehn Jahren setzte die EU mehr als zuvor auf technische Systeme, um Mobilität um­fassender digital zu erfassen und somit früh­zeitig, gezielt und möglichst unbemerkt zu kontrollieren.

Startpunkt war die Aufschaltung der zweiten Generation des Schengener Infor­mationssystems (SIS II), mit der sich weitere Datenkategorien und biometrische Merk­male speichern und übermitteln ließen. Nationale Behörden sind seither verpflichtet, bei der Kontrolle von Drittstaatsangehörigen an Außengrenzen eine Abfrage im SIS II zu starten, zugleich wurden Schnittstellen zu Europol, Frontex und anderen EU-Agenturen gestärkt. Seit 2023 gilt außer­dem die Pflicht, national erteilte Einreiseverbote oder Ausweiseverfügungen syste­matisch im SIS zu hinterlegen. Parallel wurde das Datensystem zur Bearbeitung von Schengenvisa (VIS) um zusätzliche Kategorien und Sicherheitsmechanismen erweitert. Prospektiv könnte auf diese Weise das Konzept eines europäischen »Rückkehr-Managements« unterfüttert werden, das auf die grenzüberschreitende Harmonisierung und Durchsetzung von Einreiseverweigerungen und Abschiebungen abzielt. Für ergänzende Kontrollen im Grenzraum richteten mehrere Mitglied­staaten Systeme zur automatisierten Kfz-Kennzeichenerfassung (ALPR) ein, flankierend zur Durchleuchtung der Daten von Passagieren (API, PNR) in Flugzeugen und einigen anderen öffentlichen Transport­mitteln; für Letzteres traten im Januar erweiterte Regeln in Kraft. Schließlich soll ab Sommer 2026 die EURODAC-Datenbank zur Erfassung von Asylsuchenden mit wei­teren Funktionen ausgestattet werden und bei neuen integrierten Sicherheitsüberprüfungen (Screenings) aller irregulär eingereisten Personen zum Einsatz kommen.

Diese bereits breit angelegten Entwicklungen werden durch noch ambitioniertere Vorhaben ergänzt, um im Ergebnis soge­nannte »intelligente Grenzen« zu etablieren. Hierzu soll ein Entry-Exit-System (EES), gefüttert mit biometrischen Ein- und Aus­reisedaten aller Drittstaatsangehöriger, und das European Travel Information and Authorisation System (ETIAS) geschaffen werden, das der Vorabprüfung visumbefrei­ter Reisender dienen soll. Die technische und administrative Umsetzung dieser Vor­haben, die bereits 2018 beschlossen wur­den, hat sich erheblich verzögert. In den kommenden Monaten soll der Praxistest stattfinden. Mit dem Shared Biometric Matching Service (sBMS) wurde am 20. Mai eine zentrale Komponente dieses Gefüges in Betrieb genommen: eine gemeinsame, EU-weite Plattform für den Abgleich bio­metrischer Daten, die auf mehrere Millio­nen Datensätze zugreifen kann.

Wie effektiv diese Systeme sein werden, lässt sich vorab schwer prognostizieren. Fest steht aber, dass zumindest Daten über legale wie irreguläre Migration deutlich umfassender und systematischer erfasst werden. Wie groß die Sicherheitsgewinne sind, die man sich daraus erhofft, bleibt hingegen stark kontextabhängig. Im Nach­hinein erscheinen manche terroristischen Anschläge vermeidbar, hätte es ein lücken­loseres Datenmanagement gegeben; bei anderen wiederum wurden die Täter nicht als Risiko erkannt oder priorisiert, obwohl sie in polizeilichen Datensätzen erfasst waren. Nicht zuletzt stellen sich auch recht­liche Fragen, die informationelle Grundrechte und die Verhältnismäßigkeit des Mitteleinsatzes betreffen. Im Rahmen des novellierten Schengener Grenzkodex sind die stetig weiterentwickelten technischen Kontrollsysteme grundsätzlich zulässig. Allerdings bleibt kritisch zu hinterfragen, bis zu welchem Grade Schengen zu einem Regime digitaler Überwachung von Mobi­lität ausgebaut werden kann, ohne dabei die zentralen Werte der Freizügigkeit und der Gleichstellung – einschließlich jener von aufenthaltsberechtigten Nicht-EU-Bürgern – zu verletzen.

Sekundärmigration und die Vertrauenskrise Schengens

Die unmittelbare Herausforderung ist jedoch, das politische Vertrauen in Schen­gen-Gründungsstaaten wie Deutschland, aber auch den Niederlanden und Frankreich wiederherzustellen. Der eigentliche Kern der Krise ist dabei nicht die Sorge vor Sicherheitsrisiken, die durch neue tech­nische Systeme eingedämmt werden sollen, sondern der Streit um die EU-Asylpolitik. Schengen und das Gemeinsame Euro­päische Asylsystem (GEAS) waren stets funktional miteinander verknüpft. Die poli­tische wie juristische Notwendigkeit, die innere Öffnung durch ein gemeinsames Regelwerk für den Schutz der Außengren­zen zu flankieren, war ein konstitutiver Faktor der europäischen Binnenintegration. Zugleich zeigt die variable Geometrie – etwa die Beteiligung Norwegens oder der Schweiz an Schengen, nicht aber am GEAS –, dass diese Kopplung nie vollständig symmetrisch oder rechtlich zwingend war.

In der vergangenen Dekade ist dieses Verhältnis noch komplizierter geworden. Zunächst waren die EU-Kommission und die meisten Mitgliedstaaten bemüht, das Funktionieren von Schengen von der über lange Strecken blockierten Reform des Dublin-Systems zu trennen. Binnengrenzkontrollen wurden zwar zeitweise als Aus­gleich für Defizite bei der Registrierung von irregulär eingereisten Personen in Staaten wie Griechenland toleriert, aber nicht in einen unmittelbaren politischen Zusammenhang mit einem solidarischen Euro­päischen Asyl­system gestellt. Erst seitdem sich vor rund zwei Jahren die Möglichkeit einer Einigung auf den Pakt für Migration und Asyl abzeichnete, wurde die gegenseitige Abhängigkeit beider Politikbereiche wieder betont. Die umfassende Reform des GEAS und die Reform der Schengen-Verordnung im Früh­jahr 2024 sind somit materiell eng miteinander verknüpft.

Besonders zentral ist dabei die Eindämmung der Sekundärmigration: im novellierten Schengenrecht ein möglicher Grund für die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen; im Migrationspakt ein zentrales Steuerungsziel, das durch intensivierte Maßnahmen an Außengrenzen, Harmonisierung mitgliedstaatlicher Verfahren und schärfere Sanktionen gegenüber irregulär weiterwandernden Personen erreicht wer­den soll. Eine weitere Verbindung betrifft die sogenannte »Instrumentalisierung von Migration« durch Drittstaaten, die mutmaß­lich illegale Zuwanderung anfachen und steuern, um EU-Staaten zu destabilisieren. Diese Problematik wurde zunächst als The­ma des Schengener Kodex behandelt, etwa um die Schließung von Grenzübergangspunkten zu rechtfertigen. Im späteren Ver­lauf der politischen Verhandlungen zum kontroversen Thema der instrumentalisierten Migration verschob sich der Fokus dann auf die Krisenverordnung im Rahmen des Pakts für Migration und Asyl. Im Ergebnis kann nun ein Szenario der Instrumentalisierung zeitweise Ausnahmen vom EU-Asyl­recht auslösen.

Somit wurden Ende der letzten EU-Legis­latur­periode die Schengenregeln und das EU-Asylrecht deutlich komplexer und in höherem Maße gegenseitig voneinander abhängig – ohne eine solide politische Verständigung über dessen Anwendung sicherzustellen. Statt einer gemeinsamen Linie, den Pakt für Migration und Asyl bis Sommer 2026 zügig umzusetzen und die unmittelbar verbindliche Schengenreform rechtstreu anzuwenden, dominieren seither vor allem nationale Narrative: Wichtige Staaten wie Polen verkünden, den Pakt für Migration und Asyl nicht umsetzen zu wollen. Stattdessen sollen zusätzliche Maß­nahmen zur Abwehr »instrumentalisierter Migration« ergriffen werden. Gedacht wird dabei etwa an den Ausbau von Grenz­zäunen und an umfassendere nationale Ein­schränkungen des europäischen Asyl­rechts, wie sie neben Polen auch Finnland, Litauen und Lettland offiziell vorgenommen haben oder praktisch durchsetzen.

Die neue deutsche Bundesregierung wiederum betont, dass das Dublin-System nicht funktioniere und dass durch einsei­tige Binnengrenzkontrollen Druck auf euro­päische Nachbarn ausgeübt werden solle.

Eine besonders problematische Entwicklung stellt hierbei die Berufung auf Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) dar. Dadurch soll eine Außerkraftsetzung geltenden EU‑Rechts mit dem Hinweis gerechtfertigt werden, dass die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und öffentlichen Ord­nung Sache nationaler Kompetenzen sei. Dabei geht es nicht nur um die Frage, wel­che Faktoren oder Indikatoren in Deutschland eine Bezugnahme auf diese Bestimmung rechtfertigen könnten. Polen bekam bereits teilweise Rückendeckung der EU-Kommission, als es unter Verweis auf diese Bestimmung die Geltung von Asylrechten an seinen Außengrenzen aussetzte; Öster­reich begründet analog Vorschläge zur Aus­setzung des Familiennachzugs für Flücht­linge, und die deutsche Bundesregierung berief sich auf diesen Artikel, um die un­mittelbare Zurückweisung von Asylsuchenden an den Grenzen europarechtlich zu recht­fertigen.

In Zuge dessen entsteht ein Momentum zur systematischen Aushöhlung gemein­samer Standards und zur Abkehr von der allgemeinen Rechtstreue. Die bekannten systemischen Defizite bei der Anwendung des Dublin-Rechts können diese negative Entwicklung nicht rechtfertigen. Nicht zuletzt gilt, dass der EU-Außengrenzschutz in den vergangenen Jahren mehrfach und umfassend verstärkt wurde, was den Aus­bau der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) ebenso einschließt wie umfangreiche Maßnahmen in Drittstaaten. Der deutliche Rückgang der irregulären Zuwanderung, der in den vergangenen Monaten zu verzeichnen war und in der Öffentlichkeit mehr Beachtung finden sollte, ist multikausal bedingt, kann aber mit diesen Maßnahmen durchaus in Verbindung gebracht werden.

Vertrauen als politische Schlüsselkategorie

Von der Umsetzung der bevorstehenden GEAS-Reformen – und insbesondere ihrer politischen Darstellung – wird es abhängen, ob sich die Erosion des Schengen­regimes stoppen lässt. Es ist kaum zu erwarten, dass ab Sommer 2026 alle zen­tralen Instrumente des Pakts für Migration und Asyl in allen Mitgliedstaaten effektiv implementiert und nutzbar sein werden. Insbesondere soll ein sehr komplexes Sys­tem aus Sachmitteln, finanziellen Unterstützungen und Verfahren zur Verteilung einiger Asylantragssteller eingeführt wer­den, um zu erreichen, dass unter den Mit­gliedstaaten eine verpflichtende wie »flexi­ble Solidarität« Realität wird. Das stellt eine ernste Bewährungsprobe dar, die Ausdauer über mehrere Jahre verlangt. Initiativen zur Ergänzung und Weiterentwicklung des Pakts, wie etwa der jüngste Vorschlag der EU-Kommission für eine neue Rückkehrverordnung, sind durchaus sinnvoll, dürfen aber nicht von dieser zentralen Aufgabe der EU-Mitgliedstaaten ablenken.

In dieser schwierigen Übergangsphase ist anzuraten, auf eine teilweise Entkoppelung zwischen Schengen und dem EU-Asylrecht zu setzen. Konkret sollten sich Deutschland und andere Staaten, die derzeit Binnengrenz­kontrollen durchführen, auf einen Abbau dieser Maßnahmen in möglichst naher Zukunft verständigen, spätestens bis Sommer 2026. Auf dieser Grundlage könnte dann der Pakt für Migration als Element eingeführt werden, das die Bildung gegen­seitigen Vertrauens bestärkt. Wenn es in den folgenden ein bis zwei Jahren nicht gelingt, strukturelle Defizite in der Anwen­dung der Regeln des Pakts zu beseitigen, könnte wieder auf Binnengrenzkontrollen zurückgegriffen werden.

Bis dahin ließe sich ein gewisser Vertrauensvorschuss im Schengenraum durch zusätzliche operative Maßnahmen unter­füttern, wie etwa die Stärkung der Inter­operabilität von EU-Datenbanken. Der rhe­torische Rück­griff auf Artikel 72 AEUV zur Rechtfertigung nationaler Ausnahmen vom EU-Recht dagegen verschärft die Spannungen im Schengenraum, die schon jetzt über Deutschland hinausgreifen, auf riskante Weise. Zumindest sollten derartige Aus­nahmeregelungen in möglichst engen Gren­zen gehandhabt und deren Geltungsdauer nicht beliebig verlängert werden, indem man deren Aufhebung an vage politische Forderungen nach besserem Außengrenz­schutz knüpft – ohne Bezug auf klare Indikatoren oder Standards.

Die Gefahr einer unumkehrbaren Re­nationalisierung und dauerhaften Untergrabung des gemeinsamen Schengenregel­werks ist sehr konkret. Zwar ist nicht von einem Zusammenbruch Schengens aus­zugehen. Doch ist die Legitimität euro­päischer Verfahren bereits erheblich beschädigt worden. Zudem sind dadurch wirtschaftliche Kosten entstanden, dass Mitgliedstaaten ohne eindeutige Notlage von verbindlichen Rechtsvorschriften abweichen, selbst wenn diese teilweise in ihrem Sinne reformiert wurden.

Alternativ ist das ebenfalls problema­tische Szenario denkbar, dass die Schengenregeln intern zunehmend differenzierend ausgelegt werden. Als Vorstufen hierzu könnten die langjährigen Debatten über die Fairness und Gleichbehandlung bei Perso­nenkontrollen im Grenzraum angesehen werden. In der polizeilichen Praxis konzen­trieren sich Beamte vielfach auf bestimmte Fahrzeugtypen, Kennzeichen und womöglich auch Personen, die äußerlich nicht in das Raster von EU-Bürgern fallen, auch wenn rechtlich strenge Maßstäbe der Nicht-Diskriminierung gelten. Bei einer Abkehr von diesen Vorgaben– wie das schon der rechtspopulistische Rassemblement Natio­nal vorgeschlagen hat – würde der Raum ohne Binnengrenzkontrollen primär EU-Bürgerinnen und -Bürgern offenstehen – Drittstaatsangehörige wären dagegen dauer­haft selektiven Grenzkontrollen ausgesetzt und würden insofern permanent überwacht. Eine solche Entwicklung würde die EU und Schengen erheblich von ihrem ursprünglichen Anspruch entfernen, einen möglichst offenen und freiheitlichen Raum für alle aufenthaltsberechtigten Personen zu gewährleisten.

Dabei sind die rechtlichen, politischen und technischen Voraussetzungen für eine Rückkehr zu den Grundprinzipien des Schengener Übereinkunft nach wie vor ge­ge­ben. Was fehlt, ist eine politisch kohä­rente Kommunikation, die die Stärken, aber auch die neuen Möglichkeiten des Schen­gen-Regimes bekräftigt und eine glaub­wür­dige Perspektive aufzeigt, wie die andauern­den Binnengrenzkontrollen aufgehoben werden könnten.

Dr. Jonas Bornemann ist Assistenzprofessor für Europäisches Recht an der Universität Groningen und war bis Ende Mai 2025 Gastwissenschaftler an der SWP im Rahmen eines Fellowships des re:constitution-Programms des Forum Transregionale Studien und Democracy Reporting International, gefördert von der Stiftung Mercator.
Dr. Raphael Bossong ist Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.

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